21. November 2024

Philip Reichardt

Axel Hacke im Interview: Der Autor über Herz, Hirn und seinen Tinnitus

Im seinem neuen Buch „Aua!“ erzählt Schriftsteller Axel Hacke über seine nicht ganz unkomplizierte Beziehung zu seinem Körper – unter anderem hat er sich einmal beim Meditieren eine Rippe gebrochen

Axel Hacke

@ Matthias Ziegler

Die Erkenntnis, dass man über seine Atmung im Körper sehr viel steuern kann, hat Axel Hacke während seiner Recherchen zu seinem neuen Werk überrascht

Dass Besucher erst einmal außer Atem sind, sobald sie in seinem Büro ankommen, das kennt Axel Hacke. Er steigt die vier Stockwerke selbst jeden Tag hinauf. Hier steht der Schreibtisch, an dem seine Kolumnen entstehen, die seit mehr als 30 Jahren Woche für Woche im Magazin der Süddeutschen Zeitung erscheinen.

 

Und seine mehr als 30 Bücher, zuletzt „Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte. Seit fast einem Jahr steht es auf den Bestsellerlisten weit oben – so wie auch sein neues Werk „Aua! Die Geschichte meines Körpers“.

 

Ein Zahnarzttermin liege hinter ihm, erzählt er, um eine Atempause zu ermöglichen. Er entschuldigt sich, er sei noch etwas benommen. Aber davon ist nichts zu bemerken, im Gegenteil. Ehe Hacke in einem tiefen Sessel neben seinem Schreibtisch Platz nimmt, um Fragen zu seinem neuen Buch zu beantworten, holt er eine nicht gerade kleine Spritze hervor, die ihm sein Zahnarzt mitgegeben hat. Fünf kleine Spezialbohrer befinden sich darin, alle kamen sie zum Einsatz, um ein Implantat zu setzen. Ihre Schärfe, ihre Präzision, sie haben spürbar Eindruck hinterlassen.

 

Herr Hacke, in Ihrem neuen Buch erzählen Sie die Geschichte Ihres Körpers, gegliedert nach Körperteilen – Zähne, Lunge, Knie, Ohr, Nase, Herz und einiges mehr. Wie ist die Idee dazu entstanden?

Ich betrachtete meine Hand und überlegte, was damit alles schon passiert ist. Da ist eine Narbe, dort ein Strich, der aus einer alten Wunde rührt, und mit dem Fingernagel ist auch etwas nicht ganz in Ordnung. Die Zeit, in der ich lebe und gelebt habe, in der ich gewachsen und wieder geschrumpft bin, bildet sich im Körper ab. Warum also nicht erzählen von den Narben und den damit verbundenen Ereignissen, von jedem einzelnen Körperteil?

 

„In der Zeit, in der ich groß geworden bin, wurde wahnsinnig viel gegessen“

 

„Aua!“ lässt sich als Biografie Ihres Körpers lesen. Im Kapitel „Bauch“ kommt das schöne Wort Tortentaumel vor. Aus welcher Phase Ihres Lebens stammt der Begriff?

Ich bin Jahrgang 1956. Die zwei Hungerwinter nach dem Krieg waren meinen Eltern und Großeltern noch sehr präsent. Ständig wurde darüber geredet, und das bildete sich auch in der Familie ab. Mein Onkel, von dem es immer hieß, er sei im Krieg gefallen, ist im Krankenhaus in meiner Heimatstadt gestorben. Ich vermute, er hatte Ruhr. Er ist sozusagen verhungert.

 

Deswegen wurde in der Zeit, in der ich groß geworden bin, wahnsinnig viel gegessen. Jede Familienfeier bestand aus riesigen Tortenschlachten. Schwarzwälder Kirschtorte, Frankfurter Kranz, Obstkuchen. Als Kind habe ich das geliebt, ich konnte essen, bis mir schlecht wurde. Das ist eine sehr präsente Erinnerung. Heute esse ich nicht mehr besonders viele Torten, aber an Tagen, an denen ich Trost brauche, kommt es vor, dass ich in diese Gewohnheit zurückfalle und eine Konditorei aufsuche.

 

Sie haben herausgefunden, wozu der Menschen zwei Nasenlöcher benötigt, erzählen von der heilsamen Wirkung des Seufzens, aber auch, wie Ihr Gedächtnis Sie im Stich lässt und wie Sie sich beim Meditieren einen Knochen gebrochen haben. Wie geht das?

Das war gar nicht komisch. Ich meditierte, musste plötzlich Niesen und konnte nicht aufhören damit. Beim neunten Nieser fuhr es mir ein, als hätte jemand ein Messer in mich reingerammt. Mit Schmerztabletten kam ich über die Nacht, drei Arztbesuche später stellte ein Radiologe schließlich fest, dass ich mir eine Rippe gebrochen hatte.

 

Sie schlagen vor, den Rippenbruch nach einer Niesattacke künftig Morbus Hacke zu nennen.

Ja, jedenfalls kenne ich keinen Zweiten, dem das widerfahren ist.

 

An einer Stelle schreiben Sie, dass Sie sich grundsätzlich sehr wohl fühlen in Ihrem Körper. Anderswo heißt es: „Mein ganzes Leben besteht im Grunde darin, Stress zu reduzieren.“ Wie steht das in Zusammenhang?

Eigentlich hatte ich immer einen gesunden Körper. Aber wenn ich mir ansehe, mit welchen gesundheitlichen Problemen ich im Laufe meines Lebens zu tun hatte, dann sind sehr viele dieser Probleme eine Folge von Stress, von Überforderung, von Überanstrengung sowie davon, nicht rechtzeitig auf die Signale des Körpers zu hören.

 

Wann haben Sie diesen Zusammenhang zum ersten Mal wahrgenommen?

Das fing damit an, dass ich als Kind und Jugendlicher unter rasenden Kopfschmerzen litt. Das war eine Zeit, in der Psychiater als Irrenärzte galten und alles, was mit „Psy“ anfing, nicht der Rede wert war. Weil sich kein physischer Grund dafür fand, galt die Sache damit als erledigt. Später führte zu viel Joggen zu einem Ermüdungsbruch. Dann Magenprobleme – zu viel Magensäure, der Klassiker. Alles Stresssymptome.

Worauf führen Sie den Stress zurück?

Ich hatte immer das Gefühl, mich wahnsinnig anstrengen zu müssen, um das sein zu können, was ich sein wollte. Bis heute fällt es mir schwer, mich von dieser Vorstellung zu verabschieden.

 

Die Botschaften Ihres Körpers haben Sie nach und nach entschlüsselt. Welche hatte den stärksten Einfluss auf Ihr Leben?

Ende der 90er-Jahre hatte ich auf meinen Beruf als Reporter und Zeitungsmensch keine Lust mehr. Aber zu kündigen und als freier Autor zu arbeiten, dazu fehlte mir der Mut. In dieser Zeit erhielt ich den Auftrag zu einer Reportage, die mich gar nicht interessierte. An dem Morgen, als ich losfahren sollte, wachte ich auf und hatte ein wahnsinniges Rauschen und Pfeifen im Ohr – Hörsturz!

 

„Mir wurde klar: Das ist das letzte Alarmsignal deines Körpers“

 

Ich musste die Reise absagen, zehn Tage lang war ich krank. Mir wurde klar: Das ist das letzte Alarmsignal deines Körpers. Wenn ich jetzt nicht reagiere, wird es böse enden. Der Hörsturz war der Auslöser dafür, dass ich gekündigt habe. Das war vor 25 Jahren. Seitdem hat der Stress nicht aufgehört. Aber ich arbeite sehr viel selbstbestimmter und nicht mehr unter diesem Druck.

 

In einem Kapitel erzählen Sie von einem Tinnitus, der Sie begleitet, seit sie 18 sind. Viele Menschen verzweifeln daran. Sie hingegen scheinen Ihren Frieden gemacht zu haben. Wie ist das gelungen?

Ich glaube, sich mit ihm zu befreunden, ist die einzige Chance, die man hat. Wenn ich es übertreibe und nicht im Einklang mit meinen physischen und seelischen Bedürfnissen lebe, dann wird er lauter und präsenter. Dann klingelt’s, und dann weiß ich: So, jetzt bist du an der Grenze. Das bedeutet, das System ein bisschen runterfahren und darauf achten, zur Ruhe zu kommen. Das ist eigentlich etwas Gutes.

 

 

Viele Männer gehen zu spät oder gar nicht zum Arzt, weil sie Beschwerden nicht ernst nehmen. Wie gut sind Sie darin, in sich hineinzuhören, zu erkennen, dass etwas nicht stimmt?

Schon ganz gut. Allein, weil gute Freunde von mir gestorben sind, weil sie früher getrunken, ungesund gelebt oder einfach nicht auf sich geachtet haben. Aber letztlich bin ich doch ein Mann und schlecht darin. Hinter vielen Arztbesuchen steckt meine Frau.

 

Männer gelten gemeinhin als Hypochonder. Sie schreiben, dass es rein logisch betrachtet gar keine Hypochonder geben kann. Können Sie das bitte erklären?

Fragt man einen Hypochonder, ob er ein Hypochonder sei, ist er beleidigt. Er antwortet: Ich bin krank, du nimmst mein Leiden nicht ernst. Das ist das eine. Fragt man einen Nicht-Hypochonder, wird er ebenfalls Nein sagen. Mit Recht. Durch Befragung lässt sich das also nicht feststellen.

 

Molière hat in seinem Theaterstück dieses klassische Bild des eingebildeten Kranken beschrieben. Er selbst war das Gegenteil eines Hypochonders. Er hat nicht wahrhaben wollen, dass er krank ist. Aber er hat die Hauptfigur seines Stücks selbst gespielt. Der nicht hypochondrische Kranke hat einen hypochondrischen Nichtkranken gespielt. In dieser Rolle ist Molière gestorben. Auf der Bühne bekam er einen Blutsturz. Die Leute haben wahnsinnig gelacht, weil sie dachten, das gehöre zur Inszenierung. Dabei hatte er Tuberkulose. Was für eine Geschichte!

Sie deuten im Vorwort an, dass Ihr Körper auch Freude bereiten kann. Im Buch erzählen Sie davon so gut wie nichts. Ist das Bescheidenheit? Oder sind Geschichten vom Scheitern und über Missgeschicke einfach ergiebiger?

 

Es erzählt sich besser und beschäftigt die Menschen generell auch mehr. Mit einem Halbmarathon in 1:47 kann man auch nicht groß angeben.

 

Sie haben für das Buch mit vielen Ärzten gesprochen. Welche Erkenntnis hat Sie dabei am meisten überrascht?

Dass man über seine Atmung in seinem Körper sehr viel steuern kann. Wenn man länger aus- als einatmet, dann entspannt das sehr. Vier Sekunden einatmen, sechs Sekunden ausatmen. Beim Einatmen arbeitet der Sympathikus, beim Ausatmen der Parasympathikus, beim Einatmen geht es um Anspannung, beim Ausatmen und Entspannung. Das klingt schon fast esoterisch, aber das ist reine Biomedizin. Mit 30 hätte ich darüber gelacht, inzwischen nehme ich das sehr ernst.

 

Im letzten Kapitel geht es um die Frage: Habe ich einen Körper oder bin ich mein Körper? Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Ich bin mein Körper. Das Gehirn getrennt vom Körper zu betrachten, als Sitz des Ichs, halte ich für nicht richtig. Unser Bewusstsein speist sich genauso aus den Berührungen der Finger, aus dem Kontakt mit der Außenwelt, wie aus körperlichen Leiden. Wir nehmen die Außenwelt nicht nur mit dem Gehirn wahr, sondern mit allen Fasern, mit jedem Körperteil in einer anderen Art und Weise. Daraus ergibt sich ein Gesamtbild. Insofern bin ich mein Körper. Und wenn mein Körper nicht mehr da ist, bin ich auch nicht mehr.

 

War Ihnen das schon vor der Recherche zum Buch klar?

Nein. Das ist eine der schönen Erkenntnisse, die ich der Arbeit daran verdanke. Wenn man über den Körper redet, muss man auch über Leiden reden und davon, etwas hinzunehmen. Viele Menschen verwenden unsägliche Mühen darauf, ihren Körper zu gestalten, um etwas sein zu wollen, was sie nicht sind.

 

Das finde ich traurig. Gut, man muss nicht maßlos dick sein, man kann auch gesünder leben. Aber sich zurechtzumeißeln, das ist ein Ideal, das nicht aus einem selbst kommt und auf die falsche Vorstellung zurückgeht, dass es einen Anspruch auf Glück gebe. Wie kann man glauben, dass das Leben aus der Abwesenheit von Leiden, Problemen und Missständen besteht? Das gehört dazu. Deshalb sind das Leben und der Austausch mit anderen Menschen so wichtig.

 

Mit zunehmendem Alter nehmen auch die Gespräche über Krankheiten, Befindlichkeiten und Beschwerden zu.

Wenn man mit Gleichaltrigen zusammensitzt, ist das heutzutage das Hauptthema, sofern man nicht über Donald Trump redet. Ich glaube, man muss das akzeptieren, so sieht die Lebenswirklichkeit nun mal aus. Das Zuhören, Reden und Austauschen entspannt ja auch, weil man merkt, dass man nicht alleine ist mit seinen Problemen.

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