Sportwissenschaftler Ingo Froböse im Interview: Er spricht unter anderem über die Steigerung athletischer Leistungen, die Macht des Geistes – und die der Evolution
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Als Professor für Sportwissenschaften leitete Ingo Froböse zehn Jahre lang die Deutsche Sporthochschule in Köln und unterrichtete als Gastdozent an verschiedenen Hochschulen. Bis heute ist der inzwischen 67-jährige Mitglied in einer Reihe von sportmedizinischen Fachverbänden und Gremien, die sich für Gesundheit durch Bewegung engagieren.
Froböse veröffentlichte zuletzt auch eine Reihe von Ratgebern zu Fitness- und Gesundheitsthemen, zuletzt über die Heilkraft der Muskeln (Muskeln, die Gesundmacher, Ullstein Verlag). Vor seiner Karriere als Wissenschaftler war Ingo Froböse ein erfolgreicher Leichtathlet. Anfang der 1980er-Jahre zählte er zu den besten Sprintern in Deutschland, 1981 wurde er deutscher Vizemeister über 100 Meter.
Herr Froböse, Ihre Bestzeit über 100 Meter liegt bei 10,4 Sekunden. Wissen Sie, wie schnell Sie heute noch sind?
Nein. Seitdem ich meine Karriere als Leichtathlet beendet habe, bin ich nie mehr gegen eine Uhr gelaufen und froh, das nicht mehr tun zu müssen.
Mit dem Wissen von heute, mit der Trainingsmethodik von heute: Hätten Sie damals schneller laufen können?
Da bin ich ziemlich sicher. Ich wusste damals nicht ansatzweise, was ich heute weiß. Im Trainingsprozess und im Ernährungsbereich habe ich große Fehler gemacht. Die Themen Sport und Ernährung waren damals bei Weitem noch nicht so eng verknüpft wie heute.
Mit 10,4 wären Sie auch heute noch im Endlauf der deutschen Meisterschaften. Aber das ist eine Ausnahme. Wenn man die Entwicklung von Weltrekorden als Maßstab heranzieht, ist in den meisten Disziplinen das Leistungsvermögen größer geworden. Oder trügt dieser Eindruck?
Nein, das stimmt. Wobei die Rekorde in der Leichtathletik stabiler sind als etwa beim Schwimmen. Da sehen wir jedes Jahr neue Weltrekorde.
Abgesehen von Doping: Was sind die Ursachen dafür, dass Athleten heute schneller schwimmen, laufen oder Radfahren können als vor 30, 40 Jahren?
Das beginnt mit den anthropometrischen Veränderungen. Das Volumen und die Körpergröße der Menschen hat in den vergangenen 40 Jahren in Deutschland zugenommen, das heißt, Menschen sind größer und schwerer als vor 40 Jahren. Das ergeben etwa Daten der Bundeswehr, und es lässt sich an den Schuhgrößen der heute 15-Jährigen ablesen.
In manchen Sportarten ist das ein Vorteil, in anderen nicht. Das Zweite ist: Die Diagnostik hat sich enorm weiterentwickelt. Wir haben deutlich bessere Möglichkeiten, in den Körper hineinzuhorchen, Daten aus dem Körper zu ermitteln und diese zu analysieren. Das erlaubt, Reaktionen des Organismus viel genauer zu interpretieren.
Dazu waren wir früher nicht in der Lage, da gab es allein den Laktattest. Diagnostik ist ein ganz wichtiger Schlüssel zum Erfolg. Daraus entwickeln sich deutlich professionellere und differenziertere Trainings- und Betreuungskonzepte. Auch die Ausbildung von Trainern und Trainerinnen ist dadurch besser geworden.
„Wir haben deutlich bessere Möglichkeiten, in den Körper hineinzuhorchen“
Und drittens: Wir wissen viel mehr über Biomechanik. Das führt dazu, dass wir Produkte, Kleidung und Techniken entwickeln können, die auf die individuellen Fähigkeiten der Menschen abgestimmt sind. Rennräder, Skier oder Stabhochsprungstäbe sind in einem hohen Grad individualisierbar. Das gab es früher nicht.
Aufgrund der großen Datenmengen, die mittlerweile zur Verfügung haben, ist es möglich, nach ganz spezifischen Informationen zu suchen. Hinzu kommt, dass die Bedeutung von Aspekten wie Schlaf, Ernährung und Regeneration inzwischen erkannt ist. Dazu gehört auch das Planen von Organisationsprozessen, die Betreuung und das Management von Sportlern. All das sind Sidekicks, die auch auf die Leistung einzahlen.
@ Sebastian Bahr
Welche Sportarten profitieren besonders davon?
Im Individualsport ist die Diagnostik viel bedeutsamer als im Mannschaftssport. Auch wenn die Trainerbänke beim Fußball immer länger werden und dort Coaches mit sehr speziellen Fähigkeiten Platz nehmen, spielt Diagnostik in Teamsportarten wie Fußball eine viel geringere Rolle als angenommen.
Da spielen 30- oder 40-Jährige mit, obwohl ihre individuelle Performance nicht mehr optimal ist. Aber aufgrund anderer Faktoren wie Technik oder Taktik können sie trotzdem mithalten. In Einzelsportarten dagegen ist die Diagnostik, die Personalisierung des Trainings und was sich aus den erhobenen Daten für Regeneration, Schlaf oder Ernährung ergibt, der Schlüssel zum Erfolg. Mit exakten Werten lässt sich viel erreichen.
Der Weltrekord im Weitsprung der Männer, 8,95 Meter, besteht seit inzwischen 33 Jahren, der Weltrekord im Hochsprung, 2,45 Meter, ist mehr als dreißig Jahre alt. Wie ist das zu erklären?
Irgendwann werden wir wieder einen Hochspringer wie Javier Sotomayor sehen, der die körperlichen Voraussetzungen mitbringt, um 2,45 Meter zu überspringen. Im Stabhochsprung haben wir das auch erlebt: Auf Sergej Bubka, der Mitte der 1980er- bis Mitte der 1990er-Jahre dominierte und einen Rekord nach dem anderen aufstellte, folgten Jahren der Stagnation, ehe Armand Duplantis nahezu im Akkord neue Weltrekorde aufstellt. Wie gesagt, auch die Menschen entwickeln sich weiter. Um neue Weltrekorde aufzustellen, sind neue Ausnahmeathleten notwendig.
„Nach damaliger Lehre, nach damaligem Wissen, hätte es Usain Bolt niemals geben können“
Was macht einen Ausnahmeathleten aus?
Nehmen Sie Usain Bolt. Nach damaliger Lehre, nach damaligem Wissen, hätte es Usain Bolt niemals geben können. Alle mechanischen Berechnungen sprachen dagegen, dass jemand mit so langen Beinen so schnell laufen kann.
Als man ihn dann sah, erkannte man: Wenn bestimmte Körpermerkmale zusammenwirken, geht es eben doch. In vielen Disziplinen sind die Leistungen von Athleten – unter den Voraussetzungen, die Menschen aktuell mitbringen – ausgereizt. Nur eine Kombination spezieller körperlicher Merkmale wird dazu führen, dass Athleten in ganz neue Bereiche vorstoßen. Da müssen wir auf den nächsten Schritt der Evolution warten. Aber das kann schnell gehen.
In welchen Disziplinen sehen Sie noch Potenzial?
Insbesondere in den Schnellkraftdisziplinen, in denen Leistung von Talent und körperlichen Voraussetzungen abhängt. Auf den Laufstrecken über 200 Meter, 400 Meter, oder 800 Meter gibt es auf jeden Fall noch Potenzial zur Verbesserung.
Auch bei den Sprungsportarten, die technische Komponenten beinhalten, sehe ich Potenzial: im Weitsprung etwa, vor allen Dingen aber im Hochsprung. Das hat auch mit den Bodenbelägen in den Stadien zu tun. Früher lag Tartan auf Beton. Heute ist darunter ein Schwingungsuntergrund verlegt, der Energie zurückgibt.
Neue Technologie kombiniert mit individuellen Fähigkeiten wird zu neuen Bestleistungen führen. Dagegen sind alle Sportarten, bei denen Erfolg auf dem Umfang des Trainings beruht, relativ ausgereizt. Seit Jahren beißen sich Marathonläufer etwa die Zähne daran aus, die 42 Kilometer unter zwei Stunden zu laufen. Auch noch mehr Training macht sie nicht schneller.
Sehen Sie bei Frauen mehr Potenzial als bei Männern?
Dass es aktuell in Deutschland keine Frau gibt, die im Hochsprung über 1,90m springt , ist eigentlich nicht normal. Oder dass im Weitsprung die meisten bei 6,30 m landen. Und trotz des Hypes um Gina Lückenkemper halte ich es für fatal, dass man mit einer Zeit von 11,5 Sekunden in die deutsche Nationalmannschaft hineinkommt.
Da ist die Leistungsdichte komplett verloren gegangen. Grundsätzlich sind die Entwicklungspotenziale bei Frauen deutlich größer. Einige Disziplinen waren sehr stark durch Athletinnen aus dem ehemaligen Ostblock geprägt, die mithilfe von Doping Rekorde in ungeahnte Höhen geschraubt haben. Es wird noch ein wenig dauern, bis sich in einigen Disziplinen das Niveau normalisiert haben wird. Aber dann sehe ich großes Potenzial.
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Es gibt die Faustregel, wonach ein Mensch mit etwa 25 Jahren den Höhepunkt seiner körperlichen Leistungsfähigkeit erreicht. Gilt das auch für Spitzensportler?
In den Schnellkraftdisziplinen, bei Sprintern und Springern, kommt das hin, weil in diesem Alter die Übertragungsgeschwindigkeit zwischen Nerven und Muskeln am höchsten ist. Aber in den Kraft- und Ausdauersportarten entwickeln sich die Stärken erst deutlich später. Die Weltrekorde im Diskus- oder Hammerwerfen beispielsweise wurden alle von Athleten jenseits der dreißig aufgestellt.
Abgesehen von Ausnahmeathleten: Was unterscheidet die sehr Guten von den Allerbesten? Diejenigen, die regelmäßig das Finale erreichen und die, die Weltmeister und Olympiasieger werden?
Den Unterschied macht die mentale Stärke. Wir wissen, dass der Einfluss mentaler Stärke auf die akute Leistung etwa drei bis fünf Prozent beträgt, sofern sie abgerufen werden kann. Das ist eine Größenordnung, die schwer kalkulierbar ist. Das bedeutet wiederum, dass mentale Stärke das entscheidende Kriterium dafür ist, wer siegt und wer nicht.
Worin zeigt sich mentale Stärke?
In Optimismus, in Stressfreiheit, in Zuversicht in die eigene Leistung und auch an entspannter Muskulatur.
Ein gutes Beispiel dafür scheint auch das Team von Bayer Leverkusen zu sein. Die haben in dieser Saison 14 Tore in der Nachspielzeit geschossen. Woran liegt das?
An ihrem Selbstverständnis, niemals aufzugeben, an ihrem Glauben, in der letzten Minute noch ein Tor schießen zu können. Im Gegensatz zu anderen Mannschaften, die dann auf den Fußballgott hoffen oder darauf, dass Glück ihnen hilft, setzt der Glaube an sich selbst die entscheidenden Ressourcen frei und macht den Unterschied.
Andrea Petkovic, die ehemalige Tennisspielerin, hat geschrieben, der Unterschied zwischen guten Spielerinnen, wie sie eine war, und denen, die Grand-Slam-Turniere gewinnen, liege darin, dass es diesen regelmäßig gelinge, sich in einen Flow zu spielen.
Im Flow zu sein, bedeutet, an sich selbst zu glauben. Er entsteht nur im Wettbewerb, mit sich selbst oder mit einem Gegner. In diesen Flow gerät man, wenn man in der Situation, in der man sich gerade befindet, über maximale Sicherheit verfügt, obgleich man sich in einer Grenzregion bewegt.
Das ist das Entscheidende: ein Gefahrenmomentum in Kombination mit einem Leistungsmomentum. Novak Djokovic und Rafael Nadal waren nicht erfolgreicher als andere, weil sie über ein größeres Repertoire an Schlägen verfügen. Sie sind stärker im Kopf, sie haben eine höhere Resilienz, und ihr Glaube an sich selbst ist stärker ausgeprägt.
Leistungsschwankungen bei Spitzenathleten, etwa im Fußball, werden häufig mit fehlender Mentalität erklärt. Verliert ein Team aus überlegenen Spielern gegen ein deutlich schwächer besetztes Team, heißt es oft, es habe an der Mentalität gefehlt. Was heißt das aus sportwissenschaftlicher Perspektive?
Hinter dieser Formulierung steht die Erkenntnis, dass Motivation Schwankungen unterliegt, einer Tagesform. Gerade in Teams geschieht das sehr häufig. Weil der Kapitän einen angemacht hat, weil einem ein Fehler unterlaufen ist, weil das Publikum gepfiffen hat.
Das sind Dinge, die unter die Haut gehen und dazu führen können, mental ein wenig an Schärfe zu verlieren, sofern man nicht über ein entsprechendes Selbstbewusstsein verfügt. Einem Usain Bolt wäre das nie passiert. Hätte das Publikum ihn ausgepfiffen, wäre er doppelt so stark gewesen.
Eine häufig genutzte, beliebte Phrase lautet, er oder sie habe „seine Leistung nicht abrufen können“.
Wer das sagt, ist für Spitzensport nicht geeignet. Denn genau darin besteht ja die Kunst: Leistung zum richtigen Zeitpunkt zu zeigen und nicht willkürlich irgendwann. Genau darauf zielen das Wissen und die Möglichkeiten, die Trainer zur Verfügung haben, Athleten zum richtigen Zeitpunkt so fit zu machen, dass sie wissen, sie können die Leistung erbringen. Wer das schafft, wird Olympiasieger.
Der Unternehmer Aron D’Souza will Ende dieses Jahres sogenannte Enhanced Games veranstalten, eine Wettkampfserie, in der alles erlaubt sein soll, was die Leistung von Athleten steigert und gewöhnlich verboten ist. Können Sie dieser Idee etwas abgewinnen?
Nein, gar nichts. Wer an solchen Wettbewerben teilnimmt, ist ein schlechtes Vorbild. Davor müssen wir unsere Kinder schützen. Jugendliche sollen lebenslang Freude am Sport gewinnen. Das wird mit dieser Idee komplett pervertiert. Die Medikalisierung der Gesellschaft darf sich nicht im Sport fortsetzen.
Einen Punkt hat er aber: Doping ist zwar offiziell verboten, wird aber nicht konsequent verfolgt und sanktioniert. Wäre eine Freigabe nicht ehrlicher?
Ehrlicher wäre es nur dann, wenn beim Doping alle die gleichen Voraussetzungen hätten. Aber das ist ja nicht der Fall, auch da gibt es große Unterschiede. Ich würde es allein deshalb nicht freigeben, damit Kinder und Jugendliche mit diesem System nicht in Berührung kommen.
Haben Sie eine gute Definition zur Hand, die sagt, was ein erlaubtes Hilfsmittel ist und was nicht?
Alles, was von außen zugeführt wird, in die Physiologie des Körpers eingreift und sie verändert, ist für mich ein Dopingmittel.
Gibt es Erkenntnisse darüber, wie sich das Leistungsniveau von Freizeitsportlern entwickelt hat?
Die Spitze der Amateursportler ist sehr, sehr gut geworden, wenn man etwa Marathonläufe oder die Radrennserie German Cycling Cup zugrunde legt. Da ist das Niveau deutlich höher als früher. Zugleich sieht man im Freizeitsport aber auch die Auswüchse, die man aus dem Profisport kennt – im Sinne von Doping, von Technologie und überzogenen Materialschlachten.
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