10. Dezember 2024
Philip Reichardt
Die Nachrichten sind voll mit optimistischen Meldungen über bahnbrechende Medikamente. Doch wie groß ist die Wahrscheinlichkeit tatsächlich, die tödliche Krankheit bald ein für alle Mal in den Griff zu bekommen?
@ cottonbro Studio
Die stille Hoffnung, an dieser Stelle eine Jahreszahl zu lesen, lässt sich derzeit noch nicht erfüllen. Schon allein deshalb nicht, weil rund 200 verschiedene Arten von Krebserkrankungen bekannt sind, die sich in ihren genetischen und biologischen Merkmalen stark unterscheiden. Manche Tumore sprechen auf neue Therapien und Medikamente sehr gut an, andere Tumorarten wie etwa Bauchspeicheldrüsenkrebs sind nach wie vor schwer behandelbar.
Aber: Man weiß heute viel mehr darüber, wie Krebszellen entstehen, was sie begünstigt und was ihr Wachstum beschleunigt. Und damit vieles, was der Diagnose Krebs den Schrecken nimmt. Insbesondere die Fortschritte in der Genomforschung sorgen dafür, Krebserkrankungen in einem früheren Stadium erkennen und behandeln zu können.
Neue Medikamente und Therapien erlauben es, Tumorzellen gezielter und schonender zu bekämpfen, mit der Folge, dass „die Heilungsrate bei vielen Krebserkrankungen künftig deutlich höher sein wird als heute“, so Ulrich Keilholz, Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center.
Zudem seien Erkrankungen „bei guter Lebensqualität langfristig zu kontrollieren“. Hinzu kommt, dass Daten und Studienergebnisse über die Zusammenhänge von Lebensweisen und Krebsrisiken dank besserer Vernetzung wissenschaftlicher Institutionen und künstlicher Intelligenz immer mehr Ärzten und Forschern zur Verfügung stehen und neue Ansätze für die Prävention liefern.
1,6 Millionen Menschen in Deutschland leben derzeit mit einer Krebserkrankung, die in den vergangenen fünf Jahren diagnostiziert wurde. Das sind fast zwei Prozent der Bevölkerung. Auf den ersten Blick ist das ein erschreckend hoher Wert, doch in ihm lässt sich auch ein positiver Trend erkennen: Krebserkrankungen führen nicht zwingend zum Tod, sondern lassen sich aufgrund präziser und neuer Therapien managen, das bedeutet:
Trotz Erkrankung lässt sich ein würdevolles Leben führen. „Die Präzision, mit der wir diagnostizieren können, und die Behandlungsmöglichkeiten für Symptome Schmerzen und unangenehme Nebenwirkungen sind deutlich besser geworden. Die Therapien, die es heute gibt, sind in aller Regel verträglicher“, sagt Prof. Christof von Kalle, Leiter des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung.
Tatsächlich ist die Zahl der Todesfälle infolge Krebs in den letzten zehn Jahren deutlich gesunken. Bei Brustkrebs liegen die Chancen auf Überleben und Genesung – frühzeitige Diagnose vorausgesetzt – bei fast 90 Prozent (1973: 65 Prozent) und auch Prostata- sowie Hautkrebs können in neun von zehn Fällen geheilt werden.
Tatsächlich ist die Zahl der Todesfälle infolge Krebs in den letzten zehn Jahren deutlich gesunken
Beunruhigend hingegen: Pro Jahr werden rund 500.000 Neuerkrankungen registriert, Tendenz steigend. 2030 werden in Deutschland bereits 600.000 neue Fälle jährlich erwartet. Weltweit muss dann allein für Krebsbehandlungen eine Summe von 218 Milliarden Dollar aufgewendet werden. müssen.
Der Anstieg der Neuerkrankungen ist auch eine Folge höherer Lebenserwartung. Denn ein hohes Lebensalter gilt als größter Risikofaktor für die Entstehung der meisten Krebserkrankungen. Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Erbgutveränderungen in einer Zelle häufen. Gesunde Zellen durchlaufen in der Regel einen fünfstufigen Prozess, ehe sie sich zu Krebszellen entwickeln.
Bis zu 40 Prozent der Neuerkrankungen könnten durch einen gesünderen Lebensstil vermieden werden
Im Fall von Darmkrebs beträgt die Dauer einer Phase etwa 10 bis 15 Jahre. Das Risiko eines 70-jährigen Mannes, an Darmkrebs zu erkranken, liegt 1000 Mal höher als bei einem 10-jährigen Kind. In welchem Maß sich das Erbgut verändert, hängt wiederum entscheidend vom Lebensstil ab. „Ohne einen Nährboden aus krebsfördernden Lebensgewohnheiten“, schreibt die Molekularbiologin Dr. Hanna Heikenwälder, „können nur die wenigsten Krebserkrankungen entstehen.“
Bis zu 40 Prozent der Neuerkrankungen, so Schätzungen des Deutschen Krebsforschungszentrums, könnten durch einen gesünderen Lebensstil vermieden werden. Das würde 200.000 Krebsdiagnosen weniger bedeuten – pro Jahr.
Dafür gibt es zahlreiche Belege. Je stärker die Zahl der Raucher in einer Gesellschaft abnimmt, desto geringer auch die Zahl der Fälle von Lungen- oder Kehlkopfkrebs. Die Zahl der Erkrankungen von Gebärmutterhalskrebs nimmt ab, so-bald Länder Impfkampagnen gegen Humane Papillomviren starten. Das eröffnet der Prävention eine enorme Chance.
Immer noch stark unterschätzt, aber Nummer 1 im Ranking der krebsfördernden Faktoren: Übergewicht. Dabei ist der Zusammenhang zwischen der Entstehung von Krebserkrankungen und starkem Übergewicht mittlerweile so gut belegt wie der zwischen Rauchen und Krebs. Was vielen Menschen nicht bewusst ist: Übergewicht beschleunigt den Alterungsprozess und erhöht so das Krebsrisiko. Aufklärung dazu ist ein lohnendes Ziel: In Deutschland sind aktuell 53 Prozent der Frauen und 67 Prozent der Männer übergewichtig, rund 25 Prozent der Erwachsenen sogar stark übergewichtig.
Nummer 1 im Ranking der krebsfördernden Faktoren: Übergewicht
In der Liste schädlicher Angewohnheiten folgen auf den Plätzen Bewegungsmangel und falsche Ernährung. Reihenweise Studien bestätigen, dass Sport präventiv vor Krebserkrankungen schützt. Sportliche Betätigung verbessert die Immunfunktion, die Knochendichte, die Durchblutung, den Blutdruck und den Schlaf, senkt die Konzentration von Stresshormonen und erhöht die Belastbarkeit unter Stress – alles Faktoren, die das Krebsrisiko verringern.
Dass Darmkrebs sich zunehmend auch unter jüngeren Menschen verbreitet, führen Studien unter anderem auf industriell hergestellte Nahrung zurück, die nur wenig Ballaststoffe und Vitamine enthält, dafür aber eine Reihe von möglicherweise schädlichen Zusatzstoffen.
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Eine neue Methode, um Krebszellen frühzeitig zu entdecken und bereits diagnostizierte Tumore zu analysieren, ist die flüssige Biopsie. Anstatt wie bisher Gewebeproben zu entnehmen, werden bei der Liquid Biopsy Blutproben genommen und auf Tumorzellen bzw. Tumor-DNA untersucht. Von Vorteil ist diese Methode vor allem bei Krebsarten, bei denen eine Gewebeentnahme riskant ist, wie etwa bei Lungen- oder Hirntumoren.
Da Tumorzellen im Blut nur in kleinsten Mengen vorkommen, erfordert Liquid Biopsy extrem sensitive Verfahren. Liquid Biopsy wird daher derzeit vor allem als ergänzende Methode eingesetzt, da die Genauigkeit der Gewebeanalyse derzeit noch höher ist.
Operation, Bestrahlung und Chemotherapie galten über Jahrzehnten als die einzig erfolgversprechenden Therapieformen. Sie werden bis heute angewandt. Fortschritte in der Genomforschung haben zusätzlich die Entwicklung zahlreicher neuer Medikamente ermöglicht, die zwar selten zur Heilung führen, weil viele Krebszellen nach Monaten oder Jahren der Behandlung mit einem Medikament Resistenzen entwickeln. „Trotzdem ist das ein großer Erfolg“, sagt Prof. Keilholz, „denn der Krebs wird so von einer tödlichen Krankheit zu einer chronischen Erkrankung“.
Lange war es üblich, dass Patienten mit einer bestimmten Diagnose die der Krebsart entsprechende Standardtherapie verordnet bekamen. Bei dem einen Patienten schlug sie besser an, bei dem anderen war sie weniger erfolgreich. Die präzise Analyse des Tumors ermöglicht die Entwicklung personalisierter Therapien, die auf die spezifischen Mutationen der jeweiligen Krebszellen abgestimmt sind. Das heißt, der Patient erhält eine Therapie, die exakt auf seine Erkrankung abgestimmt ist.
Die präzise Analyse des Tumors ermöglicht die Entwicklung personalisierter Therapien
Damit könnte auch verhindert werden, wie es bei den herkömmlichen Methoden immer wieder vorkommt, dass Therapien ohne Wirkung bleiben und zugleich mit starken Nebenwirkungen verbunden sind. Damit personalisierte Therapien künftig möglichst vielen Patienten zur Verfügung stehen, ist es notwendig, dass die Ergebnisse solcher Therapien länderübergreifend geteilt und für möglichst viele Ärzte zugänglich werden. Das ist bislang noch nicht der Fall.
Führend in der Entwicklung von Zelltherapien sind die Pharmaunternehmen BioNTech und Moderna. Die Chefs beider Unternehmen nennen auch Jahreszahlen, wann sie mit der Zulassung ihrer Medikamente und Impfstoffe rechnen. Moderna hat einen Wirkstoff entwickelt, der in Kombination mit dem Medikament Keytruda gegen Hautkrebs einge-setzt werden soll. In der Phase 3, der streng kontrollierten Erprobung an Patienten, hat es bereits beeindruckende Ergebnisse erzielt. Moderna-Chef Stéphane Bancel hofft, dass der Wirkstoff 2026 die Zulassung erhält.
Bei BioNTech befinden sich mehr als 40 Produkte in der Pipeline. Wie weit die Entwicklung fortgeschritten ist, lässt sich auf der Homepage verfolgen. Vier Medikamente befinden sich ebenfalls bereits in Phase 3. BioNTech-CEO Uğur Şahin kündigte kürzlich die Zulas-sung des ersten Medikaments für 2026 an. Und „bis 2030“, sagt Şahin, „wollen wir ein großes Portfolio an Krebstherapien auf dem Markt haben“.
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Die größten Hoffnungen knüpfen sich derzeit an Immuntherapien. Im Kern beruhen sie darauf, das körpereigene Immunsystem zu aktivieren, Krebszellen zu erkennen und zu bekämpfen. Dabei gibt es unterschiedliche Ansätze und Mechanismen. Einige Medikamente sind bereits zugelassen, etliche befin-den sich noch in der Erprobung.
Bisher werden Immuntherapien vor allem bei nicht heilbaren Erkrankungen im fortgeschrittenen Stadium eingesetzt, mit dem Ziel, Lebenszeit zu verlängern und Lebensqualität zu verbessern.
Am häufigsten werden derzeit sogenannte Checkpoint-Inhibitoren und die CAR-T-Zelltherapie eingesetzt. Checkpoints im Immunsystem begrenzen gewöhnlich die Reaktion des Immunsystems, die Inhibitoren sorgen dafür, die Bremswirkung der Checkpoints zu lösen und auf diese Weise die Immunantwort zu verstärken.
Bei der CAR-T-Zelltherapie werden körpereigene Immunzellen so umprogrammiert, dass sie Krebszellen erkennen und abtöten können. Impfungen mit mRNA-Impfstoffen trainieren das Immunsystem darauf, Krebszellen zu erkennen und zu bekämpfen. Özlem Türeci, Chief Medical Officer von BioNTech, beschreibt die Wirkweise von mRNA-Impfstoffen so: „Die Impfung führt dazu, dass Immunzellen vermehrt werden, die mit hoher Präzision Krebszellen erkennen und töten, also eine ‚Armada von Klonkriegern‘. Da geht es dann Mann gegen Mann in den Kampf: Immunzelle gegen Tumorzelle.“
Lesen Sie hier: Mein Leben mit Brustkrebs