8. September 2024

Marianne von Waldenfels

Restaurant Noma: Warum sich ein letzter Besuch lohnt

Das Noma zählt seit vielen Jahren zu den allerbesten Restaurants der Welt. Eine erste und zugleich letzte Reise an den Ort, an dem die Sterneküche revolutioniert wurde

Muschelgericht, das aussieht wie ein Auge

@ Ditte Isager/Noma

Kunstwerk aus der „Ocean Season“ des Noma: Blaue Muschel mit geräuchertem Wachtelei

Montag, 16. Oktober 2023. 14:57 Uhr, ich sitze mit Tunnelblick vor dem Computer. Punkt 15 Uhr wird die Reservierung für die sogenannte „Ocean Season 2024“ (16. 1. bis 31.5. 2024) im Noma freigeschaltet. Diesmal muss ich es schaffen. Ich MUSS einen Tisch bekommen. Vor ein paar Monaten habe ich versagt. Zwei Minuten nach der Freigabe der Reservierungen waren bereits alle Tische für die „Game & Forest Season“ vergeben.

 

Und heute droht das Rennen um die Plätze noch härter zu werden – nachdem bekannt wurde, dass das mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnete Lokal schließen wird, Ende 2024, spätestens Anfang 2025. Meine Taktik: Ich werde blitzschnell einen eher unbeliebten Tag wählen – einen Dienstag. Ab 14:59 Uhr klicke ich immer wieder nervös auf den Link, der direkt auf die Plattform Tock führt.

 

Die Seite ist nicht erreichbar, eine gefühlte Minute lang. Doch dann, endlich, bin ich drin und sehe, wie die Tische in Windeseile „unavailable“ sind. Februar? – Voll! März? – Keine Chance. Ich nehme einen willkürlichen Dienstag im April um 17:45 Uhr, klicke auf vier Personen – und bekomme ein Go! Doch es ist noch zu früh für Triumphgefühle.

 

Um den Tisch auch tatsächlich zu sichern, ist eine sofortige Garantiezahlung fällig – knapp 2200 Euro für vier Personen. Möchte man sein Geld zurück, muss man bis spätestens 14 Tage vorher stornieren. Aber daran will ich jetzt gar nicht denken. Erst einmal feiere ich meine Noma-Tisch-Eroberung.

 

Wer hat das Noma erfunden?

 

René Redzepi ist Herz und Kopf des Noma. Seine Karriere begann in den Neunzigerjahren. Er lernte bei den renommiertesten Köchen der Welt: in der „French Laundry“ von Thomas Keller in Kalifornien, bei den Brüdern Pourcel im „Le Jardin des Sens“ in Mont- pellier und im „El Bulli“ von Ferran Adrià. Zurück in Kopenhagen, eröffnete er 2003 zusammen mit Claus Meyer das Noma – der Name setzt sich aus den ersten Silben der dänischen Begriffe „nordisk“ (nordisch) und „mad“ (Essen) zusammen. Redzepi, 1977 in Kopenhagen als Sohn einer Dänin und eines mazedonischen Einwanderers geboren, verband kompromisslos Region und Saison miteinander.

 

 

Was ist das Besondere am Noma?

 

Seine Küche setzte auf einheimische Zutaten wie Wild, Wurzeln, Kräuter und Beeren, Farne, Schnecken, Fleisch vom Moschusochsen, Seegurken, Algen und Muscheln, die das Küchenteam am Strand sammelte. Im Noma gibt es jedes Jahr drei Saisons – die Seafood-Season im Winter, die Vegetable-Season im Sommer und die Game & Forest-Season im Herbst.

 

Redzepi propagierte die radikale Abkehr von der klassischen Haute Cuisine mit ihren Luxuszutaten, die aus der ganzen Welt eingeflogen werden müssen, und vereinte experimentierfreudige Gerichte mit typisch nordischer Küche – und das auf allerhöchstem Niveau. Einmal krabbelten sogar Ameisen über die Teller, aus dem hauseigenen Terrarium. Redzepi sorgte mit seinen ausgefallenen Ideen weltweit für Furore.

 

Im Jahr 2005 erhielt das Restaurant den ersten Stern im Guide Michelin, im Jahr 2007 den zweiten. Auf den dritten Stern musste Redzepi bis 2021 warten. Dafür wurde das Noma fünfmal zum weltbesten Restaurant gewählt, zuletzt im Jahr 2021.

 

Am Tag vor unserem Besuch werde ich von Stunde zu Stunde nervöser. Was, wenn die Airline wieder mal streikt? Warum habe ich bloß einen Flug direkt am Morgen unseres Noma-Dinners gebucht – und nicht am Tag vorher? Wenn wir nicht rechtzeitig spätestens um 17:45 Uhr im Restaurant sind, bekommen wir keinen Cent beziehungsweise keine Krone zurück – und nie wieder einen Tisch, denn das Restaurant wird ja geschlossen. Wofür Redzepi seine Gründe hat.

Warum schließt das Noma?

 

Die Luxusgastronomie sei bei fairer Bezahlung der etwa 100 Mitarbeiter nicht mehr machbar, sagt er. Und die Bedingungen, unter denen Fine Dining entstehe, seien nicht nachhaltig. Jetzt will er sein Noma in ein großes Lebensmittellabor umfunktionieren.

 

Das Gelände des Restaurants liegt auf einer kleinen Halbinsel im Stadtteil Christianshavn. Hierhin zog Redzepi mit seinem Team im Jahr 2016. Das Gebäude, in dem einst die königlich dänische Marine Minen lagerte, besitzt einen eigenen Garten, mehrere Gewächshäuser, in denen Gemüse und Kräuter wachsen, und ein Fermentationslabor, in dem Miso, Soja-saucen, Essige, Kombuchas und Garum und milchsauer und schwarz eingelegtes Gemüse, hergestellt werden.

 

Die Haltbarmachung von Lebensmitteln durch alte, traditionelle Techniken ist eine wichtige Säule der Noma-Küche, und viele andere Spitzen-Restaurants haben diese mittlerweile übernommen. Als wir ankommen, begrüßt uns ein Mitarbeiter, der schon 20 Jahre mit Redzepi arbeitet, wie er erzählt, während er uns in eines der Gewächshäuser führt, in dem wir vor einem Kamin Tee serviert bekommen.

 

Anschließend werden wir, vorbei an Wiesen und Wasser, ins moderne Hauptgebäude gebracht. Durch eine mit Muscheln besetzte Tür betreten wir endlich das Restaurant. Ein berauschendes Gefühl. Als wir auf dem Weg zu unserem Tisch an der offenen, modernen Küche vorbeikommen, klatschen etwa 20 Mitarbeiter fröhlich und begrüßen uns. Die ungezwungene, locker-herzliche Atmosphäre überrascht – man fühlt sich sofort wohl.

Der Gastraum ist schlicht, aber stilvoll eingerichtet. Böden und Decken aus hellem Eichenholz, viele Pflanzen und riesige Fenster mit Blick ins Grüne beherrschen den Raum. Keine Tischdecken auf den Holztischen, man trinkt hier am besten Naturwein, hausgemachte Säfte oder Tees zum Dinner.

 

Als wir beim Sommelier bestellen – einen der günstigeren Weine –, halte ich kurz die Luft an. Denn in vielen hochpreisigen Sternerestaurants entscheidet dieser Moment über den restlichen Abend. Teurer Wein: Wir werden euch auf Händen tragen – günstiger Wein: Keine Mühe wert, können sich bestimmt kein ordentliches Trinkgeld leisten. Dann geht es mit dem ersten Gang – von 14 – los. Eine im Ganzen gekochte Langustine, die in ihre Teile dekonstruiert und wie ein Kunstwerk auf dem Teller drapiert ist. Dazu eine aromatische Muschelbrühe mit Bergamotte, die sich unter dichtem Seetang versteckt – während man sie trinkt, steigt einem der Duft von Meerwasser in die Nase.

 

Ein unglaubliches Genusserlebnis, das alle Sinne miteinbezieht. Es folgt ein Gericht aus verschiedenen Arten von Seetang mit fermentiertem Gerstenöl in einer würzigen, hellen Soße, die auf der Zunge zergeht. Jeder Gang wird von einem der sehr aufmerksamen, professionellen und gleichzeitig entspannt-herzlichen Servicemitarbeiter erklärt – meine Befürchtung, dass wir wegen des günstigen Weins, den wir gewählt hatten, schlechter behandelt werden, löst sich in Luft auf.

Welche Gerichte werden im Noma serviert?

 

Dann: Miesmuschel mit Rote Beete – eine geniale Kombination. Zwei Gänge später folgt eines meiner Highlights: Hauchdünn geschnittener roher Tintenfisch auf gegrilltem Koji. Absolute Perfektion und Liebe zu ungewöhnlichen Details beweisen die aufeinanderfolgenden Kabeljau-Gerichte: Die Zunge des Fisches wird am Knochen serviert, den man aus dem Kopf des Fisches herausnimmt, dazu ein „Augen“-Pie.

 

Die Kellnerin erklärte uns, dass es nicht der ganze Augapfel des Tieres sei, sondern nur das Weiße davon – für die Pupille wäre Tintenfischtinte verwendet worden. Ich esse den Pie trotzdem nicht und erinnere mich daran, was ich über Redzepis Experimentierfreudigkeit gelesen habe: dass er gern mit fermentiertem Blut arbeitet und dass er einst warmes Entenhirn servierte, dass man aus dem geöffneten Entenkopf löffeln musste. Das hätte ich wohl auch stehen lassen.

 

Der nächste Gang: Hals und Kiefer vom Kabeljau sind unglaublich zart und würzig. Und die gegrillte Quappe ein Feuerwerk für die Geschmacksnerven. Die Nachtische sind Welten von dem entfernt, was ich mir normalerweise im Restaurant bestellen würde, zum Beispiel Haselnussmilchschaum mit Seetangöl und Kaviar. Oder Snobrød (dänisches getwistetes Brötchen) am Seetangspieß mit Yuzu-Sirup und Muschelgel. Aber wer sich mit Redzepis Küche beschäftigt hat, weiß dass man keinen Kaiserschmarrn erwarten darf.

 

Nach knapp drei Stunden ist das Dinner vorbei und wir lassen den Abend in der Lounge ausklingen: gedimmtes Licht aus Vintage-Leuchten, Chairs von Nikari, die Sofas sind mit sandfarbenen Wollstoffen von Pierre Frey bezogen – der perfekte Ort, um nach diesem fulminanten Geschmackserlebnis wieder langsam auf den Boden zurückzukommen.

 

Unser Fazit: Das Dinner hat sich wirklich gelohnt. Das Noma ist ein Gesamtkunstwerk, das inspiriert, saturiert und einen auch ein bisschen glücklicher macht.

Wie geht es mit dem Noma weiter?

 

Aber wie geht es jetzt mit dem Noma weiter? Unter anderem mit Pop-up-Konzepten. Redzepi zog schon mehrmals mit den Noma-Teammitgliedern und deren Familien für einige Monate in andere Städte: zum Beispiel nach Sydney (2016), Tulum/Mexiko (2017) und Kyoto (2023). Dieses Jahr geht es wieder in die japanische Kaiserstadt, für 10 Wochen, vom 8. Oktober bis zum 8. Dezember 2024.

 

Im Winter 2024 wird man den regulären Restaurantbetrieb schließen, heißt es auf der Instagram-Seite: „Um weiterhin das Noma zu sein, müssen wir uns verändern.“ Das Ende sei dies aber nicht, sondern vielmehr der Startschuss für das Projekt Noma 3.0, das unter anderem das Ziel hat, neue Lebensmittel zu entwickeln. Es wird uns wieder einmal einen Vorgeschmack auf die Zukunft geben.

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