Was denen einen Ozempic, ist für andere Apfelessig: ein Mittel, das Bauchfett rasant schmelzen lassen soll. Obendrein soll es für einen strahlenden Teint sorgen, Nägel stärken und Cholesterin senken. Eine Sensation aus dem Supermarkt also?
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Ein Café au Lait am Morgen schickt einen gedanklich nach Paris. Mit Tee wacht man wie ein britischer Monarch oder buddhistischer Mönch auf. Wer dagegen direkt nach dem Aufstehen ein Glas Wasser mit Apfelessig herunterstürzt, fühlt sich mit Hollywood und TikTok verbunden.
Dabei ist Apfelessig ein alter Hut: Schon Hippokrates, Arzt der Antike, hat ihn zum Infektionsschutz bei Wunden eingesetzt. Zurzeit macht der Essig aber ein großes Fass auf und wird als Allheilmittel und vor allem Fettkiller gehandelt. Eine, die ihren 4,7 Millionen Followern zur sauren Therapie rät, ist Ines Inchauspé, Mathematikerin, Biochemikerin und als Glucose Goddess auf Social Media zu Ruhm gekommen.
Die Französin predigt, dass ein Glas Essigwasser vor jeder Mahlzeit dafür sorgt, dass Zucker und Stärke langsamer in Glukose umgewandelt werden. Et voilà, man nimmt quasi nebenbei ohne mühsamen Verzicht ab! „Ein Esslöffel Essig vor dem Essen kann die Gluskosespitze um bis zu 30 Prozent reduzieren“, sagt Inchauspé.
So würde das Sättigungsgefühl länger anhalten und Heißhungerattacken vermieden werden. Die Wirkung basiert darauf, dass die enthaltende Essigsäure Enzyme im Verdauungsprozess stimuliert, genauer AMPK und GLP-1, die den Blutzuckeranstieg dämpfen. Hierüber wirken übrigens auch klassische Diabetes-Medikamente.
Tatsächlich gibt es eine aktuelle Studie aus dem Nahen Osten mit Adipositas-Patienten, die zeigt, dass diejenigen, die drei Monate lang jeden Morgen ein Glas Wasser mit fünf bis 15 Milliliter Apfelessig tranken, ihr Gewicht bis zu sieben Kilo reduzieren konnten.
Ein echter „Schlank-Schuck” also, wie ihn Boulevardmedien nennen? Professor Andreas Michalsen, Naturmediziner, Chefarzt des Berliner Immanuel Krankenhauses und Berater der exklusiven Lanserhof-Resorts, relativiert: „Diese Studie aus dem Libanon ist ein erster Ansatz, aber daraus lassen sich noch keine allgemeingültigen Wirkungen ableiten. Eine spitze Gruppe aus 120 Probanden mit einer besonderen Disposition, keiner älter als 25 Jahre, ein relativ kurzer Zeitraum – für valide Aussagen ist das zu wenig.”
Neben dem Fettburner-Effekt werden dem Apfelessig aber auch noch allerlei andere positive Wirkung unterstellt, z.B. soll er als Booster für Verdauung, Diabetesmanagement und Cholesterinkontrolle Dienste leisten. Ähnlich dem alten Mythos „an apple a day keeps the doctor away“ scheint es auch ein Schluck saurer Apfel zu tun.
Allerdings steckt wenig Obst im Essig, denn bei der Produktion werden Äpfel gepresst, der Saft wird zu Apfelwein vergoren und mit Essigsäurebakterien versetzt und nur ein kleiner Teil der in der Frucht enthaltenen Vitamine und Mineralstoffe geht dabei in den Essig über. Bei zwei Teelöffeln ist der Gesamtgehalt an Nährstoffen verschwindend gering: 0,001 Milligramm (mg) Beta-Carotin, 10 mg Kalium, null Vitamin C – der Apfel vom Baum trumpft da mit dem bis zu 34fachen auf.
Ein Wirkstoff allerdings ist effizient: Die Essigsäure hat nachweislich einen Einfluss auf den Insulinspiegel und bei Diabetes Typ2 kann Apfelessig Betroffene unterstützen, nicht in den Unterzucker zu geraten. Sie sollten jedoch vor der Naturtherapie vorsichtshalber ihren Arzt konsultieren.
Aus einem anderen Grund ist Apfelessig bei Menschen wie Katy Perry, Elizabeth Hurley und Scarlett Johannsen populär: Er soll reine Haut und schöne Nägel machen (und die Verdauung ankurbeln). Designerin Victoria Beckham behauptet, zwei Löffel am Morgen machten sie „lithe”, also geschmeidig. Die antibakteriellen Eigenschaften, die schon Hippokrates rühmte, sind inzwischen tatsächlich wissenschaftlich untersucht und anerkannt, Pilzinfektionen und Wunden lassen sich damit gut (äußerlich) behandeln.
Für den Nutzen einer inneren Kur gibt es jedoch schlicht nicht genug Beweise. Wer trotzdem ein wenig Hollywood-Routine in den Alltag integrieren will, kann den Mix ausprobieren, er schadet bei moderatem Konsum und einer Dosierung 1:10 (Essig: Wasser) nicht.
Um auf Nummer sicher zu gehen, lieber zum Strohhalm greifen, um den Zahnschmelz nicht zu schädigen und bei Magenproblemen und saurem Reflux lieber auf den Drink verzichten. Genau wie alle, die lieber genussvoll und sanft in den Tag starten wollen. Denn sauer – ist nicht lustig.