Gendermedizin: Frauen und Männer sind anders krank

Eine Erkenntnis, die
in der Medizin erst seit relativ kurzer Zeit mehr Aufmerksamkeit erfährt – und die Heilkunst auf den Kopf stellen könnte. Der Experte Prof. Dr. med. Burkhard Sievers gibt spannende Einblicke

© Magda Ehlers

Der letzte Patient des Tages hat die Praxis in Meerbusch bei Düsseldorf eben verlassen. Burkhard Sievers legt den weißen Kittel ab, um sich ganz darauf zu konzentrieren, Fragen zu einem Thema zu beantworten, das ihn seit mittlerweile zwanzig Jahren beschäftigt, in der öffentlichen Wahrnehmung aber erst allmählich an größerer Bedeutung gewinnt: Gendermedizin.

 

Herr Professor Sievers, was macht es für einen Unterschied, ob ein Mann oder eine Frau in Ihre Praxis kommt?

 

Eigentlich keinen. Jeder Patient und jede Patientin ist willkommen und wird individuell behandelt, egal welchen Geschlechts.

 

Wie unterscheidet sich das Patientengespräch mit
einem Mann von dem mit einer Frau?

 

Die Beschwerden von Frauen sind oft relativ unspezifisch und nicht so beschaffen, dass man sie einfach einer Schublade zuordnen kann. Deswegen muss man bereit sein, sehr aufmerksam zuzuhören. Es verlangt mehr Sensibilität, manchmal auch zwischen den Zeilen zu lesen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Natürlich muss man auch Männern gut zuhören, aber meistens lassen sich ihre Aussagen über Beschwerden besser einordnen.

 

Warum?

 

Das liegt vor allem daran, dass die meisten Erkrankungen in den Lehrbüchern anhand von männlichen Symptomen beschrieben wurden.

 

Welche Rolle spielt es, wenn eine Frau einem Arzt und nicht einer Ärztin gegenübersitzt?

 

Für das Geschlecht, dem man selbst angehört, hat man natürlich ein anderes Grundverständnis als zu einem anderen. Ich glaube aber, dass der Unterschied gar nicht so groß ist. Wenn man als Ärztin oder Arzt auf klinische Erfahrung und Menschenkenntnis zurückgreifen kann, sich auf die Patientin oder den Patienten als Mensch einlässt, dann sollte man seine Beschwerden einordnen können. Wenn Sie jemanden ansehen, dann können Sie manche Risikofaktoren schon entdecken. Wenn ein Patient beginnt  zu reden, erfahren Sie etwas über seinen Lebensstil und seine Bildung.

 

Wenn Sie die Vorerkrankungen abfragen, kennen Sie seine Risiken. Und wenn der- oder diejenige über Beschwerden spricht, können Sie im Kopf ordnen: Was ist das Problem? Entscheidend ist die Bereitschaft, sich auf den Menschen einzulassen. Und dabei ist wichtig, sich nicht zu schnell zufrieden zu geben, und unspezifische Beschwerden nicht auf die psychosomatische Schiene ab-zuwälzen. Das geschieht leider häufig.

 

Frauen sind anders krank als Männer. Diese Erkenntnis, die der Gendermedizin zugrunde liegt, gilt in der Wissenschaft und Forschung als relativ neu. Wie kann das sein? Wurden die biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen bisher übersehen?

 

Die Unterschiede sind schon länger bekannt. Aber sie wurden ignoriert. Allein, was die Stoffwechselwege angeht, gibt es große Unterschiede. Männer haben wenig Östrogen, Frauen sehr viel. Doch was daraus folgt, wird nicht beachtet. Das gilt für die Bevölkerung genauso wie für Ärztinnen, Ärzte und das Personal in medizinischen Berufen. Die kriegen das alle nicht beigebracht.

 

Kaum zu glauben.

 

Erzählt man, dass mehr Frauen an Herz-Kreislauf- Erkrankungen sterben als Männer, dann sind die Leute immer sehr erstaunt. Oder, dass mehr Frauen an Herz- Kreislauf- und Gefäßerkrankungen sterben als an allen Krebserkrankungen zusammen. Dass Frauen in der Regel eine 30 bis 50 Prozent geringere Medikamentendosis benötigen, weil sie über eine viel stärkere, schnellere und längere Immunantwort als Männer verfügen.

 

Wie lässt sich erklären, dass diese Erkenntnisse so lange nicht berücksichtigt wurden? Alles eine Folge eines tradierten Rollenverständnisses?

 

Das ist ein wesentlicher Punkt. Dazu Unwissenheit, Ignoranz und mangelnde Bereitschaft zu Veränderung.

 

Dass Frauen ein kleineres Herz haben, ihre Knochen leichter sind, ihr Immunsystem besser und sie eine höhere Lebenserwartung haben, ist Vielen bekannt. 

 

Richtig, aber damit hört es oft auch schon auf. Weiter wird nicht gedacht, weil es keine Evidenz und keine Studien gibt, die sich damit auseinandersetzen. Es gibt Leitlinien zur Behandlung bestimmter Erkrankungen. Aber weltweit wird darin nicht zwischen Männern und Frauen unterschieden. Das ist nicht Gegenstand der Forschung.

Wie sind Sie selbst auf den Ansatz der Gendermedizin gestoßen? Ursprünglich sind Sie Kardiologe und Angiologe.

 

Im Studium war ich lange unentschlossen, für welche Fach-richtung ich mich entscheiden sollte. Mein Hauptinteresse galt der Inneren Medizin und der Kardiologie genauso wie der Gynäkologie und Geburtshilfe. Aufgrund meiner Doktorarbeit bin ich dann in der Kardiologie hängen geblieben. In den USA bin ich dann erstmals dem Ansatz der Gendermedizin begegnet. Die Aufmerksamkeit dafür ist dort viel größer.

 

Was hat Sie damals am stärksten beeindruckt?

 

Dass Östrogen eine zentrale Rolle spielt. Kann das sein, fragte ich mich damals, dass ein Hormon so viele Prozesse steuert und beeinflusst, dass so wesentliche Unterschiede entstehen? Bis ich zu dem Schluss kam: Ja, das spielt eine wesentliche Rolle. Und die Unterschiede, die daraus entstehen, müssen in der täglichen Praxis beachtet werden.

 

Ein wichtiger Aspekt der Gendermedizin ist die Dosierung von Medikamenten. Bei welchen Diagnosen fällt das besonders auf?

 

Es gibt Studien, die zeigen, dass bei Herzschwäche die Hälfte der üblichen Dosis bei Frauen ausreicht, um die gleiche Wirksamkeit zu erzielen wie bei Männern, mit dem Vorteil deutlich niedrigerer Nebenwirkungen.

 

Was kann Überdosierung bewirken?

 

Überdosierung führt vor allem zu vermehrten Nebenwirkungen. Und diese führen häufig dazu, dass Medikamente nicht mehr eingenommen werden, dadurch ist die Therapietreue nicht mehr gegeben. So bleiben Erkrankungen, die eigentlich behandelt werden müssen, unbehandelt, schreiten ungehindert fort und führen im schlimmsten Fall zum vorzeitigen Tod.

 

Ehe ein Medikament auf den Markt kommt, wird
es jahrelang erforscht und muss Zulassungsverfahren durchlaufen. Wird dabei nicht auf geschlechtsspezifische Dosierung geachtet?

 

Für eine geschlechtsspezifische Analyse von Fallstudien müssten sie die Gruppe der Frauen separat untersuchen. Das bedeutet, sie müssen unterschiedliche Dosierungen testen und auch die hormonellen Phasen im Leben einer Frau berücksichtigen: die Phase vor den Wechseljahren und die nach den Wechseljahren, im Idealfall auch noch die in den Wechseljahren. In diesen Phasen schwankt der Hormonspiegel sehr stark. Dies zu berücksichtigen würde die Anzahl der Teilnehme-rinnen, die Studiendauer und die Kosten deutlich erhöhen.

 

Und da wird es kompliziert.

 

Kompliziert und aufwändig. An-ders gesagt: Die Bestimmungen sind nicht so streng, dass für die pharmazeutischen Unternehmen eine Notwendigkeit daraus ent-standen ist, Tests in diesem Sinne auszuwerten. Natürlich gibt es bei jedem Medikament einen Korridor, in dem man sich als Arzt bei der Dosierung bewe-gen kann. Das Problem ist bloß, dass die Einstiegsdosis für Frauen oftmals schon zu hoch ist. Und deswegen müsste in den Studien eigentlich noch mal die Hälfte der Dosis getestet werden, um herauszufinden, ob für Frauen allein damit schon eine Wirksamkeit entsteht.

 

In Ihrem Buch „So heilt man heute“ empfehlen Sie, von den angegebenen Dosierungen abzuweichen.

 

Ja, wenn sie eine medizinisch vernünftige Begründung dafür haben. Eine geringere Dosis schadet ja nicht. Als Patient verlieren Sie nichts, wenn Sie zunächst mal mit der Hälfte der Dosis beginnen.

 

Erhebliche Nachteile haben Frauen insbesondere
bei Herzkrankheiten, vor allem weil ihre Symptome andere sind als bei Männern.

 

Richtig, Männer haben häufiger Herzerkrankungen, aber Frauen sterben häufiger daran, weil diese bei ihnen seltener entdeckt werden als bei Männern, sie oft zu spät in die Klinik kommen und Infarkte verkannt werden. Aber Frauen sterben insbesondere häufiger an Herzschwäche, an Herzerkrankungen und an Herzrhythmusstörungen. Und das deutlich häufiger als Männer.

Was hat das für Ursachen?

 

Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meiner Praxis. Vor Kurzem hatte ich eine Patientin, Mitte 50. Vor einem Jahr habe sie einen Herzinfarkt gehabt, erzählte sie, und jetzt wolle sie noch mal nachsehen lassen. Sie sagte, es gehe ihr ganz gut, aber hin und wieder habe sie so ein komisches Gefühl. Manchmal spüre sie auch ein bisschen Druck, aber das gehe dann wieder weg. Sicher sei das psychologisch, sagte sie.

 

Im Gespräch stellte sich heraus, dass sie vor zwei Jahren ihren Ehemann verloren hatte und sich seitdem in Dauerstress befand. Sie wirkte niedergeschlagen und überfordert. Ich machte einen Ultraschall, ein EKG und sah mir die Halsschlagader an. So weit war nichts auffällig. Zur Sicherheit nahm ich noch Blut ab. Als die Blutwerte kamen, wiesen sie erhöhte Entzündungswerte auf. Schließlich stellte sich heraus, dass sie einen Herzinfarkt hatte, wenn auch keinen lebensbedrohlichen. Ein paar Stunden später war sie im Krankenhaus und ich setzte ihr einen Herzkatheter und drei Stents.

 

Warum ich das erzähle? Weil sie komplett durch das Raster hätte fallen können. Eine Bitte um Kontrolle, keine Auffälligkeiten bei den Tests, keine typischen Beschwerden, nichts weiter als ein komisches Gefühl. Deshalb ist es so wichtig, Patienten und Patientinnen zuzuhören und aufmerksam zu sein.

 

Gendermedizin wird gelegentlich mit Frauenmedizin gleichgesetzt. Aber auch Männer werden bei einigen Volkskrankheiten falsch behandelt. Etwa bei Osteoporose. Wie kommt es dazu?

 

Der Algorithmus im Kopf sagt: Frau, Wechseljahre, Östrogenmangel, Osteoporose. Das liest man auch immer wieder. Aber ab 65, 70 ist die Häufigkeit von Osteoporose bei Frauen und Männern etwa gleich groß. Eigentlich logisch, denn der Abbau der Knochen beginnt ab 40, das gilt natürlich auch für Männer. Bricht sich ein älterer Mann bei der Gartenarbeit den Unterschenkel, geht er in die Notaufnahme, bekommt einen Gips und geht nach Hause.

 

Aber allzu häufig fragt niemand: Warum ist das eigentlich so? Das ist schade, denn Osteoporose lässt sich zumindest reduzieren, mit Physiotherapie und Muskelaufbau kompensieren und mit entsprechenden Medikamenten auch der Abbau der Knochen verhindern.

 

Auch bei der Diagnose und Behandlung von Depressionen sind Männer im Nachteil. Anzeichen für eine depressive Erkrankung werden häufig nicht erkannt. Woran liegt das?

 

Männer haben bei Depressionen oft andere Symptome, etwa in Form von Sucht- und erhöhtem Aggressionsverhalten. Der klassische Fragebogen, mit dem Depressionen diagnostiziert werden, fragt das aber nicht ab. Er orientiert sich an Frauen. Deshalb werden Depressionen bei Män-nern nicht so häufig erkannt.

 

Frauen leiden in Europa doppelt so häufig an Depressionen als Männer. Aber die Suizidrate liegt bei Männern dreimal höher als bei Frauen. Belegt das die These?

 

Auf jeden Fall. Und Männer schotten sich bei Depressionen eher ab und tun sich deutlich schwerer damit, den ersten Schritt zu machen, als Frauen. Häufig fürchten sie, als psychpathisch zu gelten, Schwierigkeiten im Job zu bekommen, nicht mehr der starke Mann oder angreifbar zu sein. Und flüchten sich in Süchte.

 

Deshalb ist es so wichtig für Familie, Freunde und Bekannten, denjenigen darauf anzusprechen. Und am besten dort hinzubringen, wo ihm geholfen werden kann, sei es beim Psychologen, beim Psychiater, bei Psychotherapeuten oder Neurologen.

 

Wie zuversichtlich sind Sie, dass der Ansatz der Gendermedizin sich in den nächsten Jahren durchsetzt?

 

Die Pharmafirmen werden ihre Studien umstellen müssen. Dadurch wird es entsprechende Daten geben, der Gender Data Gap wird kleiner. Das wird dazu führen, dass Beipackzettel unterschiedliche Dosierungen für Frauen und Männer beinhalten. Auch in der Wissenschaft wird das Thema Zukunft haben.

 

Gendermedizin unterscheidet das Geschlecht. Aber es gibt weitere Kriterien, die auf Krankheiten Einfluss haben.

 

Ziel der Gendermedizin ist auch nicht, bei der Unterscheidung von Mann/Frau/Divers stehen zu bleiben. Sondern ein Portfolio an Parametern zu berücksichtigen, zu dem Faktoren wie Genetik, Umwelteinflüsse, Größe, Körper-masse, Muskel- und Fettanteil zählen.

 

Mehr Informationen zu diesem Thema: Prof. Dr. med. Burkhard Sievers betreibt auf YouTube den Channel „Sievers Sprechrunde„.

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