Was sonst nur Kinder betraf, wird jetzt auch oft erst im Erwachsenenalter diagnostiziert. Welche Therapien und Behandlungen den Alltag mit ADHS erleichtern können
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Kristen Stewart hat es. Nelly Furtado auch. Und Adam Levine. In Deutschland zählen unter anderem Benjamin von Stuckrad-Barre und TV-Arzt Eckart von Hirschhausen zu den Betroffenen. Die Liste der Prominenten, die sich in den letzten Monaten geoutet haben, unter ADHS zu leiden, ist lang. Dabei erscheint „leiden“ hier relativ – sind sie doch alle erfolgreich, wozu bekanntermaßen ein gewisses Maß an Selbstdisziplin gehört.
Zeit für Aufklärung. Grob geschätzt leben in Deutschland rund drei Millionen Menschen mit ADHS. Dabei handelt sich um eine Störung der neuronalen Entwicklung, die eine hohe genetische Komponente hat – die Heritabilität liegt bei 90 Prozent. Hinzu kommen häufig psychosoziale Einflüsse, wie familiäre Instabilität, überzogene Erwartungshaltung oder finanzielle Sorgen, die symptomverstärkend wirken.
Die sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung zählt zu den häufigsten Störungen in der Kindheit – gekennzeichnet bei Jungs durch Gezappel und Hyperaktivität, bei Mädchen eher durch Unaufmerksamkeit oder Verträumtheit. Rund 50 bis 80 Prozent weisen noch als Erwachsene – wenn auch verändert -Symptome auf.
Viele Betroffene wissen gar nicht, warum sie so sind, wie sie sind“, sagt Prof. Dr. Andreas Menke, ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Medical Park Chiemseeblick und Experte für ADHS. Seiner Erfahrung nach ist es bei Erwachsenen sogar unterdiagnostiziert – aktuell geht man von einer Prävalenz von etwa 2,8 Prozent aus.
Symptome wie Konzentrationsschwäche, Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität können darauf hinweisen, müssen es aber nicht. Verdachtsmomente sind: Wenn man schnell gelangweilt ist, ständig nach neuen äußeren Reizen sucht – das kann auch ein häufiger Wechsel von Arbeitsstätte und Wohnort sein.
Viele Betroffene stehen ständig unter Strom, wirken verplant. Haben daher auch ein höheres Risiko für Unfälle. Sie neigen zu exzessivem Konsum von Kaffee, Energy-Drinks oder Zigaretten. Oder zu anderem Suchtverhalten wie Spielsucht oder aber zu Selbstmedikation, wenn versucht wird, Symptome zu maskieren oder zu dimmen.
Auch plötzliche verbale Entgleisungen bis hin zu Gewalt gehören zum Spektrum. ADHS habe aber auch seine guten Seite. „Menschen mit ADHS sind sehr kreativ, haben eine schnelle Auffassungsgabe oder können vieles gleichzeitig machen“, so der Experte.
Und sie gehen auf der Suche nach neuen Kicks gern auch neue Wege – entwickeln dabei bisweilen Pioniergeist. Viele leben dann nicht nur gut mit, sondern auch von ADHS – häufig in der Musik-, Kunst- oder Filmszene.
Für die Betroffenen meist ein echtes Puzzle. Denn viele Symptome haben auch ganz normal Gestresste, oder sie deuten auf andere psychische Störungen hin. Deshalb ist es wichtig, sich an Fachleute zu wenden, also Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie oder Fachkliniken für Psychosomatik, die darauf spezialisiert sind. Nicht alle Ärzte oder Psychologen sind damit vertraut.
Auch deshalb wird ADHS bei Erwachsenen häufig spät erkannt – meist im Zusammenhang mit Co- oder Folgeerkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Suchtverhalten, weiß Andreas Menke aus der täglichen Praxis.
Der erste Schritt zur präzisen Diagnose ist ein ausführliches Anamnesegespräch: Dabei geht es um Symptome, Häufigkeit und Stärke, daraus folgende Einschränkungen sowie die Entwicklung. Dann muss ausgeschlossen werden, dass die Symptome durch die Einnahme von Medikamenten oder anderen Substanzen sowie durch internistische oder neurologische Erkrankungen ausgelöst werden.
Zudem wird testpsychologische Diagnostik eingesetzt, die mit detaillierten, standardisierten Fragebögen der Selbstauskunft oder auch als Fremdauskunft für Bezugspersonen (HASE –Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene) arbeitet.
„Der Zeitpunkt der Diagnosestellung ist dann meist ein ganz besonderer Moment für die PatientInnen – endlich haben sie eine Diagnose, die alles erklärt: dass sie eben nicht faul, dumm oder komisch sind, sondern dass sie ein ADHS haben, das man gut behandeln kann“, so Professor Andreas Menke.
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Wichtig ist, dass zunächst PatientInnen und ihre Bezugspersonen umfassend über die Erkrankung informiert werden. Das gibt Sicherheit und fördert das Verständnis. So kann beispielweise verhindert werden, dass jemand in einer impulsiven Phase durch Stichelei noch mehr auf die Palme gebracht wird.
Oder, dass es nicht als uninteressiert bewertet wird, wenn sich das Gegenüber in einem Gespräch kurz wegträumt. Das Zauberwort ist aber Multimodale Therapie. Einen wichtigen Part nehmen dabei sogenannte Stimulanzien ein. Das sind Medikamente, die das Zusammenspiel bestimmter Botenstoffe im Gehirn so wie die Konzentration und Wirkungsdauer der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin verändern.
„PatientInnen mit ADHS haben paradoxerweise eher ein dopaminäres Defizit, das so ausgeglichen werden kann“, erklärt Menke. In Deutschland sind Medikamente mit den Wirkstoffen Methylphenidat, Lisdexamfetamin und Atomoxetin zugelassen, die dann vom behandelnden Arzt individuell verschrieben werden.
Ihr positiver Effekt: Sie steigern die Konzentrationsfähigkeit, das Verhalten kann besser kontrolliert werden – auch innere Unruhe oder Hyperaktivität verringern sich messbar. Ideal an diesen Medikamenten ist auch, dass sie sofort wirken und nicht erst ein Spiegel aufgebaut werden muss.
So müssen sie nicht notwendigerweise permanent eingenommen werden „Wer aber auch im privaten Bereich so desorganisiert oder impulsiv ist, dass alle darunter leiden, sollte die Medikamente durchnehmen“, empfiehlt Menke jedoch.
Das kommt auf die Symptome an. Sind sie leichter, kann laut Leitlinie auch ein Coaching und psychosoziale Therapie genügen. Die besten Ergebnisse aber liefert, laut einer neuen Metaanalyse über 20 randomisierten, kontrollierten Studien mit 1389 PatientInnen, die Kombination von medikamentöser Therapie und Verhaltenstherapie.
Denn die Medikamente ergänzen nicht nur, sie fungieren auch als Basis für weitere Therapiemaßnahmen, um konzentrierter die nächsten Schritte in Angriff nehmen zu können. In der Therapie lernt man, besser mit Impulsivität umzugehen und bekommt Werkzeuge an die Hand, die beim Zeitmanagement und der Selbstorganisation helfen.
Es wird trainiert, wie man Verhaltensmuster und Glaubenssätze kognitiv umstrukturiert. Zum Beispiel mit Tagebuchschreiben. „ Darin sollen die PatientInnen die Situationen, in denen sie sich unwohl gefühlt haben, schildern und wie sie sich genau gefühlt haben. Und mit ein bisschen Abstand, die Situationen in einer ruhigen Minute nochmal neu bewerten und dazu schreiben, wie die Situation auch gesehen werden kann“, erklärt Professor Menke.
Last but not least soll auch der Blick für die eigenen Stärken geöffnet werden, wie zum Beispiel Kreativität oder Ehrlichkeit. Die Therapie erfolgt in Einzel- oder Gruppensitzungen. Vorteil der Gruppentherapie: Hier treffen sich Menschen, die die gleichen Schwierigkeiten haben. Das hilft, sich selbst zu akzeptieren und auch besser mit den Symptomen zurecht zu kommen.
Möglicherweise – doch Trends können auch Positives bewirken: Durch Social Media und die vielen prominenten Outings rückt das Thema ADHS bei Erwachsenen in die Öffentlichkeit. Was hoffentlich zu einem Umdenken und Neudenken führt: Zum Beispiel, dass sich durch das wachsende Bewusstsein und die höhere Nachfrage mehr ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen mit dem Thema beschäftigen und entsprechende Qualifikationen erwerben.
Dass sich Betroffene nicht mehr unzulänglich oder „verrückt“ fühlen. Und dass niemand mit der Diagnose komisch beäugt wird, auch nicht, wenn er damit in Therapie ist. Doch ein weiteres spannendes Konzept wird mehr und mehr diskutiert:
„Im Sinne der Neurodiversität könnte man sagen: ADHS ist einfach ein anderer Zustand des Gehirns. Und das kann viele Zustände annehmen, die alle in Ordnung sind. Es ist eher die Umwelt, die nicht immer passend darauf antwortet“, so Menke.
Das könnte dazu führen, dass im Berufsleben Menschen mit ADHS gerade für ihre Stärken eingesetzt und geschätzt werden. Was zumindest bei den prominenten Vertretern schon gut funktioniert. Nicht gut allerdings ist, wenn eine Überidentifikation stattfindet und die Diagnose als chic gilt oder ADHS gar verharmlost wird: „Es ist nun mal eine Erkrankung, die medizinisch behandelt werden sollte“, so Professor Andreas Menke. Eine, mit der man gut leben kann,