Waldbaden – Wie der Wald uns heilen kann

Der Wald – wir lieben und zerstören ihn zugleich. Und manchmal fürchten wir ihn sogar. Anatomie einer schwierigen Love Story

Waldbaden, Wald

© Getty Images

„Der Wald ist ein Star in Deutschland“

Der Wald – eine deutsche Lovestory

 

Besungen, beschrieben, porträtiert in Gemälden, Fotografien und Filmen. Der Wald ist ein Star in Deutschland. Spätestens mit der Romantik, den Bildern Caspar David Friedrichs und den Märchen der Gebrüder Grimm beginnt seine Karriere als seltsam ambivalenter Sehnsuchtsort, an dem alles gut werden kann – oder an dem das Grauen lauert. Und auch heute noch schafft er es mühelos an die Spitzen der Bestsellerlisten, wenn etwa der Förster und Autor Peter Wohlleben uns Das geheime Leben der Bäume als kommunizierende Wesen und den ganzen Wald als eine Gemeinschaft der verwurzelten Riesen vorstellt.

 

Allerdings ist der Wald auch eine Diva, deren Mythos und deren große Augenblicke wir ebenso gebannt verfolgen wie ihre Tiefpunkte und Schicksalsschläge. Das Waldsterben war in den 1980er-Jahren eines der ersten sichtbaren Zeichen der fortschreitenden Umweltzerstörung, das die Menschen hierzulande wirklich alarmiert hat. Und seit Jahren beunruhigen uns die Meldungen über die Auswirkungen des Klimawandels auf Bäume und Wälder besonders. Wäre der Wald ein Mensch, er müsste sich neu erfinden. Tatsächlich aber müssen wir das für ihn tun, ihm die Möglichkeit dazu geben und ihn dabei unterstützen. So oder so – unser Wald wird sich verändern. Und unser emotionales Verhältnis zu ihm?

 

 

Woher kommt die Liebe zum Wald?

 

Vielleicht rührt die Waldleidenschaft in Deutschland ja wirklich von den antiken römischen Berichten her, die die germanischen Vorfahren in den Wäldern jenseits des Limes verorten. Der Wald als idealtypische Urheimat? Dabei dürfte die Entfremdung zwischen Wald und Mensch schon viel früher eingesetzt haben. Und damit vielleicht auch die Sehnsucht nach Wald. Unsere nomadischen, steinzeitlichen Ahnen zogen jagend und sammelnd ebenso durch Wälder wie durch Grasland und andere Landschaften. Doch schon mit der neolithischen Revolution, dem Beginn des Ackerbaus, der Sesshaftwerdung, dem Entstehen von Siedlungen und Dörfern, wurde der Wald wohl langsam das „Andere“, der Ort, der eben nicht mehr unmittelbarer Lebensraum war und vor dem die Erträge der Äcker geschützt werden mussten – sei es vor gefräßigen Tieren oder vor Zuwucherung.

 

Und mit jedem neuen zivilisatorischen Schritt entrückt uns der Wald ein Stück weiter. Für den Städter ist der ländliche Raum bereits das „Andere“, das Draußen – der Wald erst recht. Und seit wir uns in digitalen Welten bewegen, ist schlicht die analoge Welt an sich die Außenwelt. Die Stadt, die Straße wird schon zum äußeren, unvertrauten Ort. Und so entfernen wir uns vom Wald noch um eine weitere Stufe.

 

 

Der Wald als unheimlicher Ort?

 

Ein zu verkürztes und zu simples Bild? Ganz gewiss. Aber auch falsch oder abgehoben? Bereits 2015 stellte der Physiker und Natursoziologe Rainer Brämer in seinem Aufsatz Unheimlicher Wald, gefährliche Bäume. Die Angst der Eltern um ihre Kinder fest: „Den Eltern fällt es angesichts der allgemeinen Verstädterung der Lebensverhältnisse immer schwerer, Räume zu erschließen, in denen ihr Nachwuchs auf realistische Weise mit Wald und Flur in Berührung kommen kann. Und selbst wo das möglich ist, gebietet ein gesellschaftliches Klima überbeschützender Fürsorge, ihre Kinder so weit wie möglich vor Risiken jedweder Art zu bewahren – Natur eingeschlossen.“

 

Gerade die letzten beiden Jahre mit ihren Corona-Lockdowns haben unser Leben noch einmal deutlich digitaler und virtueller gemacht. Da brachte auch das allseits empfohlene Spazierengehen nicht viel. Erstaunlich ist, dass die Elterngenerationen selbst noch deutlich größere Outdoor-Freiheiten genossen und sich daran in der Rückschau überwiegend auch gern erinnern.

 

 

Der Wald als Anti-Stress-Programm

 

Zudem weiß man heute, dass schon der reine Aufenthalt im Wald der psychischen und der körperlichen Gesundheit auf vielfältige Weise zuträglich ist – selbst ohne jede sportliche Aktivität wie Joggen oder Mountainbiken. Wald ist das pure Anti-Stress-Programm. Die Geräusche sind andere und beruhigen, die Luft ist anders, sauerstoffreicher, besser klimatisiert, stärker durchfeuchtet. In ihr finden sich biogene volatile organische Komponenten, auch Phytoncide genannte Wirk- und Aromastoffe, die Bäume absondern und die das Immunsystem kräftigen sollen. Bei Laubbäumen ist das Isopren, bei Nadelhölzern sind es Terpene oder Terpenoide. Im Wald fällt es leichter, hektisch-grüblerisches Denken loszulassen. Diese Art, durch den Wald zu streifen, sich ihm mit allen Sinnen zu öffnen und seine Wohltaten bewusst anzunehmen, hat in den letzten Jahren viele Anhänger gefunden.

 

 

Waldbaden als Heilmethode

 

Das Konzept stammt aus Japan, wurde schon in den 1980er-Jahren entwickelt, ist dort inzwischen eine anerkannte Heilmethode und heißt Shinrin-yoku, was bei uns eins zu eins mit dem Wort Waldbaden übersetzt wird. Mit Schwimmen in einem Waldsee – so schön das sein mag – hat der Begriff also nichts zu tun. Ist man, wie der Autor dieses Textes, praktisch im Wald aufgewachsen – in einem Haus etwas außerhalb eines Dorfes im Harz, wo man nach wenigen Schritten aus der Tür ins schattige Grün eintauchte –, erscheint einem Waldbaden wie die natürlichste Sache der Welt.

 

Und man hat die leise Hoffnung, dass einen diese Kindheit zwischen Bäumen fürs Leben mit den Wohltaten und ätherischen Fluiden des Waldes imprägniert hat – ein bisschen so wie Obelix, der als Kind in den Zaubertrank gefallen ist. Das ist leider nicht so. Doch was einem bleibt, ist eine unmittelbare, nicht romantische, nicht konstruierte, sondern ganz kreatürliche Sehnsucht nach Wald und Bäumen. In jeder Stadt, in der ich mich für ein paar Tage aufhalte – Wien, Zürich, Triest, Budapest –, zieht es mich bald die Hügel hinauf in die Waldgebiete. Oder wo das nicht möglich ist, in Parks: Buttes Chaumont oder Bois de Boulogne, Englischer Garten oder Central Park.

 

Beim Waldbaden, wie bei Naturheilmethoden, bei Yoga oder Meditation, gibt es unterschiedliche Schulen, mal mehr, mal weniger esoterisch oder spirituell ausgerichtet. Mit ihrem Buch Eintauchen in den Wald – Mit Waldgängen gelassen und glücklich werden und dessen klaren und nüchtern-poetischen Beschreibungen ihrer eigenen Streifzüge ist die in Deutschland lebende Japanerin Miki Sakamoto vor drei Jahren so etwas wie eine Stimme der Bewegung geworden.

 

 

Waldbaden kann therapeutisch eingesetzt werden

 

Ein tatsächlicher Experte, der das Waldbaden im Programm des Medical Park Chiemseeblick in Bernau am Chiemsee auch selbst therapeutisch einsetzt, ist Prof. Dr. med. Andreas Menke. Spricht man mit ihm, erfährt man Erstaunliches über die Wirkung von Wald – selbst in kleinsten Dosen. Waldbaden definiert er als „Eintauchen in den Wald mit allen fünf Sinnen. Im Vordergrund stehen Entspannung und Achtsamkeit. Es ist nicht gemeint, dass Sie durch den Wald joggen, sondern dass Sie sich wirklich bewusst im Wald befinden und ihn achtsam aufnehmen.“ Das können Achtsamkeitsübungen, etwa zur Atmung, unterstützen.

 

„Die Datenlage“, sagt Menke, „ist da eindeutig. Es wurden seit den 80er-Jahren viele Studien gemacht. Und selbst ganz ohne ausgefeiltes Waldbaden-Konzept, wie wir es einsetzen, hat man beim Vergleich von Menschen, die sich einfach im Wald befinden oder die durch die Stadt laufen, gesehen, dass der Aufenthalt im Wald viele Vorteile bringt. Vorteile – oder Effekte – heißt: Senkung des Blutdrucks, Senkung der Herzfrequenz und Senkung des Cortisolspiegels. Und Normalisierung des Immunsystems, also zum Beispiel bestimmte Killerzellen, die aktiviert werden.“ Wirklich überraschend ist, dass solche Effekte – wenn auch in geringerem Ausmaß – sogar auftreten, wenn der echte Duft des Waldes einen Raum durchzieht, Probanden eine Holzfläche berühren (die allerdings nicht lackiert sein darf) oder sogar, wenn ihnen nur das Bild eines Baumes oder Waldes gezeigt wird.

 

 

Waldbaden bei Angststörungen, Depressionen und ADHS

 

Solche Wirkungen sind natürlich für jede und jeden erfreulich. Als Therapie wendet Prof. Dr. Menke Waldbaden aber auch bei gravierenden Problemen wie Angststörungen, Depressionen und ADHS oder in der Trauerbewältigung an. Bei den letzteren beiden mit der Einschränkung, dass zuvor abgeklärt wird, ob der Wald im Einzelfall wirklich die richtige Therapie ist. Bei den anderen Indikationen und selbst bei psychotischen Störungen zeigen Studien eindeutige Verbesserungen durch das Waldbaden. Die Patientinnen und Patienten gehen hier in Gruppen in den Wald. Schlendern, Rasten, aber auch Übungen zum Sehen, Hören, Erspüren und Riechen des Waldes, finden während des mehrstündigen Besuchs unter Bäumen statt.

 

Im „Wald-Solo“, allein in der Wahrnehmung mit allen Sinnen, erleben sie, wie sich binnen Minuten ihre Eindrücke vom Wald verändern, sich erweitern und zugleich feiner und tiefer werden. Und in der „Waldgarderobe“ können sie am Ende des Aufenthalts entscheiden, was sie von dem, was sie gedanklich zu Beginn dort „aufgehängt“ haben, nun wieder aus dem Wald in die Welt mitnehmen wollen – und was nicht. Gestärkt kommen fast alle zurück. Und wenn schon die Gegenwart eines einzelnen Baumes, ja allein ein Dufthauch von Wald oder das Berühren eines Stückes Holz uns wohltut, dann sind wir vielleicht wirklich Waldwesen – und unsere romantischen Schwärmereien für den Wald doch echte Liebe.

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