3. Januar 2024

Margit Hiebl

Schmerz lass nach! Wie Schmerztherapie hilft 

Nichts ist so persönlich wie Schmerz. Jede:r empfindet ihn anders. Über neurologische Hintergründe, Schmerzpsychologie, Linderung chronischer Beschwerden und revolutionäre Methoden der Schmerztherapie

@ Karatara

Treffen sich Zeh und Stuhlbein ist Schmerz eine ziemlich klare Sache. Doch was, wenn man den Schmerz nicht so genau zuordnen kann? Und das über Jahre? Ist das nur eingebildet, wie viele sagen? Allerdings: Rund 12 Millionen sind in Deutschland davon betroffen.

 

Laut der Deutschen Schmerzgesellschaft entstehen so Kosten von jährlich etwa 38 Milliarden Euro – davon allein 10 Milliarden für Behandlungen, der Rest wird durch Krankengeld, Arbeitsausfall und Frühberentung verursacht.

 

Neue Lösungsansätzen im Umgang mit chronischen Schmerzen

 

Dr. Claudius Gall, Facharzt für Neuro- chirurgie, gehört mit seiner Zusatz-bezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“ zu den wenigen Spezialisten in Deutschland auf diesem Gebiet. In der „Schmerzwerkstatt“ in München beschäftigen er und seine Kollegen sich mit den Hintergründen und neuen Lösungsansätzen im Umgang mit chronischen Schmerzen.

 

 

Was ist eigentlich Schmerz?

Schmerz ist zunächst eine „Wahr-nehmung“. Das heißt, jeder Schmerz ist echt – es gibt keinen eingebildeten Schmerz. Denn der Körper ist überall mit Ausnahme des Gehirns mit Schmerzfasern versorgt. Werden diese – durch was auch immer – angeregt, kommt es zu Schmerzen. Es gibt aber zwei unterschiedliche Mechanismen, die zur Empfindung von Schmerzen führen: den akuten und den chronischen.

 

Was ist dabei der Unterschied?
Akut heißt: Hand auf heiße Herdplatte. Bei der Gewebezerstörung werden elektrische Impulse freigesetzt und landen über die Leitung Rückenmark – Gehirn im Bewusstsein. Ein chronischer Schmerz entsteht durch eine Fehlsteuerung bestimmter Nerven und kann sich als Folge eines akuten Schmerzerlebnisses entwickeln.

 

Klassisches Beispiel ist der Phantomschmerz, der etwa bei einem nicht mehr vorhandenen Kniegelenk bei Wetterwechsel wehtut.

 

Ein chronischer Schmerz entsteht durch eine Fehlsteuerung bestimmter Nerven

 

Wie erkennt man chronischen Schmerz?

Das ist Schmerz, der in der gleichen Region länger als 6 Monate andauert und mindestens eine mittelschwere Intensität hat. Chronische Schmerzen führen zudem in allen Bereichen zu Nebeneffekten: Sie wirken sich auf den Schlaf-Wach-Rhythmus, die Stimmungslage und auch auf die Libido aus.

 

Somit wird der chronische Schmerz zu einer eigenständigen Erkrankung – die körperliche Elemente auf Nervenzellebene hat, aber auch in ganz viele andere soziale, private und berufliche Bereiche eingreift. Unsere Aufgabe in der Schmerztherapie ist es herauszufinden, in welchem Verhältnis akuter und chronischer Schmerz stehen, denn beide müssen ganz unterschiedlich behandelt werden.

Dr. Claudius Gall, Facharzt für Neurochirurgie

Dr. Claudius Gall, Facharzt für Neurochirurgie

Welche Unterschiede gibt es in der Behandlung?
Beim akuten Schmerz ist eine kausale Therapie entscheidend: Bei einer Fraktur wird ein Gips angelegt, und sobald sie geschlossen ist, hört der Schmerz auf. Chronifiziert der Schmerz, braucht man eine sogenannte Multimodale Schmerztherapie – eine individuelle Kombination verschiedener Therapiebausteine.

 

Wie ordnen Sie chronischen Schmerz ein?
Bei uns müssen alle PatientInnen zunächst den Deutschen Schmerz-Fragebogen ausfüllen – eine Art Vorscreening. Der fragt Schmerzstärke, Depressivität, Anspannungsgrade und eine ganze Reihe von Faktoren im sozialen Kontext ab. Die entscheidende Erhebung ist aber die persönliche Anamnese, also das persönliche Erstgespräch, das zwischen 45 und 50 Minuten dauert. Dafür muss man sich Zeit nehmen, um einzuordnen und zu verstehen.

 

Inwiefern verstehen?
Mal so ausgedrückt: In der deutschen Sprache gibt es die Unterscheidung zwischen Schmerz und Leid. Chronifiziert der Schmerz, wird er zu einem Leid und einem Leiden. In dieser Begrifflichkeit steckt drin, dass der ganze Mensch an dieser Symptomatik zu leiden beginnt.

 

Schmerz hat auch immer eine Angstkomponente – denn man weiß ja oft erst mal nicht, was die Ursache für diesen Schmerz ist. Man fühlt sich nur bedroht und verwundbar. Eine richtige Diagnose hilft also nicht nur, die passende Therapie zu finden, sondern dient auch dazu, den Patienten die Angst zu nehmen.

 

Schmerz hat auch immer eine Angstkomponente

 

Wie sieht die Multimodale Schmerztherapie aus?
Die erste Säule sind klassische Schmerzmittel, die Analgetika. Beim modernen Ansatz ist das eine Kombination aus verschiedenen Substanzen, die einzeln in der Dosis niedrig, aber zusammen sehr effektiv sind, bei eben geringeren Nebenwirkungen. Dazu gibt man Co-Analgetika, die selbst keine Schmerzmittel
sind, aber die Wirkung von Schmerz-mitteln fördern, zum Beispiel bestimmte Antidepressiva.

 

Und was sind die weiteren Bausteine?

Die zweite Säule sind bewegungstherapeutische Ansätze. Dabei geht es am Anfang für die Patienten darum, sichere Bewegungsrahmen abzustecken, innerhalb derer sie sich bewegen können, ohne dass die Schmerzen zunehmen. Wenn ich chronische Schmerzen habe, ist das eine Beziehungskrise von Körper und Gehirn.

 

Denn normalerweise spüren wir den Körper ja gar nicht. Schmerzpatienten hingegen spüren ihn permanent. Und das Erste, um diese Beziehungskrise zu lösen, ist zu sagen: Okay, lernt euch doch mal neu kennen.

 

Das bin ich. Der Schmerz, das bin ich. Meine Seele oder meine Psyche. Und wir beide müssen jetzt versuchen, in irgendeiner Weise zu existieren. Die dritte Säule ist dann Schmerz-Psychotherapie. Hier geht es darum, Stressoren zu ermitteln und zu gucken, wie man mit Schmerz anders umgehen kann. Denn oft ist Schmerz auch Ausdruck von Stress und der damit verbundenen Anspannung, die wiederum Schmerzen verstärkt.

 

Wenn ich chronische Schmerzen habe, ist das eine Beziehungskrise von Körper und Gehirn

 

 

@ Anna Shvets

Welche Möglichkeiten gibt es noch?

Sind bei Rücken- und Beinschmerzen konservative Verfahren ausgeschöpft, gibt es seit einigen Jahren die Möglichkeit der Neuromodulation. Das wichtigste Verfahren ist die sogenannte Rückenmarkstimulation. Dabei wird ein kleiner Impulsgeber mit Elektroden unter die Haut implantiert. Diese liegen dem Rückenmark und damit der Schmerzbahn auf.

 

Durch elektrische Störsignale wird die Schmerzweiterleitung in der Schmerzbahn reduziert – so erzielen wir bei 70 Prozent unserer PatientInnen eine Halbierung der Schmerzen. Gesteuert wird das vom Patienten mit einer kabellosen Fernbedienung – so gewinnt er auch die Kontrolle über seine Schmerzen.

 

Da wird sich in absehbarer Zukunft noch einiges tun – etwa dass die Systeme die Parameter selbst messen und steuern. Auch im Bereich der chronischen Migräne gibt es Neues: Zum einen Triptane, die bei einem akuten Anfall in den Blutgefäßen im Gehirn wieder eine normale Gefäßweite herstellen. Oder eine Impfung, die dem Rezeptor Antagonisten zuführt – Stoffe, die ähnlich den körpereigenen an bestimmten Stellen  in den Gefäßen andocken und so den Durchmesser stabilisieren – aber über einen längeren Zeitraum.

 

Gibt es eigentlich Unterschiede in der Schmerzwahrnehmung?
Ja, große. Denn die Frage ist immer: Wie große Ressourcen hat ein Mensch, mit Schmerz umzugehen? Hat jemand durch private oder berufliche Probleme und Stress viel von seiner psychischen Energie verbraucht, wird ihn das härter treffen, als jemanden, der sich in einem stabilen Umfeld befindet.

 

Und natürlich ist der Umgang mit Schmerz auch kulturell geprägt. In Nordeuropa gilt noch die Devise „ein Indianer kennt keinen Schmerz“ – das ist in südlichen Ländern anders. Da muss der Schmerz raus mit Weinen und Schreien. Das heißt, wir müssen immer die Lebenssituation und den Hintergrund der Menschen mit einbeziehen.

 

Die Frage ist immer: Wie große Ressourcen hat ein Mensch, mit Schmerz umzugehen?

 

Sind Männer schmerzempfindlicher als Frauen?
Ich glaube nicht. Frauen begeben sich aber eher in ärztliche Behandlung und sind offener für Perspektivenwechsel. Bei Männern gelingt das oft über die Verbindung zum Schlaf. Wenn man den signifikant verbessern kann, macht das bei ihnen eine Tür zum Schmerz-Schloss auf.

 

Ich sage dann immer, der Patient selbst bewohnt nur einzelne Räume in diesem Schmerz-Schloss und hat vor bestimmte Türen ein Vorhängeschloss gemacht und den Schlüssel weggeschmissen. Er will da nicht mehr rein. Aber vielleicht liegt da ja ein Schlüssel zu dem Zimmer, wo der Schmerz hergekommen ist.

 

Welche „Tricks“ haben Sie noch auf Lager?
Ich schlage einen Deal vor: Du gibst mir deinen Schmerz durch diese oder jene Therapie, dafür kriegst du Schmerzfreiheit oder zumindest Linderung. Für manche Patienten ist es aber leichter, den Schmerz zu behalten. Wenn er zum Beispiel Ausdruck einer posttraumatischen Belastungsstörung nach sexuellem Missbrauch in jungen Jahren ist. Dann wird mir diese Patientin den Schmerz nicht geben – wenn ich ganz gut bin, habe ich sie in einem halben oder Dreivierteljahr aber so weit, dass sie eine entsprechende Psychotherapie macht.

 

Lassen sich chronische Schmerzen komplett wegtherapieren?
Unser primäres Behandlungsziel ist eine Verbesserung der Lebensqualität. Natürlich kann ich einen Patienten mit Schmerzmitteln so zubomben, dass er oder sie nur mehr in der Ecke liegt. Dann hat er zwar keine Schmerzen mehr, aber auch keine Lebensqualität. Wir versuchen in der Therapie, den Schmerz zu reduzieren und nicht zu viele Nebenwirkungen auszulösen, die unangenehmer sein können als den Restschmerz zu ertragen.

 

Unser primäres Behandlungsziel ist eine Verbesserung der Lebensqualität

 

Und es geht auch um einen Perspektivenwechsel: Ich möchte den Blick von einem halbleeren Glas in ein halbvolles umwandeln. PatientInnen vergleichen sich mit dem Zustand vor 20 Jahren – ich als Arzt und Therapeut vergleiche sie mit Gleichaltrigen. Auch wichtig: Die Beschwerden müssen akzeptiert werden, dann kann man den PatientInnen auch beibringen, Schritt für Schritt wieder selbstwirksam zu werden. Aber dafür braucht man Zeit.

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