19. April 2024

Bernd Skupin

Die heilende Kraft der Musik

Mozart oder Metal? Medizin nach Noten. Denn Musik heilt Körper und Seele – fast ohne Nebenwirkungen

@ Cottonbro Studio

ER HAT ES VERSUCHT. André Benjamin, als André 3000 die eine Hälfte des Duos OutKast, und mit Titeln wie „Hey Ya!“ oder „Ms. Jackson“ einer der erfolgreichsten Hip-Hop-Musiker aller Zeiten, wollte es noch einmal wissen: „Ich schwöre, ich wollte wirklich ein Rap-Album machen, aber der Wind hat mich dieses Mal buchstäblich woandershin geweht“ lautet übersetzt der selbstironische Titel des ersten Stücks auf seinem jüngsten Album New Blue Sun, das erste seit 17 Jahren.

 

Schon zuvor hatte er gefragt, worüber er mit 48 denn bitte noch rappen solle, vielleicht darüber, dass es Zeit für eine Prostatauntersuchung wird? Stattdessen bläst er auf den acht Tracks des neuen Werks unaufgeregt zarte Melodien auf verschiedenen Flöten, inspiriert von relaxtem Jazz und Minimal Music.

 

Das klingt nicht unbedingt spektakulär, hat aber Charme – und für André 3000 eben auch eine therapeutische Qualität. Er sei bei den Aufnahmen ganz im Moment gewesen, erzählt er, und er habe sie als Entdeckungen in Echtzeit wahrgenommen – lebendig, atmend und improvisiert.

 

Musik als etwas Heilendes zu begreifen, liegt im Trend. In den vergangenen Jahren ist sogenannte „Healing-Music“ immer beliebter geworden – sphärische, spirituell angehauchte Instrumentalklänge, an denen sich auch schon Stars wie Moby, Alanis Morisette und Sufjan Stevens versuchten.

 

Musik als etwas Heilendes zu begreifen, liegt im Trend

 

Andererseits soll Musik schon seit Urzeiten zur Genesung von Körper und Seele beitragen, von Schamanengesängen bis zu christlichen Hymnen. Und auch jenseits von Esoterik, Spiritualität und der Klangschalenszene gibt es wissenschaftlich gut erforschte Wirkungen und probate Therapien durch und mit Musik bei neurologischen, psychologischen und körperlichen Problemen.

 

Professor Dr. Andreas Menke, Ärztlicher Direktor und Chefarzt im Medical Park Chiemseeblick, einer Fachklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, ist es ein Anliegen, diese beiden Bereiche klar zu trennen: „Man kann sich natürlich für ein Wochenende in ein Wellness-Hotel zurückziehen und sich da vielleicht zu bestimmten Klängen entspannen. Das mag sehr nett sein, aber es erfüllt keinen medizinischen Anspruch.

 

Bei der tatsächlichen Musiktherapie gibt es zwei Wege. Entweder musizieren die Patienten selbst, und das ist meist ein Improvisieren. Es geht ja nicht darum, ein Instrument zu beherrschen, sondern einfach darum, etwas damit zu machen.

 

Die Wirkungen von Musik und Musiktherapien sind vielfältig und klingen erstaunlich

 

Oder man bekommt ein Musikstück vorgespielt, was dann zu einer gewissen emotionalen Reaktion führen soll. In beiden Fällen ist aber wichtig, dass die Musiktherapie von jemanden mit professionellem Hintergrund durchgeführt wird, also von einer Person, die eine entsprechende Ausbildung hat und qualifiziert ist, diese Therapie anzubieten.“

 

Die Wirkungen von Musik und Musiktherapien sind vielfältig und klingen erstaunlich. Ein kleiner Auszug: Nach einem Schlaganfall soll das Hören der Lieblingsmusik die Rehabilitation fördern, und das Klavierspielen kann helfen, verlorene Feinmotorik wiederzugewinnen. Durch Singen können Patienten mit Sprachstörungen ihre Sprachflüssigkeit verbessern.

 

Auf Parkinson-Patienten hat rhythmische Musik scheinbar einen stimulierenden Effekt. Die Rhythmen wirken vermutlich als externe Taktgeber auf die motorischen Regionen. Eine ähnliche Beobachtung machte Professor Harald Schachinger, bis 2004 Chef der Frühgeborenenstation am Berliner Waldkrankenhaus sogar an Frühchen. Er spielte seinen kleinen Patienten über Kopfhörer speziell ausgewählte Musiktitel vor und musizierte gelegentlich auch selbst für sie auf dem Cello.

 

Auf Parkinson-Patienten hat rhythmische Musik scheinbar einen stimulierenden Effekt

 

Mit Musik, so berichtete er, wurde ihr Herzschlag wesentlich stabiler und gleichmäßiger. Hat die Musik das richtige Tempo, gibt es einen Kopplungseffekt: Der Herzschlag passt sich dem vorgegebenen Rhythmus an.

 

Es liegen auch Untersuchungen vor, die dafür sprechen, dass Musiktherapie bei Autismus hilfreich sein kann. Viele Autisten verfügen über ein gutes Gehör und musikalische Fähigkeiten. Über das Medium Musik sind sie in der Lage, ohne Worte Gefühle auszudrücken und eine Beziehung zu Mitmenschen aufzubauen.

Häufig wird über die positiven Auswirkungen von Musik bei Alzheimer-Patienten berichtet. In manchen Fällen kann sie der einzige Zugang zu ihnen sein, vor allem wenn sie keine Sprache mehr verstehen. Nach einer Therapiestunde sind sie oft ausgeglichener und entspannter.

 

Musiktherapeuten kommen teilweise auch zu den Menschen nach Hause, ins Heim oder ins Krankenhaus und singen altbekannte Lieder für sie. Darüber hinaus gibt es inzwischen auch andere musikalische Angebote speziell für Alzheimer-Patienten, wie etwa Konzerte oder Tanzcafés. Und nicht zuletzt wird Musik auch in der Psychologie und Psychiatrie eingesetzt. So kann sie etwa Ängste verringern oder Depressionen mildern.

 

Doch wie schafft Musik das alles? Worin liegen ihre Kräfte und ihr Geheimnis? Was macht sie zu einer so heilsamen und nahezu nebenwirkungsfreien Medizin nach Noten? „Musik“, erklärt Professor Dr. Menke, „wird durch drei Dinge definiert: Melodie, Harmonie und Rhythmus. Diese drei zusammen erbringen eine Wirkung, die auch tatsächlich auf der Gehirnebene messbar ist. Natürlich kann auch schon ein Rhythmus allein etwas bewirken.

 

„Bei einer positiv interpretierten Musik erfolgt zum Beispiel eine Dopaminausschüttung“

 

Wenn Sie in einen Club gehen oder in ein Konzert, und da ist dieser Rhythmus, dann fängt plötzlich ihr Körper an sich ein bisschen zu verselbstständigen, oder man wippt mit dem Fuß.“ Und er fährt fort: „Zuerst erreicht Musik den auditorischen Cortex. Dann geht sie ins limbische System, und da haben Sie verschie-dene Wirkungen. Bei einer positiv interpretierten Musik erfolgt zum Beispiel eine Dopaminausschüttung.

 

Das heißt, wenn Sie sich Musik anhören, die Sie mögen, dann tut Ih-nen das gut. Und sie hat übrigens auch eine stresslindernde Wirkung. Wenn Sie einen anstrengenden Tag hatten, dann können Sie stressreduzierende Maßnahmen, also Entspannungs- und Achtsamkeitsverfahren anwenden oder eben Musik hören. Musik hat die gleiche Wirkung, der Spiegel des Stresshormons Cortisol sinkt, Puls und Herzfrequenz gehen runter, das gesamte Stresshormonesystem normalisiert sich.

 

Sie können das auch noch mit sozialen Interaktionen verknüpfen, zusammen musizieren, singen oder tanzen. dann haben Sie auch noch eine Oxytocin-Ausschüttung, die eine Art Bonding, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit produziert, also ein richtiges Wohlgefühl.“

 

Mozart passt nicht für jeden. Manchmal muss es vielleicht Metal sein

 

Professor Menke weist auch darauf hin, dass nicht jede Musik bei allen die gleichen Resultate zeigt. Mozart passt nicht für jeden. Manchmal muss es vielleicht Metal sein. „Diese positive Wirkung, dass Sie sozusagen das Belohnungssystem anwerfen, die hängt mit dem eigenen Musikgeschmack zusammen. Und der ist von verschiedenen Dingen geprägt, von der Kindheit, Jugend, von der sozialen Erziehung, vom Umfeld, sicherlich auch von der Genetik“, meint er dazu.

 

„Und es gibt auch Menschen, die mit Musik gar nichts anfangen können – nicht viele, aber es gibt sie. Man konnte feststellen, dass bei ihnen ie Verbindung des auditorischen Cortex mit dem ganzen limbischen System im Gehirn, das ja für die Gefühlswelt ver-antwortlich zeichnet, tatsächlich nicht gut ausgebildet ist.“

 

Diese Verbindung scheint aber essenziell zu sein – auch für die Musiktherapie, wie sie in Menkes Medical Park Chiemseeblick praktiziert wird. „Die Musiktherapeutinnen und -therapeuten musizieren und singen auch mit den Patienten. Das heißt, sie lassen sie improvisieren, sei es auf dem Klavier, auf Schlaginstrumenten oder auf der Gitarre. Auf diese Weise versuchen sie mit den Emotionen der Patienten zu arbeiten.

 

Musiktherapie ist eine sehr gute Ergänzung zur Psychotherapie, die ja distanzierter ist. Da sitzt man sich in einer Art Interviewsituation gegenüber. Aber bei der Musiktherapie geht es halt ans Eingemachte, direkt an die Gefühlswelt.“ Und er fährt fort: „Wenn Sie sich an bestimmte Momente Ihres Lebens erinnern, dann sind die manchmal auch mit Musik verknüpft. Das heißt auch umgekehrt, wenn Sie diese Musik hören, dann erinnern Sie sich an gewisse Momente. So funktioniert ja auch unser Gedächtnis.

 

„Musiktherapie ist eine sehr gute Ergänzung zur Psychotherapie“

 

Je mehr Emotionen mit im Spiel sind, desto besser wird etwas erinnert. Aber natürlich kann jede Musik unterschiedliche Wirkungen haben. Wenn Sie eine Musik hören, die biografisch mit einer sehr traurigen oder mit einer sehr aversiven, angstbesetzten Situation in Zusammenhang steht, dann wird diese Gefühlswelt wieder angekurbelt, und die gleichen Gefühle kommen wieder. Das kann man in der Therapie dann auch angehen.

 

Umgekehrt kann eine traurige Musik, die Sie aber biografisch mit einer sehr schönen Situation in Verbindung bringen, auch Wohlbefinden und Glücksgefühle auslösen.“ Wie kaum etwas anderes aus der Außenwelt sendet uns die Musik also Botschaften in unser tiefstes Innerstes, interagiert mit Gefühlen und Hormonen, der Gehirnchemie und bestimmten Körperreaktionen.

Und die Musiker selbst? Wie sieht es bei den Profis aus? Müssten sie nicht wahre Weise sein, im Einklang mit sich und ihren Emotionen, psychisch und physisch von eiserner Gesundheit? 1972 gab der damals 29-jährige Mick Jagger dem amerikanischen TV-Moderator Dick Cavett ein Interview. Cavett fragte ihn, ob er sich vorstellen könne, auch mit 60 noch auf die Bühne zu gehen, eventuell am Krückstock?

 

Letzten Herbst waren die Rolling Stones in Deutschland auf Tournee. Beschwerden aus dem Publikum über eine mangelnde Beweglichkeit Jaggers, inzwischen 80, und seiner mehr oder weniger gleichaltrigen Bandkollegen wurden nicht vernommen. Für dieses Jahr sind weitere Stones-Konzerte angekündigt.

 

Das provoziert natürlich die Frage, ob das Leben als Musiker oder Musikerin ein Jungbrunnen ist, zumindest wenn man nicht zum berüchtigten „Club 27“ zählt, der Riege von Pop- und Rock-Stars, die – oft infolge von Drogenmissbrauch – mit 27 Jahren starben. Neben dem Rolling Stone Brian Jones zählen dazu als be-rühmteste Beispiele Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison, Kurt Cobain und Amy Winehouse.

 

„Studien zeigen, dass berühmte Popmusiker eher kürzer leben als die Allgemeinbevölkerung“

 

Was ist, wenn diese Klippe erst einmal umschifft wurde? Bescheren einem Pop, Rock und Hip Hop dann ein langes und glückliches Leben? Professor Menkes Antwort darauf fällt leider ernüchternd aus: „Es gibt natürlich diese Ausnahmetalente wie Udo Lindenberg oder die Stones, die jetzt schon älter sind und immer noch topfit. Aber Studien zeigen, dass berühmte Popmusiker eher kürzer leben als die Allgemeinbevölkerung.

 

Da gibt es psychische Erkrankungen, Suizide, extensiven Drogenmissbrauch, dazu kommen noch Unfälle und auch Mord. Das ergibt eine brisante Mischung. Ein be-rühmter Popmusiker zu sein, ist nicht unbedingt gesund.“ Für die Klassik liegen zwar keine vergleichbaren Untersuchungen vor, gewisse Risiken macht Menke aber auch bei ihr aus:

 

„Das sind ja Menschen, die permanent im Rampenlicht stehen, immer unter einem gewissen Druck, gut zu performen. Da muss jeder Ton sitzen. Und ständig perfekt sein zu müssen oder zu wollen, ist nicht gut für die Psyche. Ein hoher Anteil unserer Patientinnen und Patienten sind Perfektionisten. Das führt dazu, dass sie natürlich im Beruf sehr erfolgreich sind. Aber oft geht es irgendwann einfach nicht mehr weiter, und dann drohen Burnout und Depressionen.“

 

Möglicherweise war also die Entscheidung von André 3000, statt ein Rap-Comeback zu starten lieber ein entspanntes Album mit Flötentönen aufzunehmen, sich seinem Lieblingsinstrument hinzugeben und von ihm führen zu lassen, auch einfach eine ziemlich gesunde Wahl.

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