Intuition: Warum wir öfter auf unser Bauchgefühl hören sollten

Treffen wir Entscheidungen eher rational oder emotional? Wer seiner inneren Stimme vertraut ist langfristig zufriedener

©Blaublut Edition

Sie begegnet uns jeden Tag und wir nutzen sie wahrscheinlich häufiger als uns das bewußt ist oder wir uns das eingestehen. Ob bei der Wahl der Mittagsmahlzeit in der Kantine, im Sport oder bei der Planung der nächsten Karriereschritte. Bei den meisten großen oder kleinen täglichen Entscheidungen ist Intuition unsere heimliche Begleiterin. Zahlreiche Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass intuitiv gefällte Entscheidungen häufig zufriedener machen, erklärt der Regensburger Neurologe und Psychiater Prof. Dr. Volker Busch.

 

Ist denn Intuition tatsächlich das sprichwörtliche Bauchgefühl?

 

Im Sprachgebrauch verwenden wir es meist gleichwertig. Akademisch betrachtet ist Bauchgefühl eher ein oberflächliches, schnelles Gespür. Intuition hingegen ist echtes Erfahrungswissen. Eine innere Betrachtungsweise, die uns entscheiden lässt, ob etwas gut oder schlecht für uns ist. Das ist gewachsener und viel tiefer.

 

Wie entsteht Intuition?

 

Die wesentlichen Aufgaben des menschlichen Gehirns sind: mit den Sinnen die Umwelt zu erfassen, die gewonnenen Eindrücke zu speichern, Prognosen aufzustellen und aus all dem sinnvolle Handlungen abzuleiten. So baut es im Laufe des Lebens einen gewaltigen Erfahrungsschatz auf. Wie eine riesige Bibliothek. Der Archivar ist der Hippocampus, er legt das Karteisystem an. Nach allem, was wir wissen, läuft ein intuitiver Prozess dann so: In der jeweiligen Lebenssituation wird geprüft, ob es in der Vergangenheit etwas Ähnliches gab. Die Ergebnisse werden dann unter anderem an den präfrontalen Cortex gegeben – hier werden Entscheidungen getroffen. Wird etwas als bekannt identifiziert, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die neue Situation damit verglichen und die Erfahrung reaktiviert wird und sich daraus dann eine Handlung ableitet. Bis ins letzte Detail ist das aber noch nicht erforscht.

 

Verfügt denn jeder Mensch darüber?

 

Es gibt keinen Menschen, der keine Intuition hat, da wir alle rund um die Uhr Erfahrungen machen und unser Gehirn darauf programmiert ist, sie zu speichern und zu bewerten. Aber natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Menschen. Und im Alter oder bei Demenz kann sie etwas verloren gehen – dann sind zwar die Erfahrungen noch da, nur ist das Karteikartensystem kaputt gegangen und man findet nichts mehr auf Anhieb.

 

Es heißt, Intuition sei typisch weiblich, stimmt das?

 

Vermutlich hängt das damit zusammen, dass wir die Intuition in verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich zulassen: Geht es ums Business, wird sie gerne geleugnet. In Sachen Liebe oder im Privaten sind wir eher bereit zuzugeben, dass wir uns nicht auf Fakten verlassen haben. Ich glaube, Intuition wird eher Frauen unterstellt, weil auch heute noch Businessentscheidungen häufig als männlich konnotiert sind, Entscheidungen, die mit Liebe und Gefühl zu tun haben, aber Frauen zugeordnet werden. Das ist weder fair noch richtig, denn auch Männer können sehr intuitiv entscheiden. Und bewiesen wurde es auch nie. Was aber durchaus stimmt: Frauen bekennen sich mehr dazu, intuitiv entschieden zu haben.

 

 

 

Sollte man im Business nicht auch öfter Intuition nutzen?

 

Ja und Nein. Ja, wenn die Situation zu komplex wird. Denn ab einer bestimmten kritischen Masse von Argumenten scheinen wir vom Verstand her auszusteigen. Dann ist es besser, die Komplexität zu reduzieren und zu sagen: Weg mit den ganzen Zahlen und Fakten! Lass uns mal in uns hineinspüren. Was kennen wir aus der Vergangenheit, was tut uns gut?

 

Und was spricht dagegen?

 

Intuition ist immer dann gut, wenn wir in Situationen kommen, die den Erfahrungen aus der Vergangenheit ähneln. In einer Welt, wie sie derzeit ist, die uns ständig vor neue Probleme stellt, die wir so noch nicht hatten – Stichwort Lieferengpässe, Corona, Klimawandel –, da nützt uns ein Bauchgefühl aus einer Situation aus den 1990er-Jahren möglicherweise wenig. Aus alten Erfahrungen kommen nicht immer gute Entscheidungen für neue Entwicklungen. Für neue Probleme braucht man neue Lösungen, die man sich besser über Fakten besorgt.

 

„Intuition ist immer dann gut, wenn wir in Situationen kommen, die den Erfahrungen aus der Vergangenheit ähneln“

 

Wann sollte man seiner Intuition misstrauen?

 

Wenn zu viele Gefühle im Spiel sind. Wut, Traurigkeit, aber auch himmelhochjauchzende Euphorie können einem den Blick vernebeln. Dann lieber eine Nacht drüber schlafen, bis sich die Emotionen heruntergekühlt haben. Steht man dann immer noch zu der Entscheidung, wird die innere Stimme wieder hörbarer.

 

Gibt es auch körperliche Signale?

 

Den Herzschlag, die Schmetterlinge im Bauch, die Nackenhaare, die sich aufstellen – man nennt es somatische Markierung. Dadurch kommt ein Gespür so stark ins Bewusstsein, dass man es nicht mehr ignorieren kann. Das ist auch wahrscheinlich der Sinn dahinter: Damit wir Intuition nicht überhören, wird sie ab und zu körperlich markiert, so wird sie eindrücklicher.

 

Kann uns Intuition auch warnen?

 

Ja, wenn es in der Erfahrungsbibliothek einen entsprechenden Vermerk gibt. Berühmtes Beispiel: 1950 beim Grand Prix in Monaco fuhr der Formel-1-Pilot Juan Manuel Fangio in den Tunnel. Doch statt wie üblich Vollgas zu geben, bremste er ab. Erst Hunderte Meter weiter sah er einen Unfall, in den mehrere Wagen verwickelt waren. Warum hatte er also so früh gebremst? Die Situation war anders als gewohnt – das hatte ihm sein Gehirn gemeldet. In seiner Erfahrungsbibliothek stand, dass die Zuschauer immer auf die Fahrer, die aus dem Tunnel kamen, blicken – dieses Mal waren die Köpfe aber in die andere Richtung gedreht. Wäre er das erste Mal durch den Tunnel gefahren, hätte es vermutlich einen entsprechenden Vermerk in seiner Bibliothek nicht gegeben.

 

Ist Intuition erlernbar?

 

Ja, aber nur in Ansätzen. Jemand, der in seinem Leben so sozialisiert wurde, dass er Sicherheit über Argumente und Fakten bezieht, wird nicht zum Bauchmenschen. Aber er kann lernen, sich von Informationen etwas freizumachen und der inneren Stimme mehr Gehör zu verschaffen. Und üben, darauf zu hören. Dann merkt man schnell, dass das auch eine verlässliche Quelle sein kann und man es sich nicht immer schwer machen muss.

 

Lässt sich denn diese innere Stimme auch trainieren?

 

Es gibt keine spezielle Technik, sondern es muss die Bereitschaft da sein, Intuition zuzulassen. Dazu muss ich den feinen Kanal zwischen mir und meinen Erfahrungen öffnen.

 

„Damit wir Intuition nicht überhören, wird sie ab und zu körperlich markiert, so wird sie eindrücklicher“

 

Wie macht man das?

 

Erst mal den Lautstärkeregler des Lebens runterdrehen. Wir haben heute überall, ob an der Haltestelle oder in der Mittagspause, eine äußere Stimme, die uns mit irgend-was zumüllt. Selbst beim Spaziergehen im Wald hören viele ein Hörbuch. Wie soll da noch eine innere Stimme hochkommen? Schaffen Sie sich also immer wieder kurze Leerlaufphasen, in denen Sie auch offline sind. Und spüren Sie in sich hinein. Möglicherweise hören Sie dann andere Stimmen, die nörgeln, sich sorgen oder Sie antreiben. Die kommen aber aus dem Kopf. Zugegeben, zur Unterscheidung braucht man etwas Übung – doch die wahre, intuitive Stimme ist immer wohlwollend, nie kritisierend.

 

Was hilft noch?

 

Machen Sie viele neue Erfahrungen. Und zwar echte, keine virtuellen: Nur die Dinge, die wir selbst erleben und in die wir aktiv eintauchen, hinterlassen tiefe Erinnerungsspuren. Dann stellt der Hippocampus neue Bücher ins Regal und archiviert so den Rohstoff, aus dem die Intuition entsteht.

 

Was, wenn wir intuitiv falsch liegen?

 

Lernen Sie aus Ihren Fehlern! Nehmen Sie sich am Ende des Tages ein paar Minuten und gehen die relevanten Entscheidungen noch einmal in Ruhe durch. Was war meine Erwartung? Kam alles so wie gedacht? Wenn nein, woran könnte es liegen? Dieser Abgleich führt dazu, dass die Bücher in Ihrer Bibliothek an manchen Stellen umgeschrieben und so aktuell gehalten werden – ein Update. Fehler sind also auf dem Weg zur Expertise unvermeidbar. Sie sind nützlich, weil sie unsere Intuition verbessern – allerdings auch nur dann, wenn wir uns mit ihnen auseinandersetzen.

 

Gefährdet die digitale Welt unsere Intuition?

 

Ein Beispiel: Das erstaunliche Navigationstalent der Inuit durchs ewige Eis wurde schon im 19. Jahrhundert beschrieben. Sie gaben es von Generation zu Generation weiter – doch seit etwa 20 Jahren nutzen sie GPS-Systeme auf den Handys. Seither nehmen Unfälle bei den jungen Inuit zu, denn das Netz ist nicht immer stabil und Erfahrung wurde kaum aufgebaut. Forscher schätzen, dass das Orientierungswissen der Inuit in zwei Generationen verloren sein wird. Das gilt für uns alle. Erfahrungsbasierte Intuition ist urmenschlich und für unsere Spezies auch noch heute wichtig.

 

Hörtipp: Podcast von Prof. Dr. Volker Busch, „Gehirn gehört“

 

 

 

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