Warum uns der Wunsch nach Normalität krank macht

Nie zuvor war die Menschheit so gesund und zugleich so krank. Der Grund dafür liegt in unserem unnatürlichen Hang zu vermeintlicher Normalität, sagt der kanadische Wissenschaftler Dr. Gabor Maté

©Franck Gérard / Armateur.com

„Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS nehmen rasant zu“

Im ersten Moment klingt die These beinahe paradox, die der berühmte kanadische Arzt und Traumaforscher Dr. Gabor Maté in seinem neuen Bestseller Vom Mythos der Normalität“ (Kösel Verlag) aufstellt: Ausgerechnet in unserer gesundheitsfixierten, ja geradezu achtsamkeitsbesessenen Welt nehmen nicht nur chronische körperliche Leiden, sondern auch psychische Krankheiten immer mehr zu. Unzählige Studien belegen dies: In den Vereinigten Staaten leiden bereits 60 Prozent der Erwachsenen an einer chronischen Störung. Zwei Drittel aller US-Amerikaner nehmen regelmäßig mindestens ein Medikament. Bei jungen Menschen werden immer mehr Krebserkrankungen diagnostiziert, Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS nehmen rasant zu, genauso wie Adipositas weltweit. Sogar China ist erschreckend schnell im Zeitalter der Fettleibigkeit angekommen, beschreibt Maté. Und in Europa zählen psychische Leiden wie Depressionen oder Sucht zu den größten gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.

 

Doch was macht uns so krank? Dieser Frage geht der Experte für Themen wie Sucht, Stress und kindliche Entwicklung nach und kommt zu dem Schluss, dass es ausgerechnet unsere Vorstellung von Normalität selbst ist, die all diese Leiden nicht nur hervorbringt, sondern geradezu befeuert. Wobei normal gleichgesetzt wird mit gesund und natürlich. Dabei ist an unserer toxischen Kultur so gut wie nichts mehr natürlich.

 

Sie sagen, dass ausgerechnet das „Normale“ uns krank macht. Dass wir in einer toxischen Gesellschaft leben. Wie definieren Sie denn normal?

 

Als Arzt bin ich darauf trainiert, die Grenzen des Lebens zu verstehen. Es gibt etwa einen normalen Bereich des Blutdrucks. Ist dieser zu hoch, sterben Sie. Ist er zu niedrig, sind Sie ebenfalls in Gefahr. Genauso verhält
es sich mit der Körpertemperatur oder bestimmten PH-Werten. Hier gilt, was der Norm entspricht, ist gesund und natürlich. Ganz anders verhält es sich in unserer Gesellschaft. Was wir als normale Werte, Überzeugungen und Praktiken akzeptieren, ist schon lange nicht mehr gesund und natürlich.

 

Woran liegt das?

 

Das liegt daran, dass wir uns von unserer eigenen Natur entfremdet haben. Ich vergleiche uns gerne mit Tieren in Zoo. Wenn Sie das Verhalten eines Zebras oder Elefanten in Gefangenschaft studieren, werden Sie niemals die wahre Natur dieser Tiere verstehen. Genauso ist es mit uns Menschen. Wir haben vor fünf Millionen Jahren als Jäger und Sammler in kleinen Gruppen zusammengelebt. Oder nehmen sie den Homo sapiens, den gibt es ja auch schon seit 200.000 Jahren. In der Zeitrechnung haben wir also quasi bis vor fünf Minuten noch in der Natur als Minigruppe gehaust, in der jeder Einzelne nicht über-lebt hätte, wenn er sich egoistisch, isoliert, aggressiv oder gierig verhalten hätte. Die moderne Gesellschaft fördert jedoch genau diese Eigenschaften: übersteigerten Individualismus, Selbstsucht, Aggression und Konkurrenz. Und diese als völlig normal geltenden Untugenden machen uns krank. Wie bei den Tieren im Zoo.

 

Wie können wir zu unserer wahren Natur zurückkehren? Mal ganz abgesehen davon, dass wir immer mehr werden. die Menschheit wächst rasend schnell.

 

Wir werden rasant mehr und rücken physisch immer näher zusammen, gleichzeitig sind immer mehr Menschen emotional isoliert. In der westlichen Welt herrscht eine Epidemie der Einsamkeit. In den Vereinigten Staaten hat der Surgeon General, der sogenannte Chefmediziner, gerade einen Bericht über Einsamkeit veröffentlicht, der zu dem Schluss kommt, dass Einsamkeit ein großes Gesundheitsrisiko darstellt, vergleichbar mit dem Konsum von 15 Zigaretten am Tag. Es widerspricht eben unserer Natur.

 

„Die Ungleichheit wächst und wir verlieren zunehmend unser Gefühl für Verbindung und Gemeinschaft“

 

Aber zu Ihrer Frage: Wie können wir umkehren? Auch ich habe kein Patentrezept. Das Wichtigste ist zu erkennen, dass unser Leben eben nicht normal ist. Dass wir ein Problem haben. Dass es zwar im privilegierten Westen für einige Menschen wirtschaftlich sehr befriedigend läuft, aber auch hier wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer. Wir verlieren zunehmend unser Gefühl für Verbindung und Gemeinschaft.

 

Diesen Verlust der Bindung sehen Sie genauso in der Medizin, weil die westliche Medizin Körper und Geist getrennt voneinander betrachtet. Sie hingegen verfolgen einen holistischen Ansatz?

 

Auch hier haben wir verlernt, die ganze Person zu betrachten. Wenn Sie mit Multipler Sklerose oder rheumatischer Arthritis, mit Lupus oder Krebs zum Arzt gehen, wird der sich auf die physiologische Seite konzentrieren. Der Fortschritt der sogenannten Schulmedizin ist ja auch außerordentlich weit. Dennoch gibt es Studien, die zeigen, dass Frauen mit schwerem posttraumatischem Stress-Syndrom das doppelte Risiko für Eierstockkrebs haben. Dass Depressionen das Risiko für Brustkrebs deutlich erhöhen, genauso wie Stress und Traumata das für Multiple Sklerose und rheumatoide Arthritis. Sehen Sie sich Kanada an, mein Heimatland. Dort gibt es bei den indigenen Frauen überhaupt erst rheumatoide Arthritis seit der Kolonisation. Seitdem ist das Risiko für diese Frauen, schwer daran zu erkranken, um das Sechsfache gestiegen.

 

„Frauen mit schwerem posttraumatischem Stress-Syndrom haben das doppelte Risiko für Eierstockkrebs“

 

All diese Studien beweisen, dass wir Gefühle nicht vom Körper trennen können. Aber der durchschnittliche Arzt in der westlichen Hemisphäre erfährt wenig über diese Zusammenhänge. Und ich spreche hier nicht von Intuition oder spirituellen Weisheiten. Ich spreche von wissenschaftlich belegten Forschungsergebnissen.

 

Dann sollten Mediziner ihre Patienten immer zuerst nach ihren Lebensumständen und sonstigen Problemen fragen?

 

Wenn eine Patientin mit einem entzündeten Gelenk zu mir kommt, frage ich sie sicher nicht zuerst nach ihrer Familie. Aber sämtliche Studien zum Thema Stress oder Trauma zeigen zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen sehr harmoniebedürftigen Menschen, also Menschen, die das Glück anderer über ihr eigenes stellen, und bestimmten Folgeerkrankungen. Es wäre also geradezu fahrlässig, sie nicht nach ihrem seelischen Befinden oder der Familie oder ihrem Leben allgemein zu befragen.

 

Sie beschreiben in Ihrem Buch auch eine Kohärenz von Verdrängung und Sucht.

 

Sucht manifestiert sich in jedem Verhalten, bei dem eine Person eine vorübergehende Linderung oder Freude findet, dann zunehmend unter den negativen Konsequenzen leidet, aber nicht mehr aufhören kann. Man kann nach allem süchtig werden: Arbeit, Glücksspiel, Essen, Pornografie, Meditation, Internet … Nur dass die Sucht nicht das eigentliche Problem ist, sondern die Folge eines Mangels oder eines inneren Aufruhrs oder einer schwierigen Lebenssituation. Die Sucht ist der Versuch, das Problem zu lösen. Deswegen ist es entscheidend herauszufinden, warum jemand beginnt zu trinken oder zu hungern. Körper und Seele sind untrennbar. Alles ist eins.

 

Eigentlich ist das kein neuer Ansatz, oder?

 

Nein, schon Sokrates hat vor 2500 Jahren die Tugend der Achtsamkeit gepriesen. Und 1870 hat etwa der französische Neurologe Jean-Martin Charcot, der als Erster die Multiple Sklerose beschrieb, sie eine stressbedingte Krankheit genannt. Das Wissen darum ist nicht neu, nur haben wir heute zusätzlich die großen wissenschaftlichen Erkenntnisse.

 

Sie beschreiben zwei verschiedene Traumata, die uns widerfahren: das Trauma mit großem T und das mit kleinem t. Was genau bedeutet das und wie können wir sie vermeiden?

 

Der Begriff Trauma bedeutet Wunde, mentale Wunde. Und es gibt die schweren Traumata, ausgelöst durch einschneidende schlimme Ereignisse wie Missbrauch, eine furchtbare Scheidung oder Gewalt in der Familie. Im besten Fall geht man heute damit zu einem Psychologen und spricht darüber.

 

„In Summe sind die kleinen Wunden ebenso toxisch wie die großen“

 

Was in unserer Gesellschaft aber vernachlässigt wird, sind die Traumata mit kleinem t. Die alltäglichen kleinen Wunden, die wir uns auch unbewusst zufügen. Angefangen mit Mobbing oder Ignorieren oder indem wir unseren Kindern nicht die Liebe und Aufmerksamkeit geben, die sie brauchen, um zu wachsen und zu gedeihen. Je bewusster wir mit diesen Themen umgehen, je mehr Empathie und echtes Mitleid wir empfinden, desto mehr können wir diese Traumata vermeiden. In Summe sind die kleinen Wunden ebenso toxisch wie die großen.

 

Gerade beim Thema Erziehung hat man doch heute eher das Gefühl, dass Kinder heute ziemlich stark überbehütet sind. Man denke nur an all die Helikopter-Eltern.

 

Man kann ein Kind gar nicht überbeschützen. Man kann es schützen oder nicht schützen. Man kann ihm auch gar nicht zu viel Liebe zuteilwerden lassen. Wovon Sie sprechen, ist Kontrolle. Und das Bedürfnis, ein Kind in jeder Lebenslage zu kontrollieren, erwächst aus der Angst. Eine angstgesteuerte Erziehung ist natürlich nicht gut für ein Kind. Aber sie resultiert aus denselben vergifteten Ideen von „normal“ wie unsere anderen kranken Verhaltensweisen. Statt uns als Eltern selbst zu vertrauen, unseren Kindern etwas zuzutrauen und ihnen so Sicherheit zu geben und eine sichere Beziehung zu ihnen aufzubauen, versuchen wir alles von oben und außen zu steuern.

 

Aber ist das nicht alles paradox? Auf der einen Seite sind wir alle rund um die Uhr damit beschäftigt, unser gesundestes, fittestes, fleischlosestes Yoga-Leben zu führen, und auf der anderen scheinen wir kranker denn je zu sein.

 

Unsere Gesellschaft ist nachgewiesenermaßen kranker denn je. Deswegen hilft es, wenn wir uns bewusst machen, wie artifiziell unsere moderne Gesellschaft ist und wie weit weg wir uns von unseren wahren Bedürfnissen bewegt haben. Und wie gesund es ist, auf unser Bauchgefühl zu hören und unseren Verstand, unser Herz und unseren Bauch wieder in Einklang zu bringen. Es ist gar nicht so kompliziert.

 

Wer ist der normalste Mensch, den Sie kennen?

 

Ein gute Frage. Sie meinen im Sinne von gesund und natürlich? Ich bin es jedenfalls nicht. Ich arbeite noch daran.

 

Ihre Frau vielleicht? Sie scheint Sie und Ihre „Abnormalitäten“, wie Sie es ja selbst im Buch nennen, sehr gut zu verstehen.

 

Meine Frau ist auf jeden Fall geerdeter als ich. Und sie hat den undankbaren Job übernommen, mich und meine Traumata heilen zu wollen. Sie hat mich schon bei unserem ersten Treffen durchschaut: „Ich sehe dich mit all deinem Licht und all deiner Dunkelheit“, hat sie zu mir gesagt. Sie hat sich auch schon um ihre Eltern gekümmert. Letztendlich finden immer Menschen mit ähnlichen Traumata zueinander. Ein Mensch ohne Brüche im Leben hätte gar nicht das Interesse daran, diese Arbeit auf sich zu nehmen.

 

 

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