4. Januar 2024

Margit Hiebl

Die Kraft der Rituale

Wie wir sie einsetzen können. Weshalb sie manchmal gehörig nerven und sogar krank machen können. Und warum wir Rituale trotzdem beschützen sollten

@ Chris Craymer/Trunk Archive

Jeder kennt sie. Jeder hat sie. Die kleinen oder großen immer wieder zelebrierten Handlungen. Der erste Espresso hinterm Brenner, der den Italienurlaub eröffnet. Die Gutenachtgeschichte, ohne die wir als Kind nicht einschlafen wollten. Das immer-gleiche Weihnachtsmenü. Rituale sind etwas Ur-Menschliches und spielen seit Gedenken in allen Kulturen und Gesellschaften eine wichtige Rolle.

 

Rituale sind soziale Bindemittel

 

Sie sind etwas Höchstpersönliches und zugleich soziales Bindemittel. Ihre Vertrautheit gibt uns im Leben Halt, weil Rituale eine Leitlinie liefern, an der man sich orientieren kann. Für Kinder und Jugendliche sind sie von besonders hohem Wert, weil sie die Dinge vorhersehbarer machen und den jungen Menschen zudem eine Vorstellung davon geben, was von ihnen erwartet wird.

 

Ihre Vertrautheit gibt uns im Leben Halt

 

Studien belegen zudem, dass Kinder mithilfe von Ritualen wie zum Beispiel der Gutenachtgeschichte schneller ein- und durchschlafen. Auch weiß man, das Rituale die soziale und emotionale Entwicklung fördern. Und am Ende des Lebens, wenn körperliche und geistige Kräfte nachlassen, geben sie Halt, Geborgenheit und Sicherheit.

 

Wie so manch anderes Liebgewonnenes und Bewährtes sind auch die Rituale zunehmend vom Aussterben bedroht

 

Die wiederkehrenden Abläufe fungieren als Gedächtnisstütze. Für Demenzkranke können sie eine wertvolle Halteschnur sein, an der sie sich im Alltag entlanghangeln können. Doch wie so manch anderes Liebgewonnenes und Bewährtes sind auch die Rituale zunehmend vom Aussterben bedroht.

 

Verschwinden Rituale?

 

Der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han setzt sich in seinem viel beachteten Essay Vom Verschwinden der Rituale (Ullstein Verlag) mit ebendiesem gesellschaftlichen Phänomen auseinander. Er analysiert darin die Bedrohung einer Gesellschaft, in der durch die zunehmende Individualisierung des Einzelnen die Gemeinschaft verloren geht. Das sogenannte digitale Lagerfeuer, um das wir uns so gerne versammeln, liefert ein Trugbild von Gemeinsamkeit.

 

Wer kennt es nicht, das im Grunde traurige Bild von Familien oder Freunden, die vermeintlich gemeinsam im Restaurant an einem Tisch sitzen – und alle starren wortlos auf ihre Smartphones, sind eigentlich gar nicht anwesend, sondern gerade irgendwo auf dem digitalen Globus unterwegs.

 

Trauerrituale helfen, den Verlust eines Menschen besser zu verarbeiten

 

Byung-Chul Han spricht von einer Ent-Ortung, mit der jene Räume verschwinden, in denen Rituale stattfinden. Der Philosoph definiert diese als symbolische Techniken der Einhausung, durch die das In-der-Welt-Sein erst zu einem Zuhause-Sein wird. Rituale, so Han, „bringen eine Gemeinschaft ohne Kommunikation“ hervor, das Internet hingegen „eine Kommunikation ohne Gemeinschaft“.
Prägend sind Rituale nicht nur, wenn es um das Zelebrieren von Bewährtem geht, auch bei persönlichen Veränderungen wie Taufe, Abiturfeier oder akademischer Abschluss wird das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt.

 

Das gilt ebenso beim Abschiednehmen: Trauerrituale oder symbolische Handlungen helfen, den Verlust eines Menschen oder das Ende einer Liebesbeziehung besser zu verarbeiten. Eine Studie der Harvard Business School ergab, dass diese persönliche Rituale sogar ein Gefühl der Kontrolle teilweise wiederherstellen. Und dass sie nicht nur trösten, sondern sogar Glücksgefühle hervorrufen können – auch in Wettbewerbssituationen.

 

Neuseeländische Rugby-Spieler vertrauen auf das traditionelle Haka-Tanzritual der Maori

 

Ein Trainings- oder Startritual kann den entscheidenden Vorteil bringen – selbst wenn es bisweilen skurril erscheint: Tennisprofi Rafael Nadal zupft sich vor dem Aufschlag Hemd, Hose und Haare nach immer der gleichen Choreografie zurecht. Serena Williams betrat erst den Platz, wenn ihre Schnürsenkel exakt gleich gebunden waren. Die neuseeländischen Rugby-Spieler vertrauen auf das traditionelle Haka-Tanzritual der Maori.

 

Was steckt dahinter? Die Rituale erinnern daran, diese Leistung schon viele Male abgerufen zu haben. Darüber hinaus geben sie auch hier Halt und Sicherheit, weil sie helfen, sich im größten Stress zu fokussieren und die Nerven zu behalten. Und hier zeigt sich auch, was ein Ritual von Routine und Gewohnheit unterscheidet: Es ist nicht nur eine Wiederholung der Abläufe, sondern besitzt eine emotionale Komponente. Die ist für andere nicht immer nachvollziehbar, funktioniert aber für den Einzelnen.

 

Doch Rituale können durchaus auch eine dunkle Seite haben. Allein schon, wenn man sie mal nicht machen und die Leistung daher nicht zelebrieren kann. Serena Williams schwante vorab, dass sie das French-Open-Finale 2007 verlieren würde, weil sie ihre Schuhe nicht wie üblich gebunden hatte.

 

Rituale können durchaus auch eine dunkle Seite haben

 

Wer Rituale also als Zauberformel nutzt, sollte sie simpel und jederzeit anwendbar halten. Auch dürfen sie nicht zu stark emotional aufgeladen werden. Vertraute Beispiele sind hier Weihnachten oder Silvester: Wehe, Fest oder Party fallen nicht so aus wie geplant – Stress, Streit und Enttäuschung sind oft die Folgen.
Rituale anderer können auch richtig nerven – zum Beispiel, wenn Mitreisende auf dem Interkontinentalflug erst mal die Schuhe ausziehen.

 

Richtig problematisch wird es, wenn sie zu Zwangshandlungen werden und damit den gemeinschaftlichen „Raum“ verschließen, den sie doch eigentlich definieren. Stichwort: Putzfimmel. Und Rituale bergen durchaus auch gesellschaftlichen Zündstoff, dann nämlich, wenn ihre identitätsstiftende Wirkung zu Ausgrenzung führt. Das beginnt vermeintlich harmlos bei der Handschlag-Choreografie von Jugendlichen, die anderen sagt „du gehört nicht zu uns“ – und endet in weit-reichenden Konflikten, wenn sie einen politischen, ökonomischen oder religiösen Hintergrund haben, und es in erster Linie um Macht geht.

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