Kunst als Heilmittel

Absolut gesundheitsfördernd:
Warum Kunst in der Medizin einen größeren Stellenwert einnehmen sollte

@Wen Studio/UNStudio

Das FlySolo Rehabilitation Medical Centre für Kinder in Peking soll den kleinen Patienten die Angst vor den Behandlungen nehmen

Dass Kunst eine wohltuende Wirkung auf uns hat und die Heilung beschleunigt, wurde in den vergangenen Jahren in vielen wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt. Innerhalb der Neurologie gibt es mittlerweile sogar einen eigenen Zweig, der erforscht, was im Gehirn passiert, wenn wir ein Gemälde betrachten und weshalb wir so emotional reagieren, wenn wir Gedichte hören oder Musik lauschen: die Neuroästhetik.

 

Nach heutigen Erkenntnissen werden bestimmte Hormone und Neurotransmitter freigesetzt, die sich positiv auf unsere Gesundheit auswirken und uns ein gutes Gefühl geben. Dazu gehören Dopamin (das bei Parkinson-Patienten fehlt), Serotonin (das in Antidepressiva enthalten ist) sowie Endorphine und Oxytocin, die Schmerzen lindern. Adrenalin und Cortisol können aktiviert oder blockiert werden und somit Energie liefern oder uns beruhigen.

 

Innerhalb der Neurologie gibt es mittlerweile sogar einen eigenen Zweig, der erforscht, was im Gehirn passiert, wenn wir ein Gemälde betrachten

 

Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschäftigt sich mit dem Thema, welche Rolle die Künste bei der Gesundheitsbehandlung und -vorsorge leisten können. Nach der Auswertung von über 900 Studien, Fallbeschreibungen und Umfragen kommt sie zu dem Schluss, dass Kunst, sei es Musik, Tanz oder Gesang aber auch Museums-, Konzert- und Theaterbesuche, besonders bei psychischen Erkrankungen, Diabetes und Adipositas heilsam sein kann.

 

Sie verbessert das Selbstwert-gefühl und die Therapietreue und reduziert, beispielsweise bei HIV-Erkrankungen, die Viruslast. Laut WHO unterstützt die Kunst auch sterbende Menschen emotional auf ihrem letzten Weg. Als weiterer Pluspunkt stellt der WHO-Bericht die niedrigen Kosten sowie die geringe Gefahr der Nebenwirkungen dieser künstlerisch-kreativen Aktivitäten als Ergänzung zu anderen Behandlungen und medizinischen Therapien heraus. Und drängt darauf, Kunst und Musik stärker ins Gesundheitswesen einzubinden.

 

Unterstützung bekommt sie von vielen Wissenschaftlern: „Man behandelt nicht eine Krankheit, sondern einen Menschen“, so zum Beispiel der französische Neurologe Pierre Lemarquis. Seiner Meinung nach braucht es die rein wissenschaftliche Medizin, die sich mit der Krankheit befasst und eine künstlerische Medizin, die sich um den Menschen kümmert, ihn träumen lässt und seine Fantasie anregt. Beide sollten sich idealerweise ergänzen.

Kunst im Krankenhaus

 

Die Erkenntnis, dass Kunst zur Heilung beitragen kann, setzt sich auch in der Architektur und Gestaltung von Krankenhäusern durch. Healing Environment und Healing Art sind hier die Schlagworte. Immer häufiger werden die aseptisch weißen, kalten und unpersönlichen Flure und Krankenzimmer mit Farben und Kunstwerken verschönert, um eine Wohlfühlatmosphäre für die Patienten zu schaffen. Und nicht nur für sie: Auch Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger und Besucher profitieren davon. Ein gelungenes Beispiel ist die Emco Privatklinik in der Nähe von Salzburg.

 

Skulpturen und Originalgemälde von Friedensreich Hundertwasser und Paul Klee, Hans Staudacher und Markus Prachensky lassen vergessen, dass man sich hier in einer Klinik befindet, adressieren den Gesunden im Kranken und lenken von Schmerzen oder negativen Gedanken ab. Im Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart wurde bereits Ende der 1990er-Jahre das Projekt „Kunst im Krankenhaus“ ins Leben gerufen. Dabei gestaltet je ein Künstler eine komplette Station oder einen Warte- bzw. Durchgangsbereich, sodass die Wandreliefs und Glasinstal- lationen, Gemälde und Farbradierungen nicht nur als Inspiration und Ruhepol dienen, sondern auch als Wegweiser.

 

Die Auswahl der Kunst erfolgt nach Gesprächen mit den Nutzern der unterschiedlichen Bereiche und unter Berücksichtigung medizinischer, psychologischer und kunsthistorischer Aspekte, um sie perfekt auf die Bedürfnisse der Patienten abzustimmen und unerwünschte Nebenwirkungen zu vermeiden.

 

Welche Kunstwerke die Heilung am effektivsten fördern, darüber sind sich die Wissenschaftler noch nicht einig

 

Dass Kunst im Krankenhaus nicht nur von dem Leiden ablenkt, Stress abbaut und bei der Orientierung innerhalb des Krankenhaus-Labyrinths hilft, sondern durchaus auch eine heilende Wirkung hat, belegen internationale Studien und Erfahrungen. Die französischen Neurologen Pierre Lemarquis und Boris Cyrulnik berichten in ihrem Buch L’art qui guérit (deutsch: Kunst, die heilt) beispielsweise von einer Patientin, die an chronischen Wunden litt.

 

Nachdem in ihrem Krankenhaus- zimmer das Gemälde einer Tänzerin aufgehängt wurde, das sie sich selbst ausgesucht hatte, begann sie sich wieder zu bewe-gen, der Muskelschwund ging zurück, sie benötigte weniger Schmerzmittel und die Wundheilung wurde verbessert.

 

Welche Kunstwerke die Heilung am effektivsten fördern, darüber sind sich die Wissenschaftler noch nicht einig. Pierre Lemarquis geht davon aus, dass Originale eine bessere Wirkung haben als beispielsweise Poster. Während die einen Forscher den Einsatz abstrakter Kunst ablehnen, weil sie mehrdeutig interpretiert werden kann und Patienten zu stark herausfordern, die ohnehin schon gestresst sind und sich unbehaglich fühlen, bevorzugen andere Forscher Naturmotive. Für wieder andere sind gar nicht so sehr der Stil oder die Technik entscheidend, sondern vielmehr Farben und Formen, die Größe und wo die Kunst platziert wird.

Healthcare-Design

 

Der Blick ins Grüne, der Zugang zu Gärten, angenehmes Licht und der Einsatz von Farben: Wegweisend für die sogenannte Healing-Architecture-Bewegung, die überzeugt ist, dass Architektur und Ausstattung einer Klinik eine entscheidende Rolle bei der Genesung spielen, war eine bereits 1984 veröffentlichte Vergleichsstudie des schwedischen Architekturprofessors Roger Ulrich. Patienten, die vom Krankenhausbett einen Blick in den Park und auf Grünflächen hatten, benötigten deutlich weniger und schwächere Schmerzmittel, hatten weniger Komplikationen, litten seltener unter Depressionen und konnten im Durchschnitt einen Tag früher entlassen werden als Patienten, die nach der identischen Operation auf die Mauer eines Nachbargebäudes blickten.

 

Ein schönes Beispiel für eine gelungene Architektur ist die Basler Klinik REHAB von Herzog & de Meuron. Der moderne Bau, in dem Holz eine zentrale Rolle spielt, hat zehn Innenhöfe, jeder Therapiebereich besitzt einen Zugang ins Grüne, Therapien können in der Natur stattfinden. Wer hierher kommt, fühlt sich eher wie im Wellnesshotel und somit gleich weniger krank.

 

Hier gibt es keine langen, abweisenden Korridore, keine lieblos eingerichteten Zimmer, kein grelles, flackerndes Licht. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte die Schottin Maggie Keswick Jencks nach ihrer Krebsdiagnose gemeinsam mit ihrem Mann, einem Architekturtheoretiker, die Vision eines beispielhaften Ortes, an dem sich Krebspatienten gerne auf-halten, der ihnen Halt gibt und Trost spendet.

 

Heute gibt es in Großbritannien mehr als 25 Maggie’s Centre, in denen Holz eine wichtige Rolle spielt, Licht und Design. Eine „Architektur der Hoffnung“, wie sie Charles Jencks beschreibt und die überall auf der Welt Zuspruch findet.

 

Wer hierher kommt, fühlt sich eher wie im Wellnesshotel und somit gleich weniger krank

 

Jüngstes Beispiel ist das FlySolo Rehabilitation Medical Centre für Kinder in Peking, das vom UNStudio des niederländischen Architekten Ben van Berkel gestaltet wurde. Um Vertrautheit aufzubauen, wurde mit speziellen, beruhigenden Farben gearbeitet, die sich wellenförmig an den Korridorwänden entlangziehen.

 

Diese variieren in ihrem Spektrum (Sand, Ocker, Orange wurden in den Räumen für die Sprach-therapie eingesetzt, Blau, Türkis und Petroltöne für die Ergo-therapie, Rosa, Koralle und Weinrot für die Physiotherapie), die Wellen in ihren Amplituden und Längen. Folge: Die Kinder wissen intuitiv, wo sie sich befinden und welche Therapie ansteht. Um die Wartezeit zu verkürzen, gibt es vor den Behandlungsräumen Mini-Rutschen, Bällebäder und Wände, die bemalt werden dürfen. Wie eine Intensivstation der Zukunft aussehen könnte, zeigt ein Prototyp der Berliner Charité in Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro GRAFT sowie den Mediendesignern von ART + COM.

 

Die Kinder wissen intuitiv, wo sie sich befinden und welche Therapie ansteht

 

Nach den Prinzipien des heilenden Designs wurden sie so wohnlich wie möglich gestaltet. Ein Großteil der Apparate verschwindet hinter Wandverkleidungen, wodurch die unangenehmen Geräusche gedämpft werden und eine wesentlich ruhigere Atmosphäre herrscht.

 

Um den Schlaf-Wach-Rhythmus der Patienten zu unterstützen und Delirien zu reduzieren, können per Licht die Tageszeiten simuliert werden. Das nachempfundene Blätterdach an der Decke soll den Stresslevel absenken, bei stärkerem Schmerz ist das Blätterdach länger zu sehen, sodass der Patient weniger Schmerz- und Beruhigungsmittel braucht.

Letzter Weg: Museum

 

Bilder malen, um gesund zu werden. Singen gegen die Angst und Tanzen gegen das Vergessen. Die Bedeutung der Künste für die Gesundheit und Resilienz wird als immer wichtiger erachtet. Vielversprechend ist ihr Einsatz bei Demenzerkrankungen. Die Frankfurter Goethe-Universität hat hierzu vor einigen Jahren mit dem Städel Museum das ARTEMIS-Projekt ins Leben gerufen, bei der Demenzkranke und ihre An-gehörigen in zwei Gruppen eingeteilt wurden.

 

Die Kontrollgruppen besuchten das Museum auf eigene Faust. Die anderen bekamen Kunstführungen, die auf die Bedürfnisse Demenzkranker abgestimmt waren. Nach jeder Führung durften die Teilnehmer dann selbst kreativ werden. Das Ergebnis: Vor allem bei den Teil-nehmern der interaktiven Kunstführungen gingen Begleitsymptome der Demenz wie Niedergeschlagenheit, Unruhe oder Teilnahmslosigkeit zurück. Auch die Angehörigen profitier-ten davon.

 

Die Bedeutung der Künste für die Gesundheit und Resilienz wird als immer wichtiger erachtet

 

In Brüssel gibt es Museumsbesuche bereits auf Rezept. Hier wurde während der Pandemiezeit ein Pilotprojekt ge-startet, an dem mehrere Museen teilnahmen. Die Idee: Patienten mit psychischen Erkrankungen neben Therapie und Medikamenten ein zusätzliches Tool an die Hand zu geben.

 

Dass durch einen Besuch im Museum vermehrt Glückshormone ausgeschüttet werden, davon ist man in Montreal überzeugt. Auch hier werden Tickets verschrieben – an Menschen, die etwa unter Stress und Angstzuständen leiden, an Alzheimer erkrankt oder Schmerzpatienten sind. Es liegt im Ermessen der Ärzte, wer eine Museumstherapie verordnet bekommt, wichtig ist nur, dass sich die Patienten darauf einlassen.

 

Noch in diesem Jahr soll im Palais de Tokyo in Paris HAMO eröffnet werden. Der 700 Quadratmeter große Pavillon ist als Ort der Begegnung, der Bildung und Inklusion gedacht, in dem unter anderem Treffen zwischen Kunsttherapeuten, Psychiatern und Pädagogen sowie Workshops für Besucher stattfinden werden.

 

Es liegt im Ermessen der Ärzte, wer eine Museumstherapie verordnet bekommt

 

Und noch zwei Beispiele: Das Ageing-Well-Programm der Glasgow-Museen richtet sich, ebenso wie das House of Memories im National Museum of Liverpool, an Menschen mit Demenz und deren Angehörige und Betreuer. Während in Glasgow Demenz-Cafés, Besuche und Gesprächsgruppen stattfinden, bietet Liverpool Trainings für die Betroffenen an.

 

Kunst kann Menschen auf ihrem letzten Weg auch Trost spenden. Einmal im Leben noch Rembrandt sehen zum Beispiel. Die holländische Hilfsorganisation „Stichting Ambulance Wens“, die Todkranken ihren letzten Wunsch erfüllt, ermöglicht Betroffenen private Führungen im Rijksmuseum Amsterdam – sie werden in ihren Krankenbetten direkt vor die Kunstwerke ihres Lieblingsmalers gerollt. Eine Initiative, die so ergreifend wie vorbildhaft ist.

 

 

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