12. Januar 2024

Julia Werner

Ein Plädoyer für den Narzissmus

Ständig wird über ihn geklagt. Doch Narzissmus ist eigentlich viel besser als sein Ruf

@ Sami Aksu

Psychologie ist heute, wie so viele andere Bereiche, für die man früher einmal wirkliche Expertise benötigte, demokratisiert. Einschätzungen zum mentalen Zustand einer beliebigen Person werden von Hobbypsychologen am Dinnertisch abgegeben, natürlich nicht, ohne vorher ausgiebig den berühmten Diagnostiker Dr. Google befragt zu haben.

 

Die Diagnose lautet, weil das ein gehyptes Social-Media-Thema ist, dann auch gerne: Der Typ ist ein Narzisst. Menschen, die sich selbst gut finden, haben deswegen keinen guten Stand mehr. Sie sind in den Augen der anderen größenwahnsinnige Monster, ohne jede Fähigkeit zur Empathie, durchtrieben von bösen Absichten. Das Netz ist voll von ihren Opfern, die einem alles über ihre Manipulationstechniken (Gaslighting) und den Ausweg aus der toxischen Beziehung (Kontaktabbruch) erklären.

 

Menschen, die sich selbst gut finden, haben deswegen keinen guten Stand mehr

 

Früher war ja ein Mann, der aufgrund seiner Selbstverliebtheit einer Frau das Herz gebrochen hatte, einfach nur bindungsgestört und die eitle Chefin mit wenig Hang zu Team-Diplomatie schlicht unfähig. Heute ist sie persönlichkeitsgestört. Und dann stampfte ja auch noch dieser orangefarbene Mann auf die Weltbühne, der sich auf dem NATO-Gipfel per Ellenbogen in die erste Reihe drängte und mit seinem Größenwahn die Vereinigten Staaten in eine ihrer größten gesellschaftlichen Krisen stürzte.

 

Es scheint, als hätten wir die ganze Zeit unter Energie-Vampiren gelebt und sie erst jetzt enttarnt. All diese Psychomonster haben ihren Namen von Narziss. Der verliebte sich bekanntlich laut griechischer Mythologie in sein eigenes Spiegelbild im glatten Fluss, was nach hinten losging. Er starb vor unerfüllter Sehnsucht nach diesem schönen Wesen und verwandelte sich in die gleichnamige Blume. Ihm ist es zu verdanken, dass die Eitelkeit seit Jahrhunderten keinen glorreichen Ruf hat.

 

Es scheint, als hätten wir die ganze Zeit unter Energie-Vampiren gelebt und sie erst jetzt enttarnt

 

Allerdings hatte die leicht größenwahnsinnige Personality nie einen schlechteren Stand als jetzt. Nannten wir die früher nicht einfach Charismatiker? Diese scheinen im Moment mit wenigen Ausnahmen den Ball aus Angst vor Dr. Google lieber flach zu halten. Wie allerdings auch allgemein bekannt sein sollte, ist googeln bei Unwohlsein keine gute Idee.

 

Leicht wird dann aus dem leichten Zwicken in der Bauchgegend unheilbarer Magenkrebs. Dass Narzissmus an sich keine Krankheit, sondern ein Spektrum von Persönlichkeitsmerkmalen ist, macht es natürlich schwieriger, mit einer missglückten Beziehung abzuschließen. Ist aber wichtig.

 

In uns allen steckt mindestens ein Funken Narzissmus, sonst hätten wir es wohl noch nicht mal über die ersten Wochen unseres Lebens geschafft: Sigmund Freud etablierte den Begriff des „primären Narzissmus“. Damit meinte er die Libido des Säuglings, die einzig und alleine auf den eigenen Körper und dessen Befriedigung gerichtet ist. Also: Überlebenstrieb.

 

In uns allen steckt mindestens ein Funken Narzissmus

 

Der Psychoanalytiker Paul Federn führte dann in den 1930er-Jahren den Begriff des „gesunden Narzissmus“ ein und beschrieb ihn als „angemessenes Gefühl der Selbstliebe“. Gesund? Das war bei all der Berichterstattung der vergangenen Jahre, in dem es vor allem darum ging, sich vor Narzissten zu schützen, irgendwie untergegangen. Höchste Zeit, die Perspektive zu wechseln.

 

Der auf internationalem Level bedeutendste Forscher auf dem Feld des Narzissmus, Mitja Back, hat in diesem Jahr sein Werk Ich! Die Kraft des Narzissmus (Kösel-Verlag) veröffentlicht, und das ist nicht weniger als ein Paradigmenwechsel. Der Professor für Psychologische Diagnostik und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Münster räumt mit einigen Stereotypen zum Thema auf.

Ja, Narzissten streben nach Status, aber das macht sie nicht gleich zu Bösewichten. Haben Narzissten den Ruf, dass sie machtbesessene Manipulatoren sind, die über Seelen fahren wie Planiermaschinen, dass sie also die Hüter der dunklen Eigenschaften sind, vielleicht einfach nur der Popkultur zu verdanken – also etwa der Bret-Easton-Ellis-Verfilmung American Psycho? Wirklich böse Narzissten, so Beck in einem Interview mit dem NDR, seien ganz einfach Psychopathen – mit narzisstischen Zügen. Nicht umgekehrt.

 

Narzissmus an sich ist also keine Krankheit. Er lebt unter uns und zu einem gewissen Teil in uns, ziemlich ausgeglichen unter beiden Geschlechtern und in allen Berufen. Allerdings findet man sie gehäuft in denen, in denen mehr Prestige zu erwarten ist: im Medienbusiness, unter Rechtsanwälten und natürlich auf der Chefetage.

 

Narzissmus an sich ist also keine Krankheit

 

Was also treibt Narzissten? Laut Mitja Back wollen sie eigentlich nur das, was allen ein gutes Gefühl gibt: die Droge positive Aufmerksamkeit. Narzissten wollen bewundert werden. Sie denken, dass sie eine bessere Behandlung verdienen als andere. Und, vielleicht am wichtigsten: gehen fest davon aus, dass sie im Leben Großes erreichen werden. Alles Merkmale, die der psychologische Begriff Grandiosität zusammenfasst. Und der sich natürlich ganz schön unsympathisch anhört.

 

„Jeden Morgen wache ich mit dem schönsten Gefühl auf – mit dem Gefühl, Salvador Dalí zu sein“, sagte der spanische Künstler und wohl exzentrischste Narzisst aller Zeiten einmal. Wer sich öfters mal an den Kopf fasst, weil die Selbstliebe das Bildungsziel einer ganzen Generation zu sein scheint, muss sich natürlich fragen: Was ist an dieser Einstellung eigentlich auszusetzen? So benennt auch Back den wohl wichtigsten positiven Aspekt des Von-sich-überzeugt-Seins: Es macht sehr, sehr mutig.

 

Jeder, der kreativ tätig ist, weiß, wie viel davon nötig ist, um etwas auf ein weißes Blatt Papier oder eine Leinwand zu bringen – und es dann auch noch irgendeiner Form von Öffentlichkeit zu präsentieren. Narzisstisch veranlagte Persönlichkeiten trauen sich. Und noch mehr: Laut Back sind ihre Talente Verführung, Veränderung, Vorankommen. Narzissten sind in der Lage, bei anderen Menschen positive Gefühle zu erzeugen, sie auf dem Weg in neue Gelände mitzureißen – also plakativ gesagt: die Welt zu verändern.

 

Narzisstisch veranlagte Persönlichkeiten trauen sich

 

Nicht umsonst haben sich die politischen Gegner von Barack Obama jahrelang an der Frage abgearbeitet, ob er ein Narzisst sei. Der britische Ex-Premierminister David Cameron etwa, so erzählte einer seiner Mitarbeiter, bezeichnete den US-Präsi-denten hinter vorgehaltener Hand als selbstverliebtesten Menschen, den er je getroffen habe. In der Tat hört der Mann sich bis heute am liebsten selbst reden. Wir allerdings auch – egal, wie oft er „mein Geheimdienst“ und „Ich“ in seine Reden einbaute.

 

Als Obama 2008 zum ersten schwarzen Präsidenten der USA gewählt wurde, da versetzte er die ganze Welt in freudige Aufbruchstimmung – eine kollektive Erfahrung der Hoffnung durch einen einzigen Mann (und „sein“ Team natür-lich). Dann wäre da noch Elon Musk. Ein Unsympath mit zweifelhaften Einstellungen, keine Frage. Aber eben auch: der Mann, der uns die Vision der E-Mobilität in die Köpfe gepflanzt hat. Es ist kein Zufall, dass er die Menschheit ins Weltall transportieren will. Eine auf dem Narzissmus-Spektrum eher weit unten angesiedelte Person hätte vielleicht auch die Idee. Aber auch den Zweifel: Ist das zu schaffen? Was, wenn ich scheitere? Und vor allem: Was denken die anderen?

 

Selten ist jemand so häufig gescheitert wie Musk. Überschalleisenbahn-Fail hin oder her – er setzt weiterhin auf volles Risiko, und die anderen schauen ihm bewundernd dabei zu. Die anderen sind den Narzissten übrigens ziemlich egal, aber nicht auf die Art und Weise, wie Dr. Google und Coach Instagram uns das erklären. Sie sind entgegen der landläufigen Meinung keinesfalls unfähig zur Empathie.

 

Eine Beziehung mit einem Narzissten ist  auch nicht gleich toxisch

 

In Studien fand Mitja Back heraus, dass der Unterschied zwischen den Normalos und den Narzissten in dieser Hinsicht nur marginal ist. Die Wahrheit ist: Sie interessieren sich einfach weniger für ihre Mitmenschen. Sie richten ihre Energien lieber auf ihre eigenen Interessen als darauf, sich um das Zurechtkommen mit den Randfiguren zu konzentrieren. Was dabei entsteht, sind sozusagen Kollateral- Vorteile. Großartige Kunst, bahnbrechende Literatur, technologischer Fortschritt.

 

Eine Beziehung mit einem Narzissten ist unter dieser Prämisse denn auch nicht gleich toxisch. Vielmehr, so der Professor, sollte man sich vorher selbst fragen, was man eigentlich wolle. Sicherheit, innige Bindung, Treue? – Können zur Herausforderung mit einem Narzissten wer-den. Aufregung und Träume? – Bingo!

Unterschiede zwischen weiblichem und männlichem Narzissmus gibt es übrigens nicht, aber solange die völlige Gleichberechtigung noch nicht hergestellt ist, sind es eben in erster Linie die Männer, die so manches DAX-Unternehmen in ungeahnte Höhen führen, weil sie so besonders sind.

 

Und die Frauen – wenn sie nicht gerade beispielsweise Lady Gaga heißen – die ihre narzisstischen Neigungen schlicht und ergreifend den ihnen vom Patriarchat zugedachten Wirkungskreisen anpassen: mit einem Helfer-Syndrom in Form von öffentlich gemachten Spenden, Charities oder dem Supermom-Insta-Account (seht her, wie gut ich bin!) – oder krankhaft ausgeprägter Eitelkeit, also dem Kreisen um sich selbst mit Sport, Make-up und Fotofilterwahn.

 

Ein bisschen Arroganz hat der Welt nie geschadet

 

Aber auch das ist ja nicht unbedingt etwas Schlechtes. Besser ein paar Scheine opfern und sich dafür feiern als es nicht zu tun. Man sieht: Es lohnt sich, sich ab sofort nicht mehr ganz so sehr für die eigenen selbstverliebten Anwandlungen zu schämen, und auch nicht mehr so sehr dafür, die Mitmenschen stinklangweilig zu finden. Ein bisschen Arroganz hat der Welt nie geschadet.

 

Was aber sagt die Wissenschaft aktuell zu der Frage, wo Narzissmus eigentlich herkommt? Lange Zeit ging man davon aus, er entstehe in seiner extremen Form vor allem durch mütterliche Kälte in der Kindheit, und das dadurch verursachte fehlende Selbstbewusstsein mache den Nar-zissten zum hilflosen Spielball seine Schicksals und zum perfekten Schauspieler, der keine Ahnung davon hat, dass er ein kranker Narzisst ist.

 

Narzissmus entsteht in der Tat im Kindesalter, aber eher durch die ständige Überhöhung des Kindes

 

Auch das widerlegt Mitja Back, der sagt, ein Narzisst wisse im Regelfall immer ganz genau, wie er bei anderen ankommt, er spiele sogar damit. Plausibel erscheint den Forschenden als Ursprung mittlerweile genau das Gegenteil: Narzissmus entsteht in der Tat im Kindesalter, aber eher durch die ständige Überhöhung des Kindes. Wer sich also um die Zukunft der Menschheit sorgt, muss nur auf den Spielplatz gehen, wo jedes Rutsche-Runterrutschen b-klatscht wird wie der Gewinn des Medizin-Nobelpreises. Das werden alles gar keine weinerlichen Versager, sondern sind bereits kleine Dalis und Obamas.

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