6. Mai 2024

Margit Hiebl

Vagusnerv: Der Nerv der Zeit

Er sorgt gerade für ganz viele Schlagzeilen: der Nervus vagus. Wie der Vagusnerv Psyche und Körper beeinflusst und wie man ihn stimulieren kann

@ The Digital Artist

„Mit dem Vagusnerv zur inneren Balance!“ „Auf Knopfdruck entspannen!“ „So trainierst du deinen Vagusnerv!“ „Die neue Art Stress zu begegnen!“ „Aktivieren Sie den Entspannungsnerv!“ Wer durch Instagram, Facebook oder TikTok scrollt, kommt um den Vagusnerv gera-de nicht herum.

 

Die Angebote reichen von aktivierenden Atemübungen über Summen oder Eisbaden bis hin zur Vagusmeditation, und es gibt sogar Geräte zum Stimulieren des Nervs. Wenn es nach den Healthfluencern geht, ist der Vagusnerv die Patentlösung für ein Hauptanliegen unserer Zeit: Stressbewältigung.

 

Doch auch in der Wissenschaft macht der Nerv jetzt wieder von sich reden: etwa im Zusammenhang mit der Behandlung von Depressionen, Schmerzen, Entzündungen, Adipositas und COVID 19. Doch was steckt hinter an all den Heilsbotschaften und wie ist der Stand der Forschung? Dazu ein paar Basisinformationen: Der Vagusnerv ist der zehnte von zwölf Hirnnerven und tatsächlich etwas Besonderes.

 

„Der Vagusnerv ist die Hauptverbindung zwischen den Organsystemen und dem Gehirn“

 

Er verläuft nicht nur im Kopf, sondern auch auf beiden Seiten des Körpers – vom Hirnstamm über den Hals und die Brust in Richtung Abdomen. Somit gilt er als der längste Nerv. Von ihm gehen zudem zahlreiche Äste und Verzweigungen ab, was ihm seinen Namen einbrachte: Nervus vagus, vom lateinischen Wort vagus für umherschweifend, wandernd.

 

Medizinisch ausgedrückt: „Der Vagusnerv ist die Hauptverbindung zwischen den Organsystemen und dem Gehirn – das kann man sich wie eine Art Datenautobahn vorstellen“, so Prof. Dr. Nils Kroemer, der an den Unikliniken Bonn und Tübingen forscht, wie und ob man diesen Supernerv beeinflussen kann.

 

„Über den Vagusnerv werden etwa 80 Prozent der Informationen vom Körper an das Gehirn geleitet – gut 20 Prozent gehen vom Gehirn so auch wieder an den Körper zurück, um körpereigene Funktionen, basierend auf der Integration von Signalen, die im Gehirn verarbeitet werden, zu steuern.“

 

Dabei ist er mit allen relevanten Organsystemen verbunden: Ob Atmung, Herzfrequenz oder Verdauung – der Vagusnerv spielt bei allen wichtigen Vorgängen eine Rolle. Auch bei der Stressregulierung. Denn er gehört zum Parasympathikus, dem Gegenspieler des Sympathikus. Der Sympathikus ist jener Part des vegetativen Nervensystems, der uns bei Angst oder in Stresssituationen auf Kampf oder Flucht einstellt – Herz-schlag und Atmung gehen schneller, die Darmtätigkeit wird eingestellt.

 

Der Parasympathikus hingegen hilft wieder runterzukommen, wenn die Gefahr vorüber ist. An diesen Zusammenhängen wird schon länger geforscht, und auch daran, wie man sie gezielt therapeutisch nutzen kann. Doch bislang war das auf die sogenannte invasive Vagusnervstimulation (VNS) begrenzt:

 

Der Vagusnerv spielt bei allen wichtigen Vorgängen eine Rolle

 

Dafür wird eine Art Schrittmacher unterhalb des Schlüsselbeins eingesetzt, der elektrische Impulse über den Vagusnerv weiterleitet. Sie gilt seit 20 Jahren als Therapieoption bei Patienten mit therapieresistenter Depression und ging gewissermaßen als Nebenwirkung aus dem Einsatz zur Behandlung von Epilepsie hervor. Man hatte beobachtet, dass dabei nicht nur die Anfallshäufigkeit, sondern auch die depressive Symptomatik zurückgeht.

 

Dennoch war es immer schwer, weitreichende Schlussfolgerungen zu treffen, wie genau und warum das antidepressiv wirkt“, so Kroemer. Zudem ist die Implantierung mit einer kleinen Operation verbunden und kann mit Nebenwirkungen wie Schluckbeschwerden oder Heiserkeit einhergehen.

 

Kroemer und seine Forschungsgruppe setzten deshalb auf eine nichtinvasive Alternative, die transkutane, aurikuläre Vagusnervstimulation (tVNS), die in Zukunft auch eine breitere und flexiblere Anwendung ermöglichen kann. Hierbei wird eine Mini-Elektrode in der Ohrmuschel platziert, einem Bereich, in dem ein Ast des Vagusnervs relativ nah unter der Oberfläche verläuft. Eine erste Studie dazu, die 2022 gemacht wurde, betraf die Kopplung zwischen Magen und Gehirn.

 

Man wusste, dass der Vagusnerv die Weiterleitung von körpereigenen Signalen, die bei der gezielten Nahrungssuche helfen – also das zu finden, was besonders viel Energie liefert –, unterstützt. Und auch, dass er die Verdauung über das Gehirn beeinflussen kann. Doch wie diese Steuerung funktioniert, war nicht klar.

 

Um das herauszufinden, wurde in der Studie die Stimulation am Ohr mit einer zeitgleichen Aufzeichnung der Aktivierung des Gehirns über ein MRT sowie über ein Elektrogastrogramm kombiniert, das, ähnlich einem EKG, Signale vom Magen sichtbar machen kann. So konnte erstmals nicht nur gezeigt werden, dass das Gehirn aktiviert wird, sondern auch welche Bereiche eine stärkere Kopplung mit dem Rhythmus des Magens aufweisen.

 

Und dass die körpereigenen Signale mit einer elektrischen Stimulation des Vagusnervs innerhalb von Minuten verstärkt werden können. Erkenntnisse, die wahrscheinlich bei Sättigungs-gefühl und Hunger eine Rolle spielen, vermutet Kroemer. Doch noch sei man da erst am Anfang.

Untersucht wurde auch, wie akut sich die Stimulation auf Motivation und Stimmung auswirkt. Zwar waren die stimmungsaufhellenden Effekte bei Patienten schon beschrieben und bei Gesunden gemessen worden – doch wann sie auftreten, wusste man noch nicht. Das überraschende Ergebnis:

 

Sie treten nicht während der Stimulation auf, sondern erst etwa 15 Minuten später. Und das deute darauf hin, dass der Effekt auf einer anderen Zeitskala erfolgt als bei Verdauung und Motivation. Dies sind wichtige Erkenntnisse, die hoffen lassen, Anwendungen in Zukunft zielgenau und individuell zu gestalten, weil die Vagusnervstimulation zum richtigen Zeitpunkt erfolgen kann. Eine vielversprechende Perspektive für verschiedenste Bereiche.

 

Die Vision ist, in Zukunft durch zeitlich optimierte Stimulation Betroffenen helfen können, die Wahrnehmung ihrer Körpersignale wieder herzustellen

 

Etwa beim Thema Adipositas: Das Problem hier ist in den meisten Fällen nicht, über einen bestimmten Diätzeitraum weniger Kalorien zu sich zu nehmen, sondern dies auf Dauer aufrecht zu erhalten. Die Vision ist, in Zukunft durch zeitlich optimierte Stimulation Betroffenen helfen können, die Wahrnehmung ihrer Körpersignale wieder herzustellen oder eine Verhaltensumstellung herbeizuführen.

 

Das könnte auch beim Thema Depression helfen. Die Vagusnerv- stimulation könnte als dritte Säule neben der Verabreichung von Medikamenten und Psychotherapie etabliert werden. Zum Beispiel bei Patienten, die eher körperbezogene Ver-änderungen wie etwa Verdauungsbeschwerden haben. Das herauszufinden, ist Gegenstand einer aktuell laufenden Studie von Prof. Dr. Kroemer und seinem Team.

 

Auch zum Thema Entzündungen wird geforscht: Erste Ergebnisse geben Anlass zur Hoffnung, dass die Stimula-tion des Vagusnervs rheumatoide Arthritis lindern und die Medikamentendosis reduzieren hilft, wie beim letztjährigen Rheumatologiekongress in Leipzig berichtet wurde. Ebenso im Zusammenhang mit Long COVID: So wurde etwa mit Ultraschall festgestellt, dass der Nerv in der Größe vermindert ist – vielleicht ein Marker, wie eine physische Veränderung im System auf den Nerv wirken kann, berichtet Kroemer. Doch auch hier ist noch nicht klar, wie diese Erkenntnis eingeordnet werden soll.

 

Der Vagusnerv lässt sich nicht trainieren wie ein Muskel

 

Klar ist, es braucht noch mehr Studien. Erst dann kann über Patentrezepte nachgedacht werden. Aktuell sind die erwähnten Stimulationsgeräte zwar zugelassen und erhältlich – Prof. Kroemer rät jedoch für den privaten Einsatz zu Zurückhaltung und medizinischer Rücksprache, weil noch nicht genug über Dosierung, Einsatz, Wirkung und Nebenwirkung bekannt ist.

 

Was mit ziemlicher Sicherheit gesagt werden kann: Der Vagusnerv lässt sich nicht trainieren wie ein Muskel, wie vielleicht manche Heilsbotschaften auf Social Media vermuten lassen würden. Es gebe zwar Hinweise darauf, dass man den Vagusnerv etwa durch Massage im Ohr- oder Halsbereich beeinflussen könne, aber noch keine validen Studien, die andere Erklärungen für diese Wirkung dediziert ausschließen, so Kroemer.

 

„Wann immer man einen Impuls setzt und es zu einem Informationsaustausch zwischen Gehirn und Körper kommt, ist auch der Vagusnerv indirekt beteiligt“, so der Experte. Dennoch wünscht sich der Wissenschaftler mehr Zurückhaltung beim Neuromarketing. „Man muss eine Massage, die einem gut tut und entspannt, nicht als Vagus-nervmassage vermarkten und damit eine spezielle Wirkung suggerieren.“

 

Und auch nicht immer das Wohlbefinden nach einer bestimmten Intervention davon abhängig machen, ob man nachweislich den Vagusnerv stimuliert. Ähnlich sieht das auch Gesundheitscoach und Osteopath Andreas Stollreiter. Für ihn geht es in der täglichen Praxis immer ums Ganze – den Ausgleich des vegetativen Nervensystems, also um das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus.

 

Als Bild dafür dient ihm der gute, alte Säbelzahntiger: „Wenn wir nicht weglaufen, würde er uns fressen. Wenn er aber endlich weg ist, muss man auch wieder aufhören zu laufen. Und diesen Ausgleich gut oder immer besser zu schaffen, auch in stressigen Alltagssituationen – das lässt sich tatsächlich üben“ – ob der Vagusnerv nun direkt daran beteiligt ist oder nicht.

 

 

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