6. November 2024

Marianne von Waldenfels

Monika Hauser: Unermüdliche Kämpferin gegen Gewalt

Die Gynäkologin Monika Hauser wird weltweit hochgeschätzt. Mit ihrer Organisation medica mondiale unterstützt sie Frauen, die Opfer von sexualisierter Kriegsgewalt wurden. Im Interview spricht die Ärztin unter anderem darüber, wie sie Überlebenden hilft, das erlebte Grauen zu bewältigen

Monika Hauser

@ Henrik Nielsen/medica mondiale

Monika Hauser wurde für ihre Arbeit mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet

Vor über 30 Jahren gründete die in der Ostschweiz aufgewachsene Südtirolerin Monika Hauser die Frauenrechtsorganisation medica mondiale, die in Ländern wie Bosnien und Herzegowina, Afghanistan und Ruanda Pionierarbeit leistete. Sie und ihr Team kämpfen unter anderem für die Entschädigung und die gesellschaftliche Anerkennung der Überlebenden: Mädchen und Frauen, die im Krieg vergewaltigt wurden und häufig schwer traumatisiert sind.

 

Im Jahr 2008 wurde Hauser, die in der Nähe von Köln lebt, für ihre Arbeit mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Sexualisierte Gewalt ist allerdings nicht nur ein Problem in Kriegsgebieten, sagt die Feministin und Menschenrechtsaktivistin – sondern auch hier bei uns in Deutschland.

 

In welchem Moment haben Sie beschlossen, dass Sie selbst etwas verändern und sich dafür einsetzen wollen, die Welt ein bisschen besser zu machen?

Es ist schwierig, das an einem exakten Zeitpunkt festzumachen. Aber für mich war schon relativ früh klar, dass ich Gynäkologin werden will, weil ich gesehen habe – auf verschiedensten Ebenen, auch biografisch –, wie sehr die Realitäten von Frauen durch ihre Gesundheit und ihr Leben bestimmt werden. Da hat mich vieles wütend gemacht.

 

Inwieweit hat Sie das biografisch betroffen?

Meine Südtiroler Großmutter und andere weibliche Verwandte erzählten mir von sexuellen Übergriffen durch Ehemänner, Onkel oder Vorgesetzte. Ich bekam über Jahre hinweg immer wieder Geschichten über Gewalt an ihnen berichtet und studierte dann ganz bewusst Medizin. Egal welchen Alters, welcher Herkunft oder Profession, ich traf immer wieder Frauen, deren Leben von Gewalt bestimmt war.

 

Und in den Kliniken wollte eigentlich niemand darüber reden. Das Thema sexualisierte Gewalt an Frauen war ein Tabu. Da war mir klar: Hier möchte ich etwas verändern, hin zu einem gerechteren Leben für Frauen.

 

Und dann, im Jahr 1992, wurden in den Medien Berichte über Massenvergewaltigungen während des Krieges in Bosnien veröffentlicht.

Die Berichte über sexualisierte Gewalt gegen bosnische Frauen und auch den Krieg haben mich sehr berührt. Und das, obwohl ich bereits wusste, wie weit Gewalt in unseren patriarchalen Gesellschaften verbreitet ist, ob im Frieden oder im Krieg. Mir war schnell klar: Hier möchte ich mich einmischen, hier möchte ich etwas verändern. Ich kam dann mit zwei evangelischen Pastoren aus Kassel Silvester 1992 in Zenica an. Ich wusste, dass sich dort viele Geflüchtete aufhielten, darunter zahlreiche Frauen, die keine Hilfe bekamen.

Was waren die ersten Schritte dort?

Ich schloss mich mit etwa 20 bosnischen Kolleginnen zusammen – Krankenschwestern, Ärztinnen, Psychologinnen sowie Frauen, die den Verwaltungs- und Küchenbereich übernommen haben – und baute mit ihnen ein interdisziplinäres Projekthaus auf.

 

Wir gestalteten dann mithilfe von Spendengeldern einen ehemaligen Kindergarten um mit gynäkologischer Ambulanz und OP, aber auch mit Wohnräumen für die Frauen. Wir wollten ein empathisches und gleichzeitig sehr professionelles Umfeld schaffen und entwickelten gemeinsam starke Energien, um diesem ganzen Wahnsinn, der da um uns herum tobte, unsere Power und unsere Liebe entgegenzusetzen.

 

Woher nahmen Sie die Kraft dafür?

Darüber dachte ich gar nicht nach in diesem Moment. Für mich war das selbstverständlich. Wir waren eine eingeschworene Gruppe und bauten in hoher Solidarität und mit viel Empathie unser Projekt auf. Wieviel Kraft es mich gekostet hat, das merkte ich dann erst später, als ich einen Zusammenbruch erlitt.

 

Was hat Ihnen in dieser Zeit geholfen?

Ich machte erstmal für drei Monate Pause und achtete auf mich. Ich suchte mir eine Therapeutin, praktizierte Yoga und Akupunktur. Und wurde dann relativ schnell wieder fit. Damals habe ich gelernt, dass wir eine achtsame Organisationskultur brauchen, wenn meine Kolleginnen und ich diese Arbeit längerfristig machen wollen. Wir entwickelten einen eigenen Ansatz, um zu definieren: Was ist normaler Stress, was ist traumatischer Stress, wo brauche ich therapeutische oder fachliche Unterstützung?

 

Auch Supervision wurde als Standard bei medica mondiale eingeführt. Wir sehen uns gemeinsame Erfolge an – und auch die Dinge, an denen wir scheitern. Wir alle machten Fehler, das ist so bei Pionierprojekten. Aber man sollte eben die Fehler kein zweites Mal machen. Es ist außerdem extrem hilfreich, wenn in unseren Partnerorganisationen die irakischen Kolleginnen von den bosnischen und umgekehrt lernen können. Gemeinsam lernen – das ist der richtige Weg. Wenn alle gemeinsam das gleiche Verständnis haben, wofür wir unsere Arbeit tun, gibt das sehr viel Stärke.

Gab es einen besonders herausfordernden Moment?

August 2021 in Afghanistan, eine bittere Erfahrung. 20 Jahre lang hatten wir dort eine Organisation aufgebaut, an drei verschiedenen Standorten und mit 80 afghanischen Kolleginnen, die über Jahre hinweg eine wahnsinnig tolle Arbeit leisteten. Sie brachten Männer hinter Gitter, die ihre Frauen fast totgeschlagen hatten.

 

Sie konnten Frauen durch die psychosoziale Arbeit wieder ins Leben zurück helfen. Sie arbeiteten als juristische Beistände, um Frauenrechte durchzusetzen. Sie erklärten mit solarbetriebenen Radios draußen in den Provinzen den Eltern in ihren Sendungen, dass es strafbar ist, die Tochter mit zwölf zu verheiraten. Sie klärten immer wieder Frauen und Mädchen über ihre Rechte auf.

 

Als die Regierung fiel und die Taliban erneut die Macht übernahmen, war für uns schnell klar, dass unsere afghanischen Kolleginnen dort extrem gefährdet sind. Also bildeten wir in Köln einen Krisenstab, der die Frauen über Monate hinweg Tag und Nacht dabei unterstützte, damit sie mit ihren Familien evakuiert werden konnten.

 

Wie geht es den Kolleginnen aus Afghanistan heute?

Ein großer Teil der Frauen hat an der Uni in Frankfurt eine Qualifizierungsmaßnahme in Sozialer Arbeit absolviert und nach zwei Jahren einen Abschluss gemacht. Die meisten haben schon gut Deutsch gelernt und kennen die Strukturen hier, sodass sie jetzt andere geflüchtete afghanische Frauen unterstützen wollen. Die Kommune Frankfurt ist sehr an einer Zusammenarbeit interessiert.

 

Die Frauen haben trotz allem, was sie erlebt haben, noch eine große Stärke in sich und wollen sich weiter engagieren: einerseits mit Geflüchteten in der Region, andererseits mithilfe eine Online-Plattform, über die sie auch Frauen in der Diaspora oder in Afghanistan unterstützen können.

 

Ist es in Afghanistan im Moment überhaupt noch möglich, Frauen zu helfen?

Seit fast drei Jahren schränken die Taliban die Rechte von Frauen und Mädchen mit brutaler Härte und Systematik und in allen Bereichen des Lebens ein. Afghaninnen, die sich für ihre Rechte einsetzen oder gegen die Repressionen auflehnen, werden bedroht, verhaftet, entführt oder gefoltert. Die Situation ist lebensgefährlich. Und es gibt fast keine Rückzugsorte oder Anlaufstellen mehr.

 

All das erschwert Frauenrechtsarbeit enorm, macht sie aber deshalb umso wichtiger. Und trotz allem kämpfen die Frauen in Afghanistan weiter für ihre Rechte, gegen Unterdrückung und ungeachtet der Bedrohung. Dabei müssen wir ihnen helfen. medica mondiale unterstützt aktuell fünf afghanische Frauenrechtsorganisationen, die humanitäre Arbeit leisten. Mit ihren derzeitigen Möglichkeiten versuchen sie, Frauenrechte zu verwirklichen und sorgen dafür, dass Frauen Bildung bekommen. Dabei finden sie immer neue Wege und geben nicht auf.

Bei der aktuellen weltpolitischen Lage hat man das Gefühl, dass sexualisierte Gewalt gegen Frauen vermehrt als Kriegswaffe eingesetzt wird.

Im Krieg gibt es die extremste Form von sexualisierter Gewalt, und sie kann als Kriegswaffe benutzt werden, wenn bestimmte politische oder militärische Ziele damit verbunden werden. Wir haben das in Bosnien, im Kosovo oder Ruanda gesehen, bei ethnischen Vertreibungen und der Terrorisierung der Bevölkerung. Und auch in der Ukraine – zum Beispiel in Butscha, wo viele Frauen vergewaltigt und anschließend ermordet wurden.

 

Aber Vergewaltigungen sind nicht nur strategisches Mittel. Sehr viele Frauen werden vergewaltigt, weil die Männer es können, weil sie sich mit der Waffe in der Hand nehmen, was sie wollen. Bei medica mondiale sehen wir sexualisierte Gewalt als Kontinuum. Es gibt sie vor, während und auch nach einem Krieg. Während des Krieges eskaliert das, was schon zuvor in den Gesellschaften vorhanden war. Dahinter steckt das patriarchale Gefüge, wie unter anderem auch in Deutschland.

 

Wird denn in Deutschland genug getan, um sexualisierte Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen?

Nein. Und sexualisierte Gewalt gegen Frauen wird kaum bestraft. Die Verurteilungsrate von Tätern in Deutschland liegt weit unter 10 Prozent. Und das ist die Verurteilungsrate von Taten, die überhaupt erst vor Gericht gebracht wurden – was laut einer Dunkelfeldstudie des BKA von 2020 nur etwa jede zehnte Vergewaltigung ist. Bei Fällen von körperlicher und verbaler Belästigung sind die Zahlen sogar noch viel niedriger.

 

Woran liegt das?

Obwohl wir mittlerweile eine relativ gute Gesetzgebung haben, sind Justizsystem und Polizeiapparat für diese Thematik – die spezielle Dynamik sexualisierter Gewalt – immer noch nicht ausreichend geschult oder fortgebildet. Der Umgang mit Überlebenden sexualisierter Gewalt bedarf einer hohen Sensibilität. Viele Frauen müssen immer noch erleben, dass ihren Erzählungen nicht geglaubt wird, dass diese gar bagatellisiert werden. Das kann retraumatisierend wirken.

 

Inwieweit können Opfer überhaupt Gerechtigkeit erfahren?

Grundsätzlich: Wir bevorzugen den Begriff Überlebende statt Opfer, weil wir diese Leistung des Überlebens betonen und die Betroffenen nicht auf die Opferrolle reduzieren wollen. Das zeigt auch, dass ihnen geglaubt wird. Überlebende brauchen zunächst Schutz und Sicherheit, einen Ort, an dem sie sich stabilisieren können.

 

Sie brauchen stress- und traumasensible medizinische und psychosoziale Unterstützung – auch finanzieller Art, denn viele Überlebende geraten infolge ihrer Vergewaltigung in Armut und/oder in finanzielle Abhängigkeiten. Wie stark die Folgen eines Traumas sind, hängt von verschiedenen Faktoren ab, zum Beispiel wie die Überlebenden in ihrem Umfeld danach aufgenommen werden.

 

Wenn die Gesellschaft sie ausschließt, mit dem Finger auf sie zeigt, sie nicht mehr „verheiratbar“ sind, oder eine vermeintliche „Ehre der Familie“ durch die Vergewaltigung verletzt wurde, dann werden diese Überlebenden immer wieder retraumatisiert.

 

Deswegen leisten wir psychosoziale, medizinische und juristische Unterstützung. Seit 2008 gibt es beispielsweise ein Gesetz in Bosnien zur Unterstützung von im Krieg vergewaltigten Frauen. Seit ein paar Jahren existiert das jetzt auch im Kosovo. Das haben wir mit unseren Partnerinnen vor Ort in vielen Jahren des politischen Kampfes erreicht.

Gibt es auch Länder oder Regierungsorganisationen,
die um Hilfe bitten?

Die kurdische Regierung im Nordirak ist die erste Regierung weltweit, die uns eingeladen hat, Mitarbeitende im staatlichen Gesundheitssystem mit unserem stress- und traumaspezifischen Ansatz zu schulen. Zu diesem Ansatz gehört auch die Selbstfürsorge. Nach dem russischen Überfall trainierten wir zum Beispiel ukrainische Aktivistinnen.

 

Unsere Partnerinnen in Liberia schulen mittlerweile PolizistInnen in Liberia. Im Mittelpunkt all dieser Schulungen steht: Wie gehe ich mit traumatisierten Überlebenden von sexualisierter Gewalt um? Was muss ich berücksichtigen, um Stabilität und Sicherheit herzustellen?

 

Aber auch: Wie kümmere ich mich um mich selbst, wenn ich getriggert werde durch die Berichte einer Frau? Wir müssen alle Frauen stärken – auch uns selbst. Denn das wirkt präventiv gegen weitere Traumata und weitere Gewalt.

 

medica mondiale setzt sich weltweit für Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisen-gebieten ein, die von sexualisierter Gewalt betroffen oder bedroht sind. Die Organisation wurde am 4. April 1993 gegründet, jenem Tag, an dem die Ärztin Monika Hauser in Zenica (Bosnien) mit lokalen Psychologinnen und Ärztinnen das Therapiezentrum Medica Zenica für kriegstraumatisierte Frauen und Kinder eröffnete.

 

1994 entstand in Köln ein Büro mit fünf Mitarbeiterinnen, um das bosnische Frauenzentrum zu unterstützen. In den folgenden Jahren weitete medica mondiale sein Engagement aus: 1999 mit einem Frauenzentrum für Überlebende von Kriegsvergewaltigungen im Kosovo, bald darauf mit Einrichtungen in Afghanistan, der Demokratischen Republik Kongo und Liberia.

 

Heute arbeitet medica mondiale schwerpunktmäßig in Südosteuropa, Westafrika, der Region der Großen Seen Afrikas sowie in Afghanistan und im Irak und setzt dabei immer auf die Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen. In über 30 Jahren hat medica mondiale mehr als 200.000 Mädchen und Frauen unterstützt. 2008 wurde Monika Hauser für ihre Arbeit mit dem Right Livelihood Award, dem sogenannten Alternativen Nobelpreis, ausgezeichnet. 

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