Der französische Soziologe Gérald Bronner sieht durch die Informationsflut die Gefahr einer kognitiven Apokalypse auf die Menschheit zukommen
@ Ekaterina Bolovtsova
Herr Professor Bronner, in Ihrem Buch „Die kognitive Apokalypse“ schreiben Sie unter anderem darüber, dass wir nie zuvor in der Menschheitsgeschichte mehr „verfügbare Gehirnzeit“ hatten, diese aber nicht wirklich nutzen. Was verstehen Sie unter diesem Begriff?
Nehmen wir einen normalen Arbeitstag mit 24 Stunden. Ziehen wir die Arbeitszeit, die Zeit, in der wir schlafen, uns anziehen, waschen, essen, in der U-Bahn stecken, ab, dann bleibt uns Zeit, die wir geistig zur Verfügung haben. Diese freie Gehirnzeit ist in allen Ländern sehr stark gestiegen. Sie hat sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute um das Achtfache erhöht. Wir arbeiten kürzer, produktiver, wir haben bezahlten Urlaub, eine Rente, eine höhere Lebenserwartung, Haushaltsgeräte und vieles mehr. Alles das zusammen liefert uns den wertvollsten Schatz der Menschheit: geistige Verfügbarkeit – Zeit zum Denken.
Warum haben wir dann ständig das Gefühl, eigentlich überhaupt keine freie Zeit mehr zu haben?
Das liegt daran, dass diese geistige Verfügbarkeit von allen möglichen Aktivitäten absorbiert wird – insbesondere von den Bildschirmen. Das zeigen zahlreiche Umfragen. Wir haben sogar den Eindruck einer intellektuellen Überlastung, weil wir immer drei Dinge gleichzeitig tun: Wir checken E-Mails, erhalten SMS, sehen uns gleichzeitig Bilder an, lesen einen Artikel, es poppen Werbespots auf und so weiter.
All das führt zu einem Gefühl der geistigen Übersättigung. Dies gilt für alle Altersgruppen, aber vor allem für junge Menschen. Je jünger man ist, desto größer ist der Anteil der freien Gehirnzeit, die vom Starren auf Bildschirme absorbiert wird.
Was heißt das konkret?
In den USA sind es bis zu acht Stunden pro Tag. Damit wird fast die gesamte frei verfügbare Gehirnzeit absorbiert. In Europa sind wir nicht weit davon entfernt.
Sie schreiben, dass wir selbst in der Nacht aufwachen, um auf den Smartphone-Bildschirm zu sehen.
Es gibt immer mehr sogenannte Wachpostenschläfer, Menschen, die ihr Telefon eingeschaltet lassen, sodass sie die ganze Nacht Nachrichten erhalten können. Rund die Hälfte der jungen Erwachsenen checken mindestens einmal pro Nacht ihre Messages, aus Angst in den sozialen Netzwerken etwas zu verpassen.
Dafür gibt es bereits einen Fachbegriff: FOMO – Fear of missing out. Das führt dazu, dass die für die jugendliche Entwicklung enorm wichtige Schlafzeit immer kürzer wird, weil die Bildschirme auch nachts unsere biologische Zeit weiter beschneiden.
Computer und Smartphones sind aber auch Arbeitsgeräte.
Richtig, doch vielen jungen Leuten geht es nicht um die Nutzung für die Arbeit, sondern darum, die Zeit mit TikTok-Videos und Videospielen zu verbringen. Auch wenn es viele interessante Inhalte gibt, wie zum Beispiel Philosophiekurse, werden wir eher lustige Katzenvideos anschauen. Die eigentliche Frage ist daher nicht, wie
viel der freien Gehirnzeit wir am Bildschirm verbringen, sondern was wir damit machen.
Warum fühlen wir uns von dieser dermaßen seichten Unterhaltung eigentlich so angezogen?
Das ist genau das, was ich mit kognitiver Apokalypse umschreibe. Es geht mir nicht um die Deutung des Wortes als Weltuntergang, sondern um den etymologischen Sinn des Wortes: die Enthüllung und Obsession unseres Gehirns. Noch nie waren auf der Erde so viele Informationen verfügbar. Allein in den letzten zwei Jahren wurden 90 Prozent der heute weltweit verfügbaren Informationen produziert.
Und diese Entwicklung beschleunigt sich weiter. Dieser riesige Informationsmarkt, der immer und zu jeder Zeit auf unseren Bildschirmen verfügbar ist, zeichnet sich durch einen bis dato unvergleichbaren Wettbewerb und eine Deregulierung aus. Das Angebot an Informationen muss sich, um überleben zu können, an die intuitive Nachfrage unseres Gehirns anpassen.
Was fragt denn unser Gehirn nach?
Nur bestimmte Informationen ziehen unsere Aufmerksamkeit mehrheitlich auf sich. Welche das sind, hängt von der Funktionsweise unseres Gehirns ab. In der Psychologie wird das gerne mit dem Cocktail-Effekt umschrieben. Stellen Sie sich vor, sie sind auf einer Party. Es herrscht lautes Stimmengewirr, aber es gibt bestimmte Wörter, die aus dieser Geräuschkulisse herausstechen.
Zum Beispiel das Wort Sex: Wir werden es hören, weil wir uns für Sexualität interessieren. Das wurde in Untersuchungen mehrfach bewiesen. Die weltweit und mit großem Abstand am meisten geklickten Videos sind pornografischen Inhalts – selbst in Ländern, in denen Pornos aus religiösen Gründen verurteilt werden. Natürlich wird das niemand zugeben, aber das sind globale statistische Fakten.
Abgesehen von Sex, reagiert jeder Mensch auf die gleichen Schlüsselwörter?
Nein, es gibt mentale Varianten, und wichtig sind auch alle egozentrischen Informationen. Wenn jemand in einer Menschenmenge Ihren Vornamen ausspricht, werden Sie ihn hören. Oder wenn ich das Wort Soziologie höre, horche ich auf. Neben Sex erwecken Begriffe wie Angst, Konflikt, Gewalt die Aufmerksamkeit aller Menschen. Es gibt eine aktuelle Untersuchung von 140.000 Pressetiteln in den USA, sowohl der linken als auch der rechten Presse, die zeigt, dass über die letzten 20 Jahre hinweg alle diese Begriffe stark in den Medien zugenommen haben.
Haben die Medien uns zu diesem Interesse an Konflikten und Gewalt erzogen, oder haben wir, die Leser, diese Themen so stark nachgefragt, dass die Medien auf diese Nachfrage reagieren mussten?
Beide Entwicklungen gehen Hand in Hand. Natürlich berichten Journalisten eher über verspätete Züge als pünktliche. Aber die Dinge haben sich beschleunigt, denn früher erfüllten die Journalisten eine Rolle als Gate-Keeper: Sie entschieden, was auf den Titel kommt. Gerüchte und nicht verifizierte Informationen wurden nicht veröffentlicht.
Heute jedoch entscheiden zunehmend Algorithmen, was redaktionell wertvoll ist. Auf Facebook wurden jahrelang Meldungen, in denen ein Wut-Emoticon in einem Kommentar auftauchte, hervorgehoben. Warum? Weil festgestellt wurde, dass Themen, die uns wütend machen, uns dazu bringen, länger in sozialen Netzwerken zu verweilen. Weil wir Lust auf Debatten haben, weil wir widersprechen wollen. Konflikthaftigkeit erregt unsere Aufmerksamkeit, selbst wenn sie trivial ist.
Haben Sie hierzu ein Beispiel?
Erinnern wir uns an den März letzten Jahres. In der Ukraine hatte der Krieg begonnen, in Frankreich waren Präsidentschaftswahlen, aber fast 48 Stunden lang richte-ten sich alle Augen auf ein winziges Ereignis in den USA: Will Smith ohrfeigte den Moderator der Oscar-Verleihung. Eine völlig irrelevante Angelegenheit, die uns gleichwohl alle fesselte. Wir wollten die Ohrfeige sehen, wir wollten wissen, warum er sie ihm gegeben hatte, wir wollten die Geschichte rekonstruieren… Es ist unser Gehirn, das uns dazu verführt. Wir wissen genau, dass es nicht interessant ist, und können uns dennoch kaum dagegen wehren.
Warum lenkt uns unser Gehirn zu solchen Banalitäten?
Das ist wahrscheinlich tief in unserer evolutionären Vergangenheit verwurzelt, denn wir sind in erster Linie soziale Affen. Meine Hypothese ist, dass Konflikthaftigkeit von unserem Gehirn als wichtige Information angesehen wird. Es ist fast schon ein Reflex.
Das Problem ist, dass die Deregulierung des Informationsmarktes eben genau solche Aspekte aufdeckt, die tief in unserem Gehirn verborgen sind. Es ist ein bisschen so, als würde der prähistorische Mensch auf die Bühne der Gegenwart treten. Es entsteht ein paradoxes Verhältnis zwischen der sehr alten Funktionsweise unseres Gehirns und der Hypermoderne der sozialen Netzwerke.
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Und das kann gefährlich werden?
Durch den unglaublichen Wettbewerb, der auf diesem riesigen Informationsmarkt herrscht, entsteht ein Nährboden für Neopopulismus, der bekanntlich Angst und Konfliktpotenzial schürt und durch die Algorithmen proportional überrepräsentiert wird. Parallel nimmt die Zahl der Journalisten, der Gate-Keeper, überall ab, weil die zum Überleben des Journalismus wichtigen Werbeeinnahmen nun an Facebook, Google und in ihre sozialen Netzwerke fließen.
Die Folge ist: Ein Prozent der Konten in sozialen Netzwerken produzieren 33 Prozent der verfügbaren Informationen. Und in diesen einem Prozent tummeln sich Radikale, Impfgegner, Verschwörungstheoretiker etc. Noch schlimmer ist es auf den Kanälen für Jugendliche: Auf TikTok gibt einen extrem hohen Anteil an Falschinformationen: Man spricht von 20 Prozent. Das ist gigantisch und ein echtes Problem.
Was kann man dagegen tun?
Es gibt bei der Weitergabe von falschen Informationen viele Variablen, die eine Rolle spielen, aber eine der gefährlichsten ist das sogenannte Lazy Thinking, das faule Denken. Es umschreibt das Herunterfahren unserer intellektuellen Wachsamkeit. Experimente zeigen, dass wir durch eine Stimulation analytischen Denkens Logik und Argumentieren wieder lernen können.
Wir müssen deshalb bereits in der Schule zu einer Lehre des methodischen und rationalen Denkens zurückkehren. Das ist der beste Weg, diesen Markt zu regulieren, ohne Freiheiten zu beschneiden wie beispielsweise durch eine Zensur. Auf diese Weise können wir auf die kognitive Apokalypse reagieren und die Lage noch retten. Wenn wir es jedoch einfach geschehen lassen und nicht handeln, dann wird es kritisch.
Sie warnen, dass sich aus der aktuellen Situation ein „lebensgefährliches Risiko für die Menschheit“ entwickeln könnte. Ist es wirklich so schlimm?
Es wird zwar nicht zu einem Zusammenbruch der Zivilisation kommen, aber ich denke, dass liberale Demokratien, so wie wir sie kennen, nach und nach von dieser kognitiven Apokalypse absorbiert werden. Überall auf der Welt werden gerade Demokratien vom Populismus bedroht oder sind ihm bereits verfallen. Wir stehen vor dem großen Risiko, dass die Menschen zwar in der gleichen Gesellschaft, aber nicht mehr in der gleichen Welt leben.
Eine funktionierende Demokratie braucht jedoch einen gemeinsamen intellektuellen Raum, in dem man debattiert, argumentiert und sich über eine bestimmte, allgemein akzeptiere Sich auf die Welt streitet. Genau diese ist aber zum Beispiel in den USA gerade abhandengekommen: Es gibt einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung, der vollkommen überzeugt ist, dass Donald Trump und nicht Joe Biden die letzte Präsidentschaftswahl gewonnen hat. Wenn der Anteil an Lügen, an „alternativen Fakten“, wie wir das in der Soziologie nennen, überhandnimmt, leben Bürger verschiedener Meinungsgruppen nicht mehr in der gleichen Welt.
Welche Folgen kann dies nach sich ziehen?
Die Menschen hängen in sogenannten Echokammern des Internets fest, wo sie sich radikalisieren und untereinander mehr und mehr aufregen. Die Gewaltbereitschaft steigt und die Demokratie bekommt Risse. Man hat den Eindruck, dass die Gesellschaft noch die gleiche ist, aber das stimmt nicht mehr. Wenn wir uns nicht bald engagieren, sind wir verloren. Das ist sicher. Es liegt also an uns, dagegen anzukämpfen.