Kann wirklich jeder Mensch das Laufen für sich entdecken? „Ja“, sagt die Expertin Andrea Goceva, und verrät uns ihre Tipps
© @iampatrickpilz
Laufen gilt als eine der zugänglichsten Sportarten, doch Mythen, Vorurteile und Ausreden halten sich hartnäckig. Viele fragen sich daher: Kann wirklich jeder Mensch das Laufen für sich entdecken? „Ja“, sagt Andrea Goceva.
Die gebürtige Mazedonierin ist eine Expertin für Bewegung, Performance und Rehab Coach, Gesicht von Nike Running und Trainerin der Running-Community Berlin Braves. Sie selbst kommt aus dem Leistungssport, machte schon als Kind und Jugendliche Modernen Fünfkampf und war Teil des deutschen Nationalkaders. Wenn “The Andi G.”, so nennt sie sich auf Instagram, nicht gerade mit ihren Klient:innen auf der ganzen Welt trainiert, besucht sie Bewegungssymposien oder werkelt an der Eröffnung ihres eigenen Gyms in Berlin, wo sie neben Private Sessions in Zukunft auch Gruppenkurse anbieten wird.
Das Besondere an der erst 27-Jährigen: Ihre sportlichen Ansichten sind modern, nahbar, passen sich den Anforderungen unserer schnelllebigen Gesellschaft an, gehen wirklich auf jeden ganz persönlich ein, hinterfragen Gewohntes und räumen – vor allem – mit verstaubten Klischees auf.
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„Gelenke brauchen Bewegung, sonst werden sie steif“
Personal Trainerin zu werden war nie Ihr Traum: Nach dem Bachelor für Fahrzeugtechnik stecken Sie gerade in den letzten Zügen Ihres Medizintechnik-Masters. Was treibt Sie an?
Ich möchte wissen, wie Bewegung und gutes Training funktionieren. Dazu gehört natürlich auch ein gesunder Lebensstil. Seit einigen Jahren beschäftige ich mich immer mehr mit Biomechanik. Dahinter steckt die Wissenschaft, die erforscht, wie sich der Körper bewegt, wie Kräfte entstehen und wie sich Knochen und Gelenke verhalten. Es geht nicht um Muskeln, sondern darum, die richtigen Bewegungsskills zu trainieren
Man hört ja immer wieder Joggen sei schlecht für die Gelenke. Stimmt das denn?
Sich nicht zu bewegen, ist schlecht für die Gelenke. Gelenke brauchen Bewegung, sonst werden sie steif. Der Körper ist unglaublich anpassungsfähig, aber er braucht Zeit. Parkourläufer:innen springen aus fünf Metern Höhe und rollen sich ab, ohne sich zu verletzen. Würde ich das heute machen, würde ich mir die Knochen brechen. Aber ich könnte es trainieren und irgendwann klappt es vielleicht. Genauso verhält es sich mit dem Joggen: zehn Kilometer aus dem Nichts zu rennen, tut weh. Mit langsamer, kontinuierlicher Belastung passt sich der Körper jedoch Schritt für Schritt an.
“Laufen ist ein sehr rhythmischer Sport und man muss ein Gefühl für diesen Rhythmus entwickeln.”
Also kann wirklich jeder Menschen Joggen lernen?
Absolut. Jede Person, die funktionierende Beine hat, kann joggen. Das Schönste am Laufen ist, dass es eben so eine niedrige Einstiegsschwelle hat. Man braucht einen Turnschuh, am Anfang nicht mal einen Laufschuh, und kann losrennen. Der größte Fehler, den die meisten machen, ist, dass sie viel zu schnell loslaufen und nach fünf Minuten aus der Puste sind.
Wie sollte man denn stattdessen einsteigen beziehungsweise wie sieht der perfekte Trainingsplan für Anfänger:innen aus?
Laufen ist ein sehr rhythmischer Sport und man muss ein Gefühl für diesen Rhythmus entwickeln. Das passiert nur, wenn man es regelmäßig macht. Deswegen ist es besser, öfter und kürzer zu laufen, statt seltener und länger. Zwei bis drei Trainingseinheiten pro Woche sind auf jeden Fall sinnvoll. Am Anfang joggt man zwei bis drei Minuten und geht anschließend ein bis zwei Minuten. Darauf folgen wieder zwei bis drei Minuten Joggen und ein bis zwei Minuten Gehen. Das macht man insgesamt 15 Minuten lang. Jede Woche kann man sich steigern.
Und wie steigert man sich beim Joggen?
Eine Faustregel, die für Laufanfänger:innen ein guter Anhaltspunkt ist, besagt: Pro Woche das Trainingsvolumen um zehn Prozent zu erhöhen. Das bedeutet: Läuft man in der ersten Woche zweimal 15 und einmal 20 Minuten – also insgesamt 50 Minuten – steigert man sich in der zweiten Woche auf insgesamt 55 Minuten.
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Tipp: Als Laufanfänger:in nicht unbedingt mit Musik joggen, das kann die Atmung aus dem Konzept bringen
Kondition und Atmung sind anfänglich oft eine Herausforderung. Mit Pech joggt man mit Seitenstechen. Haben Sie einen Tipp, wie man das umgehen kann?
Beim Seitenstechen verkrampft sich die kleine Muskulatur zwischen den Rippen, die Atemmuskulatur. Das passiert vor allem, wenn man beim Joggen redet und deswegen unregelmäßig atmet. Etwas, was ich mir beim Leistungssport angeeignet habe: Bei lockeren Läufen für drei Schritte ein- und auszuatmen. Also: links, rechts, links – einatmen. Rechts, links, rechts – ausatmen. Für schnelle Läufe reduziert man den Atemzug auf zwei Schritte. So entsteht ein guter Rhythmus. Außerdem sollte man als Laufanfänger:in nicht unbedingt mit Musik joggen, das kann die Atmung aus dem Konzept bringen. Lieber erstmal ohne Musik laufen und nur auf den Atem achten.
Gibt es etwas, das jede:r üben kann und was besonders gut als Laufvorbereitung dient?
Springen! Eine Bewegung, die viele nicht mehr machen. Springen ist sehr anstrengend, da es enorme Kraft fordert, das eigene Körpergewicht zu beschleunigen. Regelmäßiges Springen stärkt Sehnen, Bänder und Knochen, verbessert die Reaktionsfähigkeit und schult die Fähigkeit, sich abzufangen. Es ist auch eine hervorragende Sturzprophylaxe im Alter, da es Kraft, Koordination und Körperkontrolle fördert.
Inwiefern wirkt sich das auf das Joggen aus?
Laufen heißt, gegen die Schwerkraft zu arbeiten. Oft sieht man Menschen im Park, die kaum vom Boden wegkommen, weil sie nicht gelernt haben, sich vom Boden wegzudrücken, ihnen fehlt die Kraft und sie kommen nicht voran. Doch wie bei jedem neuen Bewegungsskill gilt: Konstanz ist entscheidend. Dreimal Hüpfen reicht nicht aus. Drei- bis viermal pro Woche gezieltes Springen ist jedoch ein effektives Training.
“Ich habe es noch nie bereut, Laufen zu gehen, aber ich habe es schon oft bereut, nicht Laufen zu gehen.”
Eine der Mythen, die dem Joggen vorauseilen, ist, dass man dadurch keine Muskeln auf-, sondern abbaut…
Davor haben vor allem Bodybuilder Angst. Muskeln werden aufgebaut, wenn sie ausreichend Reize bekommen und genug Energie zur Verfügung steht. Sprich: wenn man ausreichend isst. Wer mehr läuft, verbraucht auch mehr Kalorien. Werden diese nicht ausgeglichen, greift der Körper auf Muskelmasse zurück.
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„Ich habe es noch nie bereut, Laufen zu gehen, aber ich habe es schon oft bereut, nicht Laufen zu gehen“
Auf leeren Magen joggen gerade morgens gerne viele … Was sollte man denn bestenfalls vor einem Lauf essen?
Morgens ist der Cortisolspiegel ohnehin erhöht, Sport auf leeren Magen lässt ihn weiter steigen. Vor allem für Frauen ist es wichtig, nicht nüchtern zu joggen. Das hat vor allem mit den unterschiedlichen Hormonen zu tun, deren Zusammenarbeit sehr komplex ist. Eine Banane reicht oft aus, besser ist jedoch ein Toast mit Erdnussbutter, Banane, Honig und Salz – damit halte ich 45 Minuten durch.
Sie sind nicht nur Performance Coach, sondern bieten auch eine Art moderner Reha an. Warum reicht unser Gesundheitssystem hier nicht mehr aus?
Bei chronischen Beschwerden bekommt man oft Tabletten, ein paar Sitzungen Physiotherapie oder wird in die Reha geschickt. Dort lernt man meist nur das Nötigste – sitzen, stehen, vielleicht noch ein paar einfache Bewegungen. Die eigentliche Ursache bleibt oft unbehandelt. Viele meiner Klient:innen haben eine Odyssee aus Arzt– und Physiotherapiebesuchen hinter sich, ohne wirklichen Fortschritt. Genau hier setze ich an: Ich schließe die Lücke zwischen Reha und Training, begleite Menschen Schritt für Schritt, bis sie wieder belastbar sind und ihren Sport ausüben können.
Zu guter Letzt: Aller Anfang ist schwer. Gerade wenn man sich nach langer sportlicher Ruhepause aufraffen oder eine neue Sportart lernen möchte. Was tun Sie, um sich zu motivieren?
Ich habe es noch nie bereut, Laufen zu gehen, aber ich habe es schon oft bereut, nicht Laufen zu gehen – mit diesem Satz kann ich mich immer aufraffen.