29. Januar 2024

Philip Reichardt

Gesundheitsbewusstsein der Zukunft

Gesundheit gilt als einer von 12 Megatrends, die unsere Welt radikal verändern wollen. Zukunftsforscherin Corinna Mühlhausen über Holistic Health, Schwachstellen im Gesundheitssystem und warum Self Care immens wichtig ist

@ Tara Winstead

Eigentlich gefiel ihr nur das Wortspiel, der Gleichklang von Trenchcoat und Trend Coach. 25 Jahre ist das inzwischen her. Damals, sagt Corinna Mühlhausen, war „nicht abzusehen, dass es einmal Coaches wie Sand am Meer geben würde“. Seither heißt nicht nur ihr Unternehmen Trendcoach, sie verwendet den Begriff auch für sich selbst, um deutlich zu machen, dass sie als Zukunftsforscherin Trends nicht nur benennt, sondern ihre Kunden strategisch berät, welche Schlüsse und Vorteile sich aus Trends ziehen lassen.

 

Mühlhausen ist auf Gesundheitsthemen spezialisiert, prägte den Begriff Health Style und berät vor allem Unternehmen aus der Gesundheits-, Food- und Automobilbranche. Seit 2020 verfasst sie für das Zukunftsinstitut den Health Report. Der Health Report 2024 ist dieses Jahr erschienen.

 

Frau Mühlhausen, das Zukunftsinstitut, für das Sie seit einigen Jahren den Health Report verfassen, hat 12 Megatrends identifiziert und daraus eine Karte entwickelt, die an einen U-Bahn-Plan erinnert. Eine zentrale Linie neben anderen wie New Work, Gender Shift oder Silver Society heißt Gesundheit. Ist Gesundheit nicht weit mehr als ein Megatrend? Ist sie nicht ein menschliches Urbedürfnis?

Den Begriff Gesundheit in der Trend- und Zukunftsforschung zu verwenden, ist tatsächlich ein Problem. Denn Gesundheit ist gleichzeitig ein Urbedürfnis, ein Megatrend und der Name einer ganzen Branche. Das macht es kompliziert. Gesund zu sein, bedeutete lange Zeit, nicht krank zu sein. Bis die Ansprüche an Gesundheit enorm stiegen.

 

Eine Ihrer Studien ergab, dass Gesundheit für gut 70 Prozent der Befragten „körperliches Wohlgefühl“, „Balance von Körper und Seele“ sowie „Fitness und Leistungsfähigkeit“ steht. Wo führt das hin?

Seit der Pandemie zeigt die Entwicklung wieder in die andere Richtung. Alles, was sich mit dem Begriff Wohlgefühl und Wellness verbindet, hat in der Pandemie einen ordentlichen Dämpfer erfahren. Die Einheit von Körper, Geist und Seele wird wieder viel stärker als Abwesenheit von Krankheit wahrgenommen. Die Sehnsucht gesund zu sein ist wieder größer, nach dem eher symbolischen Gefühl sich wohlzufühlen.

 

Die zentrale These des Health Reports lautet, dass Gesundheit nicht nur eng mit unserem Lebensstil verbunden ist, sondern auch mit unserer Umwelt, und dass unsere Lebensweise wiederum Auswirkungen auf unsere Umwelt hat. Kurz, alles hängt mit allem zusammen. Sie sprechen daher von Holistic Health. Genügt es nicht, ausreichend zu schlafen, sich zu bewegen und gut zu essen, um gesund zu bleiben?

Die meisten Menschen erkennen erst seit Kurzem, wie wichtig es ist, sich zu entspannen, Pausen zu machen und ausreichend zu schlafen. Manche Milieus haben das bereits verinnerlicht. Doch dass man mithilfe von Apps Schritte und Kalorien zählen oder die Qualität des Schlafs messen kann, das sind Entwicklungen, die den Großteil der Bevölkerung erst nach und nach erreichen.

 

Das gilt auch für die Erkenntnis, dass bei Rückenproblemen Bewegung häufig sinnvoller ist als Ruhe. Holistic Health meint, so viel der Einzelne auch für seine Gesundheit unternimmt, er bleibt Teil eines Systems, ein Rädchen in einem großen Spiel.

 

Wird das Gesamtsystem Erde geschädigt, schadet das auch der Gesundheit des Einzelnen. Dass das Bewusstsein für diese systemischen Zusammenhänge wächst, in der Ge-sellschaft ebenso wie in der Ökonomie, ist von großer Bedeutung.

 

Noch mal zurück zum U-Bahn-Plan: Dort kreuzen sich die zwei Linien Gesundheit und Individualisierung an zwei Punkten. Self Care heißt der eine, Selbstoptimierung der andere. Was für ein Ich verbirgt sich hinter diesen Begriffen: Ein egoistisches Ich oder ein soziales Ich?

 

Sowohl als auch. Der elitäre Ansatz, sich nur um sich selbst zu kümmern, existiert genauso wie der Gedanke, seine Gesundheit zu pflegen, um mehr Kraft für andere zu haben Sportler optimieren mit regelmäßigem Training sich selbst, erleben zugleich aber auch eine Form von Gemeinschaftsgefühl und Zugehörigkeit. Das ist nicht so leicht zu trennen, denn der Mensch hat verschiedene Bedürfnisse. Grundsätzlich zu sagen, dass jeder, der Selbstoptimierung betreibt, ein Egoist ist, finde ich schwierig.

Besteht nicht die Gefahr, dass die Beschäftigung mit sich selbst, der Blick nach innen, auf Kosten von Empathie geht?
Auf jeden Fall. Vielleicht zeigen sich solche Reaktionen auch nur in Anfangsphasen, wenn jemand mit mentaler Optimierung beginnt und erst mal in sich selbst stürzt. Eine Art Erstverschlimmerung, die dazu führt, dass man am Ende wieder mehr auf andere achtet.

 

Selbstoptimierung liegt die Idee zugrunde, die beste Version seiner Selbst anzustreben
… das ist die sehr männliche Interpretation des Begriffs. Selbstoptimierung steht für sehr viel mehr als dafür eine perfektionierte Version von sich selbst zu erzeugen. Interpretiert man den Begriff etwas weicher, zählen auch Themen dazu, bei denen es nicht um höher, schneller, weiter geht. Son-dern um langsamer, bewusster und eine kollektive Grundorientierung. Selbstoptimierung bedeutet nicht automatisch Selbstmaximierung, sondern kann auch für Minimierung stehen. Für viele Menschen steht der Begriff vor allem für Selbstwirksamkeit, also für das Gefühl, selber etwas ausrichten zu können. Das kann mit Gesundheit zu tun haben, muss aber nicht.

 

Inwieweit kann die Gesellschaft von der Strategie Self Care profitieren?

Sehr stark. Wenn jeder und jede Einzelne diese Herausforderung annimmt, kann auch das System als Ganzes gesunden. Nur dann werde ich merken, dass ich etwas ausrichten kann und nicht ausgeliefert bin. Viele Menschen argumentieren, dass sie Self Care betreiben, um mehr Energie zu haben, für andere da zu sein.

 

Ein Einwand gegen Self-Care-Konzepte wie Yoga und Meditation lautet, dass sie Egoisten hervorbringen, die zwar zufrieden und gelassen sind, aber gleichgültig gegenüber großen gesellschaftlichen Fragen?

Klar, die Gefahr, sich abzukapseln und sich in sein Inneres zurückzuziehen, besteht. Aber wenn ich Sport treibe, besteht auch das Risiko, dass ich mich verletze. Deshalb
zu fordern, das eine wie das andere zu unterlassen, ergibt keinen Sinn. Vor der Corona-Pandemie war der Hang dazu noch ausgeprägter. Das hat sich inzwischen mit den vielen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, aber wieder eingependelt.

 

Selbstoptimierung bedeutet nicht automatisch Selbstmaximierung, sondern kann auch für Minimierung stehen

 

Corona hat auch deutlich gemacht, wie verletzlich Gesellschaften sind, wenn die Gesundheit bedroht ist. Und etliche Erkenntnisse geliefert über Schwachstellen im Gesundheitssystem. Welche halten Sie für die Wichtigste?

Die Erfahrung ist, dass wir nicht so gut vernetzt sind, wie wir gedacht haben. Dass wir als Gesellschaft, als System verletzbar sind, weil wir von anderen abhängig sind. Und dass es nicht sinnvoll ist, um jeden Preis outzusourcen, weil wir dann ohne Desinfektionsmittel, ohne Masken und ohne Antibiotika dastehen. Dass wir im Notfall alleine klarkommen müssen, ist ein wichtiges Learning gewesen. Und dass es Systeme gibt, die nicht so gut mit unseren Werten harmonieren, wie wir immer dachten. Eng verbunden mit dem Begriff Selbstoptimierung sind die digitalen Möglichkeiten, Daten zu erheben und seine Leistungsfähigkeit zu messen.

 

Geht damit nicht das intuitive Gefühl, was guttut und was nicht, verloren? 

Das ist ein alter Vorwurf. Sicher, es gibt Menschen, die Gefahr laufen, nur auf die Daten zu achten und nicht auf ihr Bauchgefühl. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall. Menschen, denen Daten Gewissheit geben, dass alles okay ist.

 

Ob ihr Nährstoffbedarf schon gedeckt ist. Ob sie genug trinken. Ob ihr Herzrhythmus Unregelmäßigkeiten aufweist. Oder ob sie ihre Medikamente eingenommen haben. Ich kann mir auch ein Gerät an den Rücken kleben, das mir sagt, ob ich meine Rückenübungen auf die richtige Art und Weise mache. Selbstoptimierung und Self Tracking kann zu gesundheitlicher Vor- und Fürsorge viel beitragen.

Wenn Menschen über immer mehr Möglichkeiten verfügen, sich selbst zu kontrollieren und zu checken, was bedeutet das für das Selbstverständnis von Ärzten?

Die Angst mancher Ärzte, durch Technologie oder Tracking ersetzt zu werden, halte ich für so unbegründet wie kurios. Je digitalisierter unser Alltag insgesamt wird, desto selbstverständlicher wird auch die Verwendung von Messdaten. Für Chroniker und Menschen mit gesundheitlichen Risikofaktoren können solche Messdaten unwahrscheinlich hilfreich sein.

 

Und wer im heimischen Badezimmer seinen Hormonstatus oder mögliche Ernährungsunverträglichkeiten testet, braucht ja trotzdem jemanden, der diese Ergebnisse einordnet, überwacht und mir weiterhilft. Und da ist und bleibt der Arzt der wichtigste Ansprechpartner. Niemand genießt mehr Vertrauen in gesundheitlichen Fragen als der Arzt, das zeigen Studien immer wieder. Und nach der Pandemie erst recht.

 

Viele ältere Menschen verbindet das Gefühl, jünger zu sein, als sie tatsäch-lich sind …
…Stichwort Klassentreffen: Da denkt man doch hinterher immer: Mein Gott, sind die alle alt geworden!

 

Welche Chancen ergeben sich, wenn die Älteren sich nicht alt fühlen? Das kann doch für eine Gesellschaft eine nützliche Ressource sein.

Nicht, wenn es bedeutet, dass Leute sich zwar jung fühlen, aber mit 60 trotzdem aufhören zu arbeiten. Wenn die Babyboomer vorzeitig in Rente gehen und ihre Lebensversicherungen ins Ausland tragen, weil man dort wunderbar leben kann, dann ist das eine Form von Ich-Zentriertheit, die gefährlich ist für eine Gesellschaft, ein systemisches Problem. Die Idee, im Alter etwas für Andere zu tun, ist in einigen Milieus zwar vorhanden, aber da wäre weit mehr möglich.

 

Niemand genießt mehr Vertrauen in gesundheitlichen Fragen als der Arzt, das zeigen Studien immer wieder

 

Um die guten Seiten des Altseins zu betonen hat die Trendforschung den Begriff Pro-Aging etabliert. Wofür steht er?
Pro-Aging beschreibt eine Umdeutung: Alter nicht zu verdammen mit Anti-Aging-Strategien, sondern es zu umarmen und die Erfahrungen und daraus resultierende Eigenschaften wie Gelassenheit wertzuschätzen. Und sich auf die positiven Aspekte des Älterwerdens zu konzentrieren.

 

Nie wussten Menschen so viel über ihren Körper und ihre Befindlichkeiten, nie zuvor gab es so viel Wissen und Möglichkeiten, gesund zu leben. Was ist das Ziel dieses Lebensstils? Älter zu werden? Gesund zu sterben? Unsterblichkeit?

Tja, suchen wir das Glück oder den Sinn? In Deutschland unterscheiden wir 28 ver-schiedene Milieus – wir haben sie mit dem Uranos-Institut erforscht –, in denen sich sehr viele verschiedene Lebensstile etabliert haben. Grundsätzlich gilt: Es gibt Menschen, die ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit haben und einfach wissen wollen, dass sie nachgewiesenermaßen gesund sind und sich keine Sorgen machen müssen. Es gibt Menschen, die von Unsterblichkeit träumen oder von ewiger Schönheit. Es gibt Menschen, die alles tun, was denkbar ist, um einen Beitrag für den Erhalt der Erde zu leisten. Und andere füllen damit ein Vakuum an Sinn und Werten.

 

Gesundheit als Ersatz für Religion?

Ja, es gibt nicht mehr so vieles, was Trost spendet. Wir sind mit unseren Fragen und unseren Problemen oft sehr allein. Das muss eine Gesellschaft auch erst mal verkraften.

 

Warum fällt es so schwer zu akzeptieren, dass Gesundheit natürliche Grenzen hat? Etwa dass ein älterer Mensch nicht mehr so gut hört?
Weil in unserer Gesellschaft die Haltung sehr verbreitet ist, dass alles möglich ist, wenn man hart genug daran arbeitet. Der Gedanke, aufgrund einer Krankheit, eines Leidens oder einer Schwäche bestimmte Dinge nicht tun zu können, ist für viele schwer erträglich. Das müssen Menschen erst wieder neu lernen.

 

Mit der Frage „Wie geht’s?“ beginnen viele Gespräche und Begegnungen. Kann man angesichts der Komplextät des Themas darauf überhaupt in einem Satz antworten?

Wahrscheinlich nicht. Sonst ist die Verabredung schnell vorbei. Ich finde trotzdem, dass das eine gute Eingangsfrage ist, denn sie gibt einem Gelegenheit, einen Moment lang in sich hineinzuhören.

 

Ausnahmsweise zum Schluss: Wie geht’s Ihnen?
Wenn ich feststelle, dass mich persönlich nichts negativ beeinflusst, trotz all der vielen Dinge auf der Welt, die überhaupt nicht in Ordnung sind, bin ich sehr dankbar. Also: Danke, es geht mir gut.

 

 

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