16. Januar 2024

Judith Cyriax und Margit Hiebl

Warum wir uns heute jünger denn je fühlen

Gefühltes und biologisches Alter: Die meisten Erwachsenen fühlen sich jünger, als sie nach Lebensjahren sind. Was sagen Ärztinnen und Ärzte zur zunehmenden subjektiven Verjüngung der Gesellschaft?

@ Bozan Güzel

Werd’ ich noch jung sein, wenn ich älter bin?“, fragte sich Liedermacher Konstantin Wecker einst in den 1980er-Jahren. Die Sorge scheint unbegründet, wenn es nach einer neuen Studie der Berliner Humboldt-Universität geht. Diese untersuchte nämlich über einen Zeitraum von 24 Jahren mit 15.000 Probanden, ob und wie sich unser gefühltes Alter verändert.

 

Die Ergebnisse, so schreiben die Autoren der Studie, zeigen einen historischen Trend zu einem jüngeren subjektiven Alter. So fühlten sich beispielsweise im Jahr 1936 Geborene im Alter von 65 siebeneinhalb Jahre jünger. Bei 1946 Geborenen verringerte sich das subjektiv gefühlte Alter mit 65 bereits um mehr als zehn Jahre auf 55. Das heißt: Menschen werden nicht nur immer älter, weil die Lebenserwartung steigt, sie fühlen sich dabei auch immer jünger.

 

Ein Trend, den auch Ärzte in der täglichen Praxis erleben, ob im Bereich der Orthopädie, Augenchirurgie, Ästhetischen Medizin, Dermatologie oder auch Psychotherapie. Denn wie alt sich Menschen fühlen, hat eine erhebliche Relevanz. „Wer sich jünger fühlt, hat im Allgemeinen auch ein höheres Wohlbefinden, bleibt deutlich länger gesund und lebt sogar länger“, so Prof. Dr. Andreas Menke, ärztlicher Direktor des Medical Park Chiemseeblick, Fachklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

 

Menschen werden nicht nur immer älter, weil die Lebenserwartung steigt, sie fühlen sich dabei auch immer jünger

Viele hätten auch durch technologische Fortschritte weniger harte körperliche Arbeit verrichtet und sind deshalb nicht so aufgebraucht. Deshalb könnten sie im fortgeschritteneren Alter auch noch viel mehr machen als noch vor zwanzig Jahren.  „Nicht zu vergessen technische Errungenschaften wie E-Bikes, die es ermöglichen, auch mit über 70 noch flott den Berg hochzufahren.“

 

Patienten und Patientinnen sind heute sind nicht nur aktiver, sondern haben einen deutlich höheren Anspruch an die Lebensqualität, auch nach endoprothetischen Operationen, berichtet Prof. Dr. Rüdiger von Eisenhart-Rothe, Direktor der Klinik für Orthopädie und Sportorthopädie am Klinikum rechts der Isar in München. Hier gibt es dank des technischen Fortschritts, wie dem Einsatz von Robotik, individuelle Lösungen.

 

Ganz neue Sichtweisen

 

Digitalisierung erleichtere zudem den Zugang zu Wissen und Information über medizinische Möglichkeiten und moderne Technologien – auch für ältere Generationen, meint Dr. Christine Mielke, Fachärztin für Augenheilkunde in Berlin. Die PatientInnen seien nicht nur besser informiert, sondern auch offener für die Behandlungsmethoden, die ihnen eine höhere Sehqualität ermöglichen. Aber auch soziodemografische Faktoren wie Bildung, höhere Lebenserwartung und Globalisierung sind ein Grund, warum die Menschen länger aktiv sind und sich jung fühlen, gibt Mielke zu bedenken:

 

„Weil der Eintritt ins Berufsleben oft später erfolgt, aber auch späte Karrieren möglich sind, entstehen neue Lebensmodelle. Auch die Familienplanung verschiebt sich auf später. Ein Neuanfang oder Quereinstieg in mittleren Lebensabschnitten ist daher nicht mehr ungewöhnlich.“ Hinzu kämen die sozialen Medien, die das Streben nach Jugend und Schönheit forcieren.  Wie sich der Trend auf die Arbeit von Ärzten auswirkt, hat Premium Quarterly bei fünf Spezialistinnen und Spezialisten in Erfahrung gebracht:

 

„Weil die Menschen aktiver sind, nimmt auch der Wunsch nach Unabhängigkeit von einer Brille zu“, sagt Augenärztin Dr. Christine Mielke. „Das wirkt sich natürlich auf meine augenchirurgische Tätigkeit aus.“ Das gelte für alle Sehbereiche. „Die Lesebrille liegt nicht mehr nur neben dem Buch, sondern ist ständig beim Blick aufs Smartphone notwendig. Der Computer spielt eine immer zentralere Rolle – hier ist der Intermediärbereich zwischen 40 und 60 Zentimeter im Fokus. Und die gute Sicht in die Ferne gewinnt durch die steigenden Outdoor-Aktivitäten und das Gesundheitsbewusstsein auch der älteren Generation an Bedeutung.“

 

Vice versa ermögliche besseres Sehen auch eine deutlich aktivere Lebensweise bis ins hohe Alter, so die Chirurgin. In den letzten 15 Jahren habe daher die Implantation von Linsen mit refraktivem Zusatznutzen in ihrem OP-Zentrum zugenommen, auch bei PatientInnen, die sich primär wegen einer Linsentrübung vorstellen.

 

Möglich ist diese Entwicklung durch den medizinischen und technischen Fortschritt – insbesondere durch die hohe Qualität der heute verfügbaren Intraokularlinsen (IOL). „Solche Intraokularlisen verfügen über optische Möglichkeiten, welche die Notwendigkeit für das Tragen einer Brille nach der Operation in verschiedener Form mindern“, so Dr. Mielke.

 

In den letzten 15 Jahren habe daher die Implantation von Linsen mit refraktivem Zusatznutzen in ihrem OP-Zentrum zugenommen

 

Als geradezu bahnbrechend bezeichnet sie hier die Entwicklung von sogenannten torischen IOL, die gleichzeitig einen bestehenden Astigmatismus korrigieren. „Aber auch Presbyopiekorrigierende IOL, die zur Korrektur der Altersweitsichtigkeit dienen, haben gigantische Entwick-lungen und Verbesserungen der optischen Qualität im letzten Jahrzehnt erfahren.“

 

Für die Augenchirurgin persönlich ist das Thema „Sich-jung-Fühlen“ gelebte Realität. „Ich komme aus einer sehr aktiven Familie, die immer sehr gesund gelebt hat und alle, auch die Großeltern schon, weit über das Rentenalter hinaus gearbeitet haben, gereist sind und ihre Hobbys gepflegt haben.“

Haut Couture

 

Wenn es um den Erhalt von Jugendlichkeit und Frische geht, sind oft Dermatologen
die primäre Anlaufstelle. „Das Gesicht ist das erste und offensichtlichste Körperteil, an dem man das tatsächliche Alter erkennen kann“, erklärt der Münchner Hautarzt Dr. Stefan Duve. „Hier läuft die Alterung im Endeffekt für jeden sichtbar ab. Außer natürlich, man hat durch Beautyeingriffe sein Äußeres schon stark verändert.“

 

Ungefähr ab dem 25. Lebensjahr beginnt die Hautalterung: Die Lederhaut verliert Kollagen und büßt damit ihre Elastizität und Spannkraft ein. Die Zellteilung verlangsamt sich und damit auch die Hauterneuerung. Zudem wird durch den Feuchtigkeitsverlust die Haut trockener. Wirklich erkennbar ist das in diesem Alter nicht, legt aber den Grundstein für den weiteren Alterungsprozess, der spätestens ab 40 sichtbar wird.

 

Jetzt machen sich Falten bemerkbar, der Teint verliert Strahlkraft, die Kontur erschlafft, Pigmentflecken treten auf. Genetische Faktoren spielen bei der Hautalterung eine wichtige Rolle, aber auch der persönliche Lebensstil entscheidet, wie schnell die Haut altert. Genau dieser ist bei den meisten Menschen der Grund dafür, warum sie sich jünger fühlen. „Lifestyle-Gewohnheiten haben viel mehr Gewicht als früher. Heute weiß man, dass eine passende Pflege, gesunde Ernährung und regelmäßiger Sport ausschlaggebend für ein jüngeres Mindset und einen gesünderen Körper sind“, so Dr. Duve.

 

Um wieviele Jahre lässt sich die Haut mit medizinischen Behandlungen verjüngen?

 

Ein Gefühl, das der Arzt auch für sich selbst in Anspruch nimmt. Fühlt er sich doch energetischer, leistungsfähiger und belastbarer, als es seinem eigentlichen Alter entspricht. Zudem blickt ihm im Spiegel ein Gesicht entgegen, das durch verschiedene Eingriffe jünger aussieht, was seiner Meinung automatisch dazu führt, sich auch jünger zu fühlen.

 

Stichwort Gesicht: Um wieviele Jahre lässt sich die Haut mit medizinischen Behandlungen verjüngen? Dr. Duve: „Tatsächlich jünger machen lässt sie sich leider nicht. Man kann jedoch durch die Klassiker der minimalinvasiven Dermatologie – allen voran Botox und Unterspritzungsmittel –, aber auch durch Laserbehandlungen oder Fäden ein ebenmäßigeres, glatteres und gepflegtes Hautbild erlangen.“

 

Und das besser früher als später, denn „obwohl die Haut einer Siebzigjährigen von einer Behandlung mit Hyaluronsäure oder Botox profitiert, kann man trotzdem nicht alle klassischen Alterszeichen kaschieren“.

 

Auch sogenannte noninvasive Skin-Booster können ein paar Jahre aus dem Gesicht zaubern. So sorgt beispielsweise das „AGNES Radiofrequenz-Microneedling“ für eine leichte Straffung der Haut, die Ultraschall-Liftingmethode „Ultherapy“ re-duziert Fältchen rund um Mund und Augen und strafft die Kinnkontur. Ein Rat des Arztes: „Irgendwo am restlichen Körper verrät sich dann doch das eigentliche Lebensalter, weswegen auch dieser durch effektive Behandlungen, Stichwort Bodycontouring, jünger gehalten werden sollte.“

Face Time

 

Der Wunsch nach einem jungen Look war nicht immer so präsent wie heutzutage. Interessanterweise wollten Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts lieber älter als jung wirken. So verwendeten beispielsweise Männer in ihren Dreißigern gerne einen Gehstock.

 

„Man hat damit ein nicht vorhandenes Gebrechen vorgetäuscht, um dadurch den Status von alt und erfahren zu erlangen“, so Prof. Dr. Thilo Schenck. „Es war nahezu verpönt, den Alterungsprozess zu negieren oder gar zu beseitigen.“ Heutzutage muss man nicht mehr alt aussehen, um über Erfahrung zu verfügen. Im Gegenteil – Agilität, gepaart mit einem frischen Aus-sehen, zeugt von einem Lebensstil, der altersunabhängig ist.

 

Der Professor ist mit dem „Forever Young“-Effekt ziemlich vertraut: „Gerade wenn man sich mit Menschen umgibt, die man schon lange kennt, wird uns das Gehirn meist die jüngere Version des Gegenübers präsentieren. Es gibt da gleichsam einen blinden Fleck – man ruft sich eher die optisch schmeichelnde Erinnerung an diese Personen ins Gedächtnis als den Ist-Zustand. Ich bin da keine Ausnahme“.

 

„Eine der effektivsten Maßnahmen dafür ist die Lidstraffung“

 

Doch auch wenn ein wohlwollendes Gegenüber einem eine beständige Frische attestiert, der tägliche Blick in den Spiegel zeigt dann doch das wahre Alter. Und so sitzen in seinem Wartezimmer immer mehr Patientinnen und Patienten, die auch äußerlich ihre gefühlte Jugendlichkeit zum Ausdruck bringen möchten. Eine der effektivsten Maßnahmen dafür ist die Lidstraffung. Das Durchschnittsalter der PatientInnen beläuft sich dabei zurzeit auf rund 43 Jahre, also noch kein wirklich hohes Alter.

 

Für Prof. Dr. Schenck aber genau das richtige: „Vor allem, was das Gesicht betrifft, ist es sinnvoll das Reverse-Aging mit regelmäßigen kleinen Eingriffen zu beginnen. So kann man sich sukzessive an das gewünschte Ergebnis heranarbeiten. „Die Patienten müssen wissen, was möglich ist und was nicht. Man wird nie das Gesicht des 20-jährigen Ichs bekommen, aber immer eine frischere Version des Jetzt-Zustands“, so der Facharzt. Mit einer dauerhaften medizinischen Begleitung werden die Ergebnisse graduell auch immer natürlicher als mit einem einmaligen großen Eingriff.

Knochenarbeit

 

„Aufgrund der demographischen Entwicklung und der wachsenden Ansprüche hat die Zahl der endoprothetischen Operationen zugenommen. Auch in höherem Alter wollen die Menschen trotz Arthrose mehr Lebensqualität und sportlich aktiv sein“, meint Prof. Dr. Rüdiger von Eisenhart-Rothe, Direktor der Klinik für Orthopädie und Sportorthopädie am Klinikum rechts der Isar in München.

 

In der Vergangenheit war man zufrieden, den Alltag schmerzfrei bewältigen zu können. Heute hat man den Anspruch, sportlich aktiv zu sein und auch nach einer Operation der sportlichen Aktivität weiter nachgehen zu können. „Aber nicht immer, wenn man sich jünger fühlt als man ist, ist auch alles möglich.“

 

Am Anfang muss daher immer eine realistische Auf- und Abklärung dessen stehen, was realisierbar ist und was PatientInnen sich wünschen. Doch mit dem heutigen technischen Stand von Implantaten und Endoprothesen ist sehr viel machbar: Wer vorher Ski gefahren ist, kann das dann auch wieder tun. „Wir empfehlen nur, den Fahrstil etwas anzupassen – nicht weil die Prothese das nicht aushält, sondern weil es nicht zu einem Unfall kommen soll.“

 

Und vielleicht auch nicht gerade mit dem Skifahren anfangen, wenn man es vorher noch nicht getan hat. Aber letztlich gilt: Es ist wenig sinnvoll, PatientInnen nur schonende Sportarten vorzuschlagen, wenn sie daran dann keine Freude haben. Denn man weiß auch aus der Praxis: Menschen, die aktiver sind, sind deutlich zufriedener mit ihrer Prothese.

 

Mit dem heutigen technischen Stand von Implantaten und Endoprothesen ist sehr viel machbar

 

Ist eine Operation unumgänglich, wird heute auch aus funktionalen Gründen nicht mehr bis zum letzten Augenblick gewartet. „Inzwischen weiß man, dass die Funktion des Gelenks vor der Operation ganz wesentlich bestimmt, wie die Funktion danach ist“, so Prof. Dr. von Eisenhart-Rothe. „Wartet man zu lange, kann es sein, dass Hüfte oder Knie nicht mehr auf das gewünschte Niveau gebracht werden können.“

 

Je länger man wartet, umso schlechter werden auch Muskulatur und Beweglichkeit, PatientInnen tun sich nach der OP deutlich schwerer, wieder auf die Beine zu kommen. Um dem gegenzusteuern, gibt es noch die Möglichkeit der Prähabilitation, mit der PatientInnen bereits optimiert in die OP gehen. Denn, so der Professor: „Der Weg in die Inaktivität ist immer der falsche.“

Seelenküsse

 

Man fühlt sich nicht nur jünger, es ist auch real so, weil man länger fit ist. „Dennoch steht und fällt alles mit der psychischen Gesundheit“, weiß Prof. Dr. Andreas Menke, ärztlicher Direktor des Medical Park Chiemseeblick, Fachklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. „Bin ich psychisch gesund, fühle ich mich, wie in der Studie beschrieben, jünger. Wenn ich psychisch nicht gesund bin, kehrt sich alles schnell ins Gegenteil: Dann kann ich noch nicht mal mehr das tun, was ich altersgemäß machen sollte.“

 

Eine schwere Depression setzt einen dann komplett außer Gefecht. „Das fühlt sich nicht nur schlecht an, man stirbt auch tatsächlich früher“, so Menke. Studien zeigten, dass sich die Lebenserwartung um 10 bis 15 Jahre reduziert. „Deshalb sollten auch Sich-jung-Fühlende markante Einschnitte, wie den Eintritt ins Rentenalter, nicht unterschätzen“, so Menke.

 

„Darauf muss man sich vorbereiten, um nicht in ein Loch zu fallen, wenn man keine sinnvolle Aufgabe mehr hat oder nicht mehr ausgelastet ist.“ Nicht selten führt dies zu Depressionen, durch die man dann unter seinen Möglichkeiten bleibe, so Menke.

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