22. September 2024
Julia Werner
Wann ist gut gut genug? Warum ist das Streben nach perfekten Ergebnissen häufig vergeudete Lebenszeit? Und: weshalb „adaptive Zieldistanzierung“ manchmal das allerbeste Mittel der Wahl ist
@ Engin Akyurt
Kennt jeder, der mal aufs Amt musste oder ein Schülerpraktikum in einer Poststelle machen musste: Lustige Arbeitnehmersprüche. „In meinem nächsten Leben werde ich Papierkram, der bleibt einfach liegen,“ steht immer irgendwo an einer Bürowand, und auf der Kaffeetasse: „Ist mir egal, ich lass das jetzt so.“
Man kann Leute, die schon aufgeben, bevor sie überhaupt angefangen haben, natürlich bemitleiden. Oder beneiden. Weil sie sich einfach schon vorher mit dem abgefunden haben, was bei ihrer Arbeit rauskommt. Mittelmäßig unterdurchschnittlich? Hauptsache gemacht. Diesem tiefenentspannten Bürofachmann steht die fleißige Arbeitsbiene sprachlos gegenüber. Egal, ob sie ein Künstler ist, ein Schreiberling, ein Statistiker oder eine Putzhilfe, sie denkt immer, dass da noch was geht.
Die Fliesenfugen könnten noch eine Runde Zahnbürstenschrubben gebrauchen, das Porträt einen blaustichigeren Hintergrund – oder gleich ein neues Gesicht, und ein Text ist sowieso nie fertig. Die schlimmsten Mitglieder der „Ich geh nur noch einmal schnell drüber“-Fraktion sind übrigens Modedesigner.
Auf den Beginn einer Show von Marc Jacobs in New York musste das Publikum einmal – wie bestellt und nicht abgeholt – zweieinhalb Stunden warten. Der Maestro war eben noch nicht fertig und trennte ein paar Looks noch mal schnell auf, um sie neu zusammenzufügen. Das Publikum dankte es ihm mit Empörung, woraufhin jede Marc-Jacobs-Show nach diesem Abend pünktlich um 18 Uhr startete, und wer dann nicht da war, kam nicht mehr rein.
Aber Marc Jacobs ist halt eine große Nummer. Wir Mini-Marcs haben sehr oft ja gar kein riesiges Publikum, das das Ergebnis unserer Arbeit mit Hochspannung erwartet. Umso wichtiger also für die eigene Gesundheit ist es, im richtigen Moment loszulassen. Der Psychologie-Professor Carsten Wrosch, der an der kanadischen Universität Concordia das Aufgeben als Alternativstrategie zu seinem Thema gemacht hat, nennt den Absprung „adaptive Zieldistanzierung“.
Heißt: In dem Moment, in dem wir merken, dass wir nicht weiterkommen – vor allem bei identitätsstiftenden Zielen – ist das Lassen die schlauere Strategie. Weil das Auf-der-Stelle-Treten allerhöchster Stress ist, rettet es uns vor allerlei Unangenehmen wie zum Beispiel hormonellem Ungleichgewicht, erhöhten Cortisol– und Entzündungswerten und ja, im schlimmsten Fall vor Depressionen.
Aber wie macht man das, sich vom Ziel, also dem perfekten Ergebnis, zu distanzieren? Künstler werden zu diesem Thema regelmäßig befragt. Gerhard Richter antwortete in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen so: „Wenn ich nichts mehr dazu tun kann. Wenn keine blöde Stelle mehr im Bild ist. Dann kann ich nichts mehr machen, dann ist fertig. Das kann sehr plötzich gehen.“
Nicht jeder ist bei diesem Bauchgefühl allerdings so selbstsicher. Der Kurator Hans Ulrich Obrist berichtete in einem Interview sogar von einem Künstler, der ein schon verkauftes Bild zurückforderte, um es erneut zu bearbeiten. Und der große Leonardo da Vinci bemerkte vor vielen Jahrhunderten leicht resigniert: „Kunst ist niemals fertig, sie wird nur verlassen.“
Das ist eine bittere Wahrheit, die eigentlich für alles gilt – vom Jobprojekt bis zum großen Lebensplan an sich. Und deswegen so wichtig ist, weil die Besessenheit vom perfekten Ergebnis die Dinge bekanntlich zerstören kann.
Man kann zum Beispiel sein halbes Leben dem absoluten Kinderwunsch widmen und vor lauter Hormonzyklen und nicht geglückten In-vitro-Befruchtungen sehr viel Geld und noch mehr Lebensfreude verlieren.
Natürlich bekommt der perfekte Mensch perfekte Kinder und lebt fortan glücklich in einer perfekten Familie. Aber: Nobody’s perfect. So manche Frau wurde ja plötzlich schwanger, nachdem sie diesen sinnstiftenden, ultimativen Herzenswunsch losgelassen hatte und erst mal in die Karibik geflogen war.
Ja, das sind seltene Wundergeschichten, aber sie illustrieren, dass im Lassen oft der wahre Zauber liegt. Der kreative Geniestreich passiert öfter, als wir glauben, von ganz alleine. Und zwar im Pausenmodus, nicht beim ewigen Löcher in die gleiche Wand bohren.
Das gilt sogar fürs Anziehen, dem größten Feld der Verschlimmbesserung. Der große Giorgio Armani antwortete auf die Frage nach einem Rezept für guten Stil deswegen trocken: „Bevor Sie das Haus verlassen, nehmen Sie drei Sachen wieder ab.“ Etwas hinzufügen, etwas wegnehmen, wiederholen. Bis idealerweise irgend-wann der Groschen fällt.
Ob man auf dem richtigen Weg ist oder es lieber lassen sollte, kann man in Wahrheit schon währenddessen spüren. Man muss nur lernen, sich selbst zuzuhören – und Mut zur Lücke haben. Jean-Luc Godards Dokumentarfilm „Sympathy for the Devil“ wurde zwar von der Kritik zerrissen, ist aber wegen der Aufnahmen der Rolling Stones trotzdem absolut sehenswert.
Der Nouvelle- Vague-Star durfte die Stones nämlich bei der Arbeit an ihrem gleichnamigen späteren Hit filmen. Da sitzen sie zunächst, scheinbar lust- und kraftlos und jammen einen Blues, der sich dann langsam und stetig in den Samba-Wahnsinn verwandelt, der bis heute jedem sofort in die Knochen fährt, sobald wir die ersten Takte hören.
Da sind Bill Wyman und Brian Jones, scheinbar abseits. Da ist Charlie Watts, hochkonzentriert. Da ist Keith Richards, besessen, sogar Bass spielend. Und Mick Jagger, ein bisschen böse, arrogant, gelangweilt rauchend beim Singen.
Plötzlich tauchen Bongos auf, und sein Gesang klingt schon ein kleines bisschen teuflischer. Am Ende dirigiert Richards eine Men- schengruppe inklusive der hexenhuttragenden Anita Pallenberg vors Mikrofon. Die legendären „Whoo, whoos“ erklingen. Und Mick Jagger, hinter einer Trennwand, singt nun elektrisiert, tanzend, ja, er grinst. Das ist der „Wir haben’s!“-Moment. Der, in dem nichts mehr hinzuzufügen ist. Und nichts mehr wegzunehmen.
@ Pixabay
Um diesen Moment geht es in Wahrheit immer. Manchmal braucht man Feedback von außen, weil man so mit der eigenen Arbeit oder dem Lebensplan verschmolzen ist, dass man den Status quo nicht mehr sehen kann. Deadlines sind für Kreative deswegen wahre Geschenke.
Sie müssen irgendwann einfach ihr Kind in die Welt schicken, unabhängig davon, ob sie denken, dass sie fertig sind oder nicht. Dann kommt Lob, und das Kind ist erwachsen. Oder Kritik, dann kommt das Kind wieder nach Hause und wird umerzogen.
Manchmal muss man viele Male neu anfangen, also mehrere Versionen der gleichen Idee angehen, um zur Lösung zu kommen. Alle Wege zur ja nie zu erreichenden Perfektion sind Lernprozesse. Man lernt schließlich selbst von den Rohrkrepierern – nämlich das, was nicht funktioniert.
Und manchmal muss man sich eingestehen, dass man es sich längst auf sehr alten und vertrockneten Lorbeeren, also längst vergangenen Erfolgen, bequem gemacht hat. Anders: dass man nichts mehr lernt. Das ist die allerhöchste Zeit fürs Lassen, weil nur das Lassen Platz für etwas Neues schafft.
Ein gutes Beispiel ist die Tennisspielerin Andrea Petkovic, die 2022 ihre Karriere mit 34 Jahren beendete, obwohl sie gerne bis 50 weitergespielt hätte. Weil sie merkte, dass sie nie ganz an die Spitze kommen würde. Also sah sie keinen Sinn mehr darin, all ihre Kraft und Energie in dieses Ziel zu stecken.
Das Multitalent veröffentlichte schon in ihrer aktiven Karriere ein Buch, heute arbeitet sie als Moderatorin und Autorin. Und sie sieht dabei nicht nur sehr erfolgreich, sondern auch sehr glücklich aus. Der Formel-1-Fahrer Nico Rosberg hingegen gewann genau einen WM-Titel und verabschiedete sich flugs aus dem Rennzirkus. Vielleicht weil er wusste, dass er keine Chance auf einen weiteren Titel haben würde.
Man kommt aber nicht umhin zu spekulieren, dass da schon noch was gegangen wäre – ein weiterer WM-Titel mit einem anderen Team, eine neue Version des gleichen Lernprozesses? Vielleicht würde er dann heute zu den ganz Großen gehören, vielleicht aber auch nicht.
Im Loslassen liegt nun mal immer auch ein gewisses Risiko. Folgen kann das große Loch oder der große Geniestreich. Nichts für Angsthasen also, weder für Bürohengste noch für ewige Pseudo-Perfektionisten. Vielleicht sollte der Kaffeetassenspruch also einfach ein bisschen heldenhafter lauten: „Es ist mir nicht egal. Aber ich lass ich das jetzt so!“