Rebekka Reinhard über die Natur der Schönheit 

Warum es höchste Zeit ist, dass unsere Gesellschaft die globale Verantwortung übernimmt und den erzwungenen Verzicht in einen gewollten Minimalismus verwandelt

©Sung-Hee Seewald

© Sung-Hee Seewald

„Am Ende sind auch wir nur Tiere, allerdings angeblich vernunftbegabt“

Philosophie braucht keinen platonischen weißen Bart oder muss wie Diogenes in einem Fass wohnen, um weise zu sein. „Man ist nie zu jung oder zu alt, um zu philosophieren“, sagt Dr. Rebekka Reinhard, eine der bekanntesten Philosophinnen Deutschlands. „Was zählt, sind Mut, Neugier und die Bereitschaft, wach zu denken.“ Auf diese Weise gelingt es der Bestsellerautorin (Kleine Philosophie der Macht (nur für Frauen), Würde Platon Prada tragen? Philosophische Überlebenstipps für den Lifestyle-Dschungel) und gefragten Rednerin immer wieder, aktuelle Themen wie Digitalisierung, Feminismus oder auch die Sinnkrise der Gesellschaft in größere Zusammenhänge zu stellen, ungewohnte Perspektiven aufzuzeigen und uns zu inspirieren.

 

Als Philosophin sind Sie für Utopien zuständig. Werden wir uns eigentlich je mit der Natur versöhnen können?

Versöhnung mit der Natur setzt voraus, dass wir uns von ihr entfremdet haben, oder zumindest, dass sie uns fremd geworden ist. Das ist spätestens mit Beginn der Industrialisierung der Fall, als man – klassisches Beispiel – etwa Eisenbahnschienen durch einst unberührte Landschaften legte. Damals dachte man, man müsste die Natur um des zivilisatorischen Fortschritts willen beherrschen. Heute sehen wir, dass derselbe Fortschritt unsere Lebensgrundlagen zerstört.

 

Warum haben wir eigentlich ein so gespaltenes Verhältnis zur Natur? Auf der einen Seite umarmen wir Bäume, auf der anderen betreiben wir immer noch Raubbau an unserer Erde, als gäbe es kein Morgen.

Das ist unsere westliche Zivilisation. Die USA sind das paradigmatische Beispiel. Diese Nation, die als kapitalistisch potentestes Land der Welt den ganzen Kontinent aufs Brutalste erschlossen und unterjocht hat. Dieses Höher, Schneller, Weiter auf Kosten der Natur, das hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland manifestiert. Unser urmenschliches Bedürfnis, in der Natur zu sein, wurde auf einen Lifestyle unter vielen reduziert. Zusätzlich erzeugte man Wünsche, künstliche Bedürfnisse, die mit der Freude an der Natur und dem Bewusstsein ihrer Ursprünglichkeit nicht viel zu tun haben.

 

Was genau sind das für zivilisatorische Bedürfnisse?

Etwa die künstlich erzeugte zwanghafte Vorstellung, überall und sofort an allen Ecken und Enden der Welt sein zu müssen. Natürlich mit Billigflügen, mit SUVs, per Kreuzfahrtschiff. Und wenn wir dann dort sind, sollte das Naturerlebnis möglichst cozy sein. Das Wilde, Ursprüngliche wird kolonialisiert, gezähmt und in eine Art Fake-Natur verwandelt.

 

Die Industrialisierung der Natur?

Genau, wir fliegen nach Bali oder auf die Malediven und erleben dort ein Best-of unserer Vorstellung von Exotik. Was sich übrigens immer weniger Menschen leisten können.

 

Aber seitdem es Menschen gibt, greifen wir doch in die Natur ein. Gibt es denn eine absolute Grenze zwischen Wohl und Weh für die Natur im Zusammenleben mit dem Menschen?

Der britische Wissenschaftler James Lovelock vergleicht die Erde mit einem lebenden Organismus. Die Erde, die Natur, jegliche Existenz auf diesem Planeten hat eine bestimmte Lebensdauer. Und Lovelock vergleicht die Erde mit einem sehr alten Menschen. Wenn die Natur ‚alt‘ wird, sollte man sie auch wie einen alten Menschen behandeln. Respektvoll. Vorsichtig. Beschützend. Für mich wäre die Grenze überall da überschritten, wo wir davon abweichen. Wie es scheint, haben das die jungen Leute schon vor Corona und der sogenannten Zeitenwende begriffen und eine starke Gegenbewegung aufgebaut.

 

Meinen Sie Fridays for Future?

Unter anderem. Auch das Vegetarier- oder Veganertum, die neue Lust am Wandern, dass man nicht nur regional kauft, sondern auch Urlaub zu Hause macht. Nachhaltigkeit ist längst kein kleiner Trend mehr, sondern eine ernst zu nehmende Bewegung, die schon bald zu einem Muss werden könnte. Wenn unsere Wirtschaft einbricht, droht uns ein Zwangsverzicht. Aufs Reisen, auf Fleisch, auf vieles, das für die meisten heute ganz alltäglich ist. Das birgt allerdings auch die Chance auf eine völlig neue, freiwillig gewählte Lebensform im Einklang mit der Natur. Die Umwelt neu entdecken, das Ursprüngliche genießen. Schon jetzt sind Waldwanderungen oder Bergführungen bei vielen Familien der größte Hit. Dabei muss das Vokabular der Natur oft komplett neu gelernt werden, um ihre Schönheit überhaupt benennen und verstehen zu können. Wie heißt welche Pflanze, welches Tier frisst was? Welches wird gefressen? Die Zyklen des Lebens, des Werdens und Vergehens. Auch wir Menschen kommen aus der Erde und gehen in sie zurück. Es täte uns gut, diese Hybris, uns als Krone der Schöpfung zu sehen, endlich abzulegen. Am Ende sind auch wir nur Tiere, allerdings angeblich vernunftbegabt und sehr adaptionsfähig.

„Mein Traum wäre eine Schönheit, die Menschen verbindet”

Haben wir nicht deshalb die Pflicht, unser Leben zu ändern? Und zerstört der neue grüne Massentourismus die Alpen nicht genauso?

Es ist alles eine Frage des rechten Maßes. Aristoteles’ Mesotes-Lehre ist die Lehre unserer Zeit. Weder zu viel noch zu wenig, sondern genau richtig. Wir müssen wieder ein Bewusstsein für den Maßstab der Natur entwickeln. Dann können wir auch ihre Kraft respektieren und müssen uns nicht wundern, dass es nach jahrhundertelanger Ausbeutung entweder kein Wasser mehr gibt oder viel zu viel. All die Klimaszenarien, Dürren oder Flutkatastrophen – die Natur spiegelt unser Verhalten wider. Es ist fünf nach zwölf. Dennoch glaube ich, dass wir einen Systemwandel hinkriegen könnten. Voraussetzung wäre, dass unsere Gesellschaft sich als Gemeinschaft versteht, die globale Verantwortung übernimmt und den erzwungenen Verzicht in einen gewollten Minimalismus verwandelt, der nicht nur für einige wenige, sondern für möglichst alle gut ist. Immerhin sitzen wir alle im selben Boot.

 

Das klingt beinahe romantisch. Waren es nicht auch die Romantiker, die die Natur als gottgleich beschrieben?

Ja, und ich bin ein großer Fan der Romantik und ihrer Ästhetik. Zugleich bin ich überzeugte Stoikerin. Was mich an der Lebenskunstlehre des Stoizismus so begeistert, ist die Idee, dass man jede Lebenssituation, jede Herausforderung mit Herz und Hirn gestalten kann. Immer natürlich im Rahmen der Möglichkeiten, die einem aktuell zur Verfügung stehen. Und da sind wir wieder bei der Ästhetik: Wann immer ich gestalte, und sei es ein noch so kleiner Bereich, mache ich etwas schön. Mache ich aus Chaos Kosmos. Und Kosmos steht in der griechischen Philosophie für Ordnung und die Proportion des rechten Maßes. Für mich steckt in „Kosmos“ ein Sinnversprechen als Basis von Kultur. Wir sind nicht nur Kulturwesen, wir sind auch Naturwesen, und wir können der Natur etwas zurückgeben. Das richtige Maß.

 

Dann wären Kultur und Natur kein Gegensatz mehr?

Nein, dann würden wir endlich nicht mehr nur gelangweilt oder gestresst diese Welt verwalten, sondern sie aktiv und lustvoll gestalten. Das ist unsere Riesenchance in der Zeitenwende. Die Natur nicht mehr naiv als „natürlich“ im Sinne von „selbstverständlich“ wahrzunehmen.

 

Der Strom kommt aus der Steckdose ...

… und das Wasser aus dem Hahn. Die Saturiertheit der Gesellschaft, die sich an den Wohlstand gewöhnt hat, muss aufgebrochen werden. Erfolg, also ökonomischer Erfolg, und Eudaimonia, ein gutes, sinnvolles Leben im ethischen Sinne, müssen zusammengedacht werden. Zum Glück bedeutet Eudaimonia auch schönes Leben. Eines, das wir genießen sollen dürfen.

 

Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen Männern und Frauen und ihrer Beziehung zur Natur?

Man muss wohl ein Ensemble aus biologischen Faktoren und geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen betrachten. Seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert ist die Frau der Sphäre der Weiblichkeit und der Abhängigkeit zugeordnet und sehr eng verbunden mit der Natur. Dazu gehört ihr verführerischer, schöner, natürlicher und vor allem fruchtbarer Körper. Der Zyklus, der es uns ermöglicht, zu gebären. Ich glaube, dass das fortwirkt bis heute, dieses Sorgebewusstsein und Kümmern der modernen Frau und Mutter um den Planeten und die nächsten Generationen. Der Mann steht dagegen traditionell für den kulturellen, ökonomischen, zivilisatorischen Fortschritt, für die Sphäre der Autonomie.

 

Und wie ist das Verhältnis von Schönheit und Natürlichkeit heute? Sind wir da auf einem guten Weg? Zurück zur Natur – sprich Body Positivity und Co?

Für mich ist die Rede von Body Positivity genauso verlogen, das, was ich Marketing- oder Tupperware-Feminismus nenne. Was sich verändert hat, ist das Verständnis von Natürlichkeit. Der Trend geht mehr und mehr dahin, dass der Authentizitätsbegriff das Künstliche mit einschließt. Auf Social Media sind wir alle längst Meisterinnen und Meister der „authentischen Selbstinszenierung“. Was ja ein Oxymoron ist. Und das sehen wir jetzt auch vermehrt im sogenannten echten, analogen Leben. Frauen können heute problemlos ästhetische Eingriffe oder OPs zugeben, solange sie in authentischer Weise dazu stehen.

Rebekka Reinhard - Die Zentrale der Zuständigkeiten

Lese-Tipp: Die Zentrale der Zuständigkeiten von Rebekka Reinhard. Ludwig Verlag. 240 Seiten, 18 €

Dabei passen viele Frauen ihr Schönheitsideal oft sogar den gerade angesagten Internet-Filtern an.

Genau, Natürlichkeit ist heute eher eine Frage der Haltung oder Identität – nicht mehr, ob irgendwo nachgeholfen wurde. Und damit sind wir wieder beim Fortschrittskapitalismus. In dem Moment, in dem ich Schönheit so definiere, ordne ich sie wieder bestimmten Marktkriterien zu und brande mich gleichzeitig. Denn ob bewusst oder unbewusst – subtile Mechanismen, die Werbung, Instagram und Ähnliches spielen eine große Rolle. Herzchen oder Shitstorm. Belohnung oder Bestrafung. Schwarz oder Weiß. Deswegen halte ich ein regelmäßiges kritisches Wach-Denken für so wichtig, um diese Dialektik zu durchschauen.

 

Dann ist also das Künstliche heute das Natürliche?

Es morpht ineinander über. Und beides zusammen gilt als authentisch. Authentisch beinhaltet ja zweierlei: etwas Echtes im Sinne von Original und etwas Originelles, im Sinne von genial. Wie praktisch. Damit kann man nicht nur sich selbst, sondern auch den Authentizitätsbegriff immer wieder neu erfinden.

 

Wie würden Sie natürliche Schönheit dann heute definieren?

Als eine Einheit von außen und innen. Dass ich echt bin, kein Fake. Egal, ob ich operiert bin, Botox spritze oder sonst wie nachhelfe. Und das gilt im Sinne des Zeitgeistes sowohl für Frauen als auch immer mehr für Männer, die dem Paradigma der körperlichen Schönheit ja auch mehr und mehr unter- worfen sind. Die Deckungsgleichheit von dem, was ich nach außen transportiere und im Inneren fühle, ist das neue Schön.

 

Allerdings ist auch der Begriff der Schönheit fluid. Wo sehen Sie uns in Zukunft?

Mein Traum wäre eine Schönheit, die man nicht lange erklären muss, über die man nicht streiten muss, die Menschen verbindet, statt sie zu trennen. Einfach, indem man sie erfährt, sie spürt, sich von ihr innerlich bereichern lässt. So wie man im Angesicht des Schönen gar nicht anders kann, als zu denken und zu fühlen: „schön!“

Das Interview führte
Nike Emich

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