„Rund 700.000 Nabelschnurtransplantate lagern inzwischen weltweit in medizinischen Banken“
19. März 2023
Judith Cyriax
Ob in der Orthopädie oder der ästhetischen Chirurgie – Stammzellen sind vielseitig einsetzbar und werden kontrovers diskutiert
© BSIP/ F1online
„Rund 700.000 Nabelschnurtransplantate lagern inzwischen weltweit in medizinischen Banken“
Der Anfang eines jeden Lebens beginnt mit einer einzigen Zelle – der Stammzelle. Winzig klein, doch wie kaum ein anderes Thema der medizinischen Forschung mit riesigen Hoffnungen und zugleich gewaltigen Vorbehalten verbunden. Beide Positionen liegen im Potenzial des biologischen Grundstoffs: einerseits die Aussicht, damit über einen universellen Baustoff für beschädigte Zellen, Gewebe, ja ganze Organe zur Verfügung zu haben und Krankheiten wie Krebs, Parkinson, Multiple Sklerose oder Diabetes heilen zu können, auf der anderen Seite steht die Befürchtung, dass Embryonen – und seien sie im allerfrühesten Entwicklungsstadium von wenigen Zellen – zur Ware werden, die für ungewissen medizinischen Fortschritt mehr oder weniger industriell gezüchtet (und getötet) werden. Aber auch, dass dem Klonen von Menschen und Tieren damit Tür und Tor geöffnet werden – was etwa in Südkorea durch die Firma „Sooam Biotech“ mit heiß geliebten Schoßhunden bereits seit Jahren kommerziell erfolgreich betrieben wird.
Während in Deutschland seit 2002 Handel und Forschung mit embryonalen Stammzellen per Gesetz praktisch komplett verboten sind, gibt es in Asien, den USA oder auch in Großbritannien weniger oder gar keine Einschränkungen. Zwar besitzt jeder Mensch Stammzellen, doch gibt es wesentliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Fähigkeiten – die embryonalen sind gewissermaßen die Multitalente, je jünger, umso talentierter. Grundsätzlich sind Stammzellen universelle Zellen, die sich noch nicht spezialisiert haben, also alle Zelltypen im menschlichen Körper werden können: Muskel-, Nerven-, Organ- und Blutzellen. Damit diese Zellarten ständig vorhanden sind, ist es der Stammzelle möglich, durch permanente Teilung eine Kopie von sich selbst herzustellen. Durch die Teilung entwickeln sich jedoch nicht zwangsläufig immer zwei neue Stammzellen, auch zwei verschiedene Zellen können entstehen.
Bei dieser sogenannten asymmetrischen Zellteilung ist die eine der neu entstandenen Zellen ein Duplikat der Mutterzelle und hat die gleichen Eigenschaften. Die andere Zelle wiederum entwickelt sich zu einem spezialisierten Zelltyp. Diese normalen Gewebezellen können sich im Gegensatz zur Stammzelle nicht teilen, sondern sind auf ihre zugeschriebenen Funktionen festgelegt. Die Stammzelle dagegen kann durch ihre fortwährende Teilung verletzte oder kranke Zellen ersetzen und übernimmt so nötige Regenerations- und Reparatur-Mechanismen im Körper.
Doch nicht jede Stammzelle ist gleich. Abhängig von ihrer Entwicklung unterscheidet man sie in omnipotent oder multipotent. Aus der omnipotenten Zelle entsteht ein vollständiger Mensch, während sich multipotente Stammzellen zu einem ganz bestimmten Gewebe entwickeln. Zudem wird auch noch zwischen embryonalen und adulten Stammzellen unterschieden. Die embryonalen (omnipotenten) Stammzellen sind besonders reich an sogenannten Blutstammzellen, die die Fähigkeit haben, sich in die verschiedenen Blutzelltypen zu entwickeln: in rote und weiße Blutzellen sowie in Blutplättchen.
Seit mehr als 30 Jahren gibt es die Möglichkeit, solche Zellen aus dem Nabelschnurblut Neugeborener zu gewinnen, um sie beispielsweise in der Therapie gegen Leukämie erfolgreich einzusetzen. Rund 700.000 Nabelschnurtransplantate lagern inzwischen weltweit in öffentlichen medizinischen Banken. Als relativ neue und vielseitige Quelle verschiedener Stammzellen gilt das Nabelschnurblut, welches nach der Entbindung in der Nabelschnur zurückbleibt. Entgegen der weit verbreiteten Meinung zählen die Zellen in Nabelschnüren allerdings nicht zu den embryonalen, sondern bereits zu den adulten Stammzellen. Diese Zellen sind zwar schon geringfügig geprägt, gelten aber als unbelastet und teilen sich wesentlich häufiger als adulte Stammzellen von Erwachsenen. Darüber hinaus sind sie viel anpassungsfähiger und verursachen nach einer Transplantation seltener Abstoßungsreaktionen oder Infektionen.
Adulte (multipotente) Stammzellen können nur bestimmte Zelltypen des menschlichen Körpers bilden, wie beispielsweise Knochenmark, Haut oder Fettgewebe. Doch wie könnte es im menschlichen Körper auch anders sein: Je älter wir werden, umso kürzer ist die Lebensdauer dieser Stammzellen und umso weniger werden davon gebildet. Mittlerweile gibt es jedoch effektive Methoden, die adulten Zellen so zu extrahieren und duplizieren, dass sie in den verschiedensten medizinischen Fachbereichen eingesetzt werden können. Besonders große Hoffnung liegt dabei auf sogenannten iPS-Zellen (induzierte pluripotente Stammzellen), die durch eine Art Reprogrammierung wieder in den Embryonalzustand rückversetzt und somit wieder zu den ursprünglichen Multitalenten werden.
„Aus 100 Milliliter Eigenfett können 1 Million Stammzellen gewonnen werden“
Wenn es darum geht, welches Material am besten für erfolgreiche Behandlungen in der plastisch-ästhetischen Chirurgie geeignet ist, gelten Stammzellen mittlerweile als die ideale Lösung. Ob bei Gesichtsbehandlungen (Falten, Volumenverlust oder Sonnenschäden), bei Haarausfall oder einer Brustvergrößerung durch Eigenfett – der körpereigene Rohstoff bewährt sich immer besser und wird immer häufiger eingesetzt. Die Vorgehensweise all dieser Eingriffe ist dabei ähnlich: Zunächst saugt der Arzt eine geringe Menge an Eigenfett aus Bauch, Oberschenkeln oder Hüfte ab. Dieses wird dann im Labor aufbereitet, das heißt, adulte Stammzellen werden durch spezielle Enzyme aus dem Fett gelöst.
„Aus 100 Milliliter Eigenfett können 1 Million Stammzellen gewonnen werden. Gelangen diese dann durch feinste Injektionen wieder in körpereigenes Gewebe, fangen sie sofort mit ihrer regenerativen, reparierenden und aufbauenden Arbeit an“, erklärt Dr. Caroline Kim, Fachärztin für Plastische und Ästhetische Chirurgie in München. Ein weiterer Vorteil: „Im Körper kommen ausreichend adulte Stammzellen vor, es steht also genügend Material für jegliche Eingriffe zur Verfügung. Außerdem muss der Patient keine Komplikationen, Unverträglichkeiten oder Allergien befürchten, da es sich um körpereigenes Material handelt“, so die Expertin.
In der Orthopädie kommt die adulte Stammzellentherapie zum Beispiel bei der Behandlung von Arthrose im Knie– und Hüftgelenk zum Einsatz. Zunächst werden mit einem minimalinvasiven Eingriff rund 30 Milliliter Fettgewebe aus dem Unterhautfettgewebe gesaugt und aus diesem im Anschluss die sogenannten mesenchymalen Stammzellen (MSC) extrahiert. Diese Bindegewebsstammzellen werden dann in das Gelenk sowie gelenknahe Fettkörper injiziert und können von dort aus ihre Schutz -und Dämpffunktion wieder effektiv aufnehmen. Zusätzlich werden das Gewebe erneuert und Entzündungen gehemmt. Im besten Fall führt diese Therapie zu einer kompletten Schmerzlinderung sowie einer gesteigerten Mobilität; auch der Einsatz einer Prothese kann langfristig vermieden werden.
Stammzellen aus dem Knochenmark (BMC) werden wiederum bei Bandscheibenvorfällen eingesetzt. Eine Studie des Cedars-Sinai Medical Centers (Los Angeles, USA) aus dem Jahr 2012 bestätigt, dass die Injektion von Knochenmarkstammzellen die Funktion der Bandscheiben verbessert, die Beweglichkeit wiederkehrt und sich Schmerzen reduzieren. Dennoch stehen viele Orthopäden dem Einsatz von Stammzellen in ihrem Fachbereich noch eher skeptisch gegenüber. Zum einen lassen sich so bis dato nur leichte Symptome behandeln, zum anderen gehen damit die typischen Risiken eines Eingriffs in ein Gelenk (zum Beispiel Keime durch eine Injektion) einher.
In der Augenheilkunde könnte in naher Zukunft Hornhautgewebe, das aus gezüchteten Stammzellen entsteht, Menschen ihr Sehvermögen zurückgeben. Möglich machen das sogenannte iPS-Zellen. Diese speziellen Zellen entstehen im Labor, wenn Forscher normale Gewebezellen durch die Zugabe von genetischen Faktoren neu programmieren. Dadurch haben sie ähnliche Eigenschaften wie embryonale Stammzellen und können sich in jede Zelle des menschlichen Körpers entwickeln. Für diese Entdeckung erhielt der Japaner Shinya Yamanaka 2012 den Nobelpreis für Medizin, und schon 2014 setzten japanische Augenärzte einer Frau, die an einer altersbedingten Form der Erblindung litt, Netzhautzellen ins Auge, die aus iPS-Zellen gezüchtet wurden. Die Transplantation stoppte das Fortschreiten der Erkrankung und hatte kaum Nebenwirkungen.
Und genau hier liegt die Hoffnung der Ophthalmologie in Bezug auf die Stammzellentherapie: die Entwicklung einer Hornhaut. Nach wie vor ist die Hornhauttransplantation (Keratoplastik) die am häufigsten durchgeführte Transplantation. Pro Jahr werden laut der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) mehr als 9.000 Hornhäute des Auges transplantiert, wobei jede Hornhaut jeweils zwei Menschen zu neuer Sehfähigkeit verhilft. Dennoch gibt es zu wenig Spender, gezüchtete Hornhäute wären hier also die perfekte Möglichkeit, mehr Menschen zu helfen.