9. Oktober 2023

Barbara Markert

Algen – Superfood aus dem Meer

In den Ozeanen schlummert eine riesige Apotheke, die noch weitgehend unerforscht ist. Algen gelten nicht nur als Superfood, sondern auch als Hoffnungsträger gegen so manche schier unheilbare Krankheit

© Tom Fisk

Auf den einfachen Regalen des französischen Forschungsinstituts Ifremer stehen Dutzende von Erlenmeyerkolben voll mit braunen Flüssigkeiten. Die Laborbehälter sind mit Aluminiumfolie geschlossen. Kaum etwas deutet darauf hin, dass in dem trüben Wasser Organismen schwimmen, die einst das Leben auf der Erde erst möglich machten und heute im Zentrum wichtiger Forschungs-projekte stehen: Mikroalgen sind für unser Auge unsichtbare Kraftprotze. Sie erzeugen den Sauerstoff in unserer Luft, und manche von ihnen sind gut für unsere Gesundheit. Jean-Baptiste Bérard, Meeresbiologe bei dieser staatlichen Einrichtung für wissenschaftliche Erkundung und industrielle Nutzung des Meeres, hat sich auf die unsichtbaren Vielkönner spezialisiert und entdeckte im Rahmen seiner Forschung eine Mikroalge, der die Fähigkeit nachgesagt wird, Akne zu heilen.

 

Skeletonema marinoi heißt seine Entdeckung, die bereits in vitro erforscht und deren natürlicher Extrakt mit einem dermatologischen Patent geschützt wurde. „Es handelt sich hier um einen Wirkstoff für die dermakosmetische und nicht für eine pharmazeutische Nutzung“, betont der Wissenschaftler nachdrücklich aus seinem Büro in Nantes, rund 50 km von der französischen Atlantikküste entfernt.

 

Mikroalgen sind für unser Auge unsichtbare Kraftprotze

 

Die Unterscheidung ist dem 44-Jährigen wichtig, vor allem auch deshalb, weil sein Forschungsprojekt anfangs nach natürlichen Meerespigmenten im Bereich der Krebsforschung suchte. „Diese photosynthetischen Pigmente haben die Eigenschaft, dass sie unter Einfluss von Licht eine Energie absondern, mit der Tumore behandelt werden können.“

 

Zehn Mikroalgen wurden damals, 2008 bis 2012, untersucht, und Skeletonema marinoi schlug alle anderen. „Und zwar mit weitem Abstand. Leider wurde das Projekt dann beendet. Ich fand das sehr schade. Vor allem weil wir sicher waren, dass es vielleicht nicht unbedingt bei Krebszellen hilft, aber einen breiteren Effekt auf Bakterien haben könnte.“

 

Bérard bemühte sich um eine Wiederbelebung des Projekts und schloss sich dazu erfolgreich mit anderen Universitäten und Instituten zu einer Forschungspartnerschaft zusammen. Gemeinsam fanden sie heraus, dass die Moleküle in der Mikroalge photoaktiv sind. Wenn sie mit Licht in Berührung kommen, setzen sie eine Energie frei und entwickeln andere Moleküle, die wiederum Akne-Bakterien eliminieren und auch die Absonderung von Talgdrüsenfett limitieren. Die Wirksamkeit wurde im Labor für drei der wichtigsten Bakteriengattungen, die für die hormonelle Hauterkrankung verantwortlich sind, nachgewiesen.

 

Gemeinsam fanden sie heraus, dass die Moleküle in der Mikroalge photoaktiv sind

 

„Wir waren sehr glücklich mit diesem Ergebnis, wie auch mit dem doppelten Effekt auf Bakterien und Talgdrüse. Außergewöhnlich ist auch, dass wir nicht ein einziges Molekül herausfiltern müssen. Der Extrakt reicht. Man muss sich das wie ein Pflanzenextrakt vorstellen. Das ist ein sehr einfaches, ökologisches und günstiges Verfahren, und genau deshalb handelt es sich hier auch nicht um ein Medikament, sondern um einen dermokosmetischen Wirkstoff.“

 

Konkret hat dies den Vorteil, dass nach erfolgter industrieller Umsetzung die Anti-Akne-Salbe oder Creme mit dem Mikroalgen-Wirkstoff ohne Rezept und damit breit erhältlich sein wird. „Akne ist eine weit verbreitete Hautkrankheit. Skeletonema marinoi hilft bei leichter und mittlerer Akne. Alles, was man dann noch braucht, ist ein Smartphone, um mit dessen Licht den Wirkstoff zu aktivieren.“ Zwar funktioniere auch normales Tageslicht, aber eine kurze Bestrahlung mit dem Handy steigere die heilenden Wirkungsmöglichkeiten.

 

Die Mikroalge mit dem Zungenbrecher-Namen findet sich weit verbreitet im Atlantik, in der Nordsee und im Chinesischen Meer. Austernzüchtern ist sie wohlbekannt, weil sie in Aquakulturen zur Larvenbildung verwendet wird. Aus genau diesem Grund wird sie auch schon im Labor gezüchtet. Das ist eine Ausnahme.

 

Laut Schätzungen gibt es zwischen 200.000 bis eine Million verschiedene Mikroalgen in den Weltmeeren, nur 72.000 sind kategorisiert, noch weniger erforscht. Jean-Baptiste Bérard: „Tatsächlich wusste schon Darwin von ihrer Existenz, weil manches Phytoplankton, wie man sie auch nennt, die Gewässer koloriert. Aber erst im 20. Jahrhundert verstand man, um was es sich handelt. Die intensive wissenschaftliche Erforschung begann jedoch erst ab dem Jahr 2000.“

 

Laut Schätzungen gibt es zwischen 200.000 bis eine Million verschiedene Mikroalgen in den Weltmeeren

 

Dass in den unsichtbaren Sauerstoffproduzenten aus dem Meer ein großes Potenzial liegt, davon ist der Franzose überzeugt. Jedoch glaubt er, dass noch ein langer Weg vor der Wissenschaft liegt. „Gerade im medizinischen Bereich sind klinische Tests notwendig. Man kann nicht einfach ein Medikament herausbringen, die Wirksamkeit muss bewiesen sein.“ Und dafür braucht es Geld und Zeit. Auch sind Mikroalgen unter sich sehr divers, die Recherche gerade für den Einsatz im Gesundheitswesen ist daher ein weites Feld. Dass die Wissenschaft hier noch in den Kinderschuhen steckt, sieht man auch an den Diskussionen um die wohl bekanntesten Mikroalgen Spirulina und Chlorella, die als Superfood im Bereich Nahrungsergänzungsmittel ebenso gehypt wie kritisiert werden.

 

Den Lobpreisungen zur antioxidativen Wirkung auf den Organismus, Entgiftung, Krebsvorsorge stehen Warnungen gegenüber, dass – gerade Spirulina – sich gesundheitsgefährdend auf die Leber oder das Nervensystem auswirken könnte. Klare klinische Beweise, wie von Bérard erwähnt, fehlen. Deshalb kann noch immer nicht klar geurteilt werden, ob die vermeintlichen Superfood-Pillen aus dem Meer nun tatsächlich gut oder doch eher schlecht für die Gesundheit sind.

 

„Gerade im medizinischen Bereich sind klinische Tests notwendig. Man kann nicht einfach ein Medikament herausbringen, die Wirksamkeit muss bewiesen sein“

 

Etwas weiter in der Forschung ist man bei den sogenannten Makroalgen, also den Algen, die wir mit unserem Auge sehen können und die vor allem auch in Asien zur normalen Ernährung gehören. Jean-Baptiste Bérard: „Die Asiaten haben hier ein sehr großes Wissen.“ Makroalgen wie Nori, Kombu, Wakame oder auch Ulva gelten als protein- und nährstoffreich, sowie reich an Jod und Omega-3. Forschungen am Zuckertang Saccharina latissima haben gezeigt, dass enthaltene Wirkstoffe gegen die Makuladegeneration des Auges helfen könnten.

 

Auch in der Kosmetik werden Makroalgen seit Langem ge-schätzt, weil sie entzündungshemmend und regenerierend wirken. Die Anti-Aging-Wirksamkeit der berühmten Crème de la Mer, in der Seealgentang aus dem Nordpazifik steckt, ist wahr-scheinlich das prominenteste Beispiel.

 

In den Ozeanen der Welt wächst und schwimmt also ein noch weitgehend unausgeschöpftes Potenzial an Heilmitteln. Das Problem ist jedoch, dass die Meere noch immer als Müllhalde benutzt werden und die Verschmutzung der Ozeane weiterhin stark zunimmt. Inwieweit die Photosynthese betreibenden Mikroalgen von dieser Umweltbelastung beeinflusst werden, ist noch nicht erforscht.

 

In den Ozeanen der Welt wächst und schwimmt also ein noch weitgehend unausgeschöpftes Potenzial an Heilmitteln

 

Jean-Baptiste Bérard: „Die Meere zählen neben den Wäldern zu den wichtigsten Sauerstofflieferanten der Erde. Sie spielen gerade in der Klimaerwärmung eine strategisch wichtige Rolle. Ich bin optimistisch, dass die Menschheit diese Bedeutung verstehen und die Ozeane mehr schützen wird. Wir dürfen nie vergessen, dass aus dem Meer das Leben auf unsere Erde kam.“

 

 

 

 

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