„Morgens, nachts, am Wochenende: Dr. Google hat immer Sprechstunde zum Krankheiten googlen“
30. Juli 2023
Christine Bürg
Die Selbstdiagnose vermeintlicher Krankheiten über das Internet kann beachtliche Nebenwirkungen hervorrufen. Ein Surfkurs durch die nicht ungefährliche Welt der Cyberchondrie plus Tipps fürs Krankheiten googeln
© Vanessa Daly
„Morgens, nachts, am Wochenende: Dr. Google hat immer Sprechstunde zum Krankheiten googlen“
Es fing quasi über Nacht an. Morgens war die Kniekehle so geschwollen, dass keine Kuhle mehr zu sehen war. Ich verspürte ein unangenehmes Spannungsgefühl – bis hoch zum Oberschenkel und runter in die Wade. Nach dem Motto „wird schon nichts Schlimmes sein“ ging ich ins Büro, hatte ein Meeting nach dem anderen – und weiterhin Schmerzen. Abends als es ruhiger wurde und ich meinen Kolleginnen die Schwellung zeigte, die mittlerweile aufs Doppelte angewachsen war, wurden die panisch. Sie fingen an zu googeln, lasen „hat meist eine ernste Ursache“, „Beinvenenthrombose“, „betrifft insbesondere Frauen“ … und schickten mich in die Notfallambulanz. Nach vier Stunden wusste ich, dass ich eine Bakerzyste und somit nichts Lebensbedrohliches hatte, ausgelöst durch einen Riss im Innenmeniskus.
Rund 60 Prozent der Deutschen werfen mittlerweile erst einmal die Suchmaschinen an, wenn sie Schmerzen haben oder Krankheitssymptome verspüren, die sie nicht kennen. Kein Wunder, schließlich hat Dr. Google 24/7 geöffnet, erfordert keine Terminvereinbarung und hat keine Wartezeiten. Eine Entwicklung, die gut und schlecht zugleich ist. Der Vorteil: Die Recherchen können helfen, den Arzt oder die Ärztin besser zu verstehen und die richtigen Fragen zu stellen. Expert:innen sehen darin eine zunehmende Gesundheitskompetenz der Bevölkerung, auch Patienten-Empowerment genannt. Nachteil der Selbstdiagnose: Man verharmlost die Beschwerden, geht zu spät oder gar nicht zur:m Ärzt:in, was mitunter lebensbedrohlich werden kann. Oder aber man nimmt die falschen Medikamente ein, vertraut den Behandlungsempfehlungen aus dem Netz mehr als seiner:m Ärzt:in oder bricht eine Therapie ab.
Die New York Times beispielsweise berichtete unlängst von einer Frau, die einen Herzinfarkt erlitten hatte, weil sie die verschriebenen cholesterinsenkenden Statine nie genommen hatte – aus Angst vor den im Internet beschriebenen Nebenwirkungen. Dort kursieren Meldungen und Berichte, dass Statine nutzlos oder gar gefährlich seien, schlimmstenfalls sogar Diabetes, Alzheimer oder Krebs begünstigen könnten. Dass in Studien bewiesen wurde, dass der Nutzen von Statinen die Risiken bei Weitem überwiegt und kein Zusammenhang zwischen der Einnahme von Statinen und einem Rückgang der Gedächtnisfähigkeit besteht, wurde nicht bzw. nur versteckt erwähnt. Und genau hier zeigt sich eine Schwachstelle des Internets: Welche Informationen sind richtig? Welchen Webseiten kann ich vertrauen? Und wann handelt es sich um Fake News?
„Gefakt, gefärbt, gefährlich – oder genau auf den Punkt?“
Tatsächlich können Patient:innen Nebenwirkungen auf Medikamente verspüren, nur weil sie Angst davor haben. Dieser sogenannte Nocebo-Effekt, der im Gegensatz zum Placebo-Effekt negative gesundheitliche Wirkungen und meist psychologische Ursachen hat, wird beispielsweise in Doppelblindstudien für Medikamenten-Neuzulassungen beobachtet. Patient:innen werden über mögliche Nebenwirkungen informiert, unabhängig davon, ob sie den Wirkstoff erhalten oder nur ein Placebo.
Immerhin rund ein Viertel der Placebo-Empfänger:innen klagt anschließend über die entsprechenden Nebenwirkungen.
Ähnlich ist es mit Meldungen aus dem Netz. Werden Medikamenten oder einer Therapie Nebenwirkungen nachgesagt, können diese auftreten, auch wenn es sich hier um Fake News handelt. Umso wichtiger ist es also, mit einem Arzt oder einer Ärztin über die Zweifel zu reden, anstatt dem Gelesenen blind zu vertrauen. „Die Information durch Dr. Google autorisiert den Patienten etwas mehr, aber der Berater und der Guide muss der Arzt bleiben“, betont der Münchner Internist Dr. Udo Beckenbauer.
„Umso wichtiger ist es, mit einem Arzt oder einer Ärztin über die Zweifel zu reden, anstatt dem Gelesenen blind zu vertrauen“
Außerdem ist es wichtig, die Informationsquelle zu hinterfragen. Dafür lohnt ein Blick ins Impressum: Handelt es sich um eine unabhängige Seite, die nicht durch Werbemittel finanziert wird? Stecken kommerzielle Interessen dahinter oder eine Gruppe Gleichgesinnter, die einen bestimmten Ansatz vertritt? Vertrauenswürdig sind Portale, die ein Gütesiegel tragen – zum Beispiel das afgis-Logo.
Sie müssen redaktionelle Beiträge und Anzeigen deutlich voneinander trennen und Rechenschaft darüber ablegen, dass sie die Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes und des Medienstaatsvertrags befolgen. Das Problem vieler seriöser Seiten: Sie geben das Wissen meist recht trocken wieder, verzichten vollständig auf überraschende Schlagzeilen, die selbstverständlich mehr Menschen ansprechen und mehr Klicks bringen als nüchterne Studienergebnisse. Hinzu kommt, dass eine Information als wahr eingestuft wird, wenn sie mehrfach auf verschiedenen Seiten gelesen wurde. Schuld daran ist zum einen unsere eigene Voreingenommenheit.
Wenn wir bereits vor der Internetrecherche glauben, dass wir an einer bestimmten Krankheit leiden oder eine bestimmte Therapie helfen könnte, picken wir automatisch die Links heraus, die diese Meinung bestätigen; im Fachjargon spricht man dann von Confirmation Bias. Schuld daran ist auch der Algorithmus. Wenn man als User erst einmal in eine bestimmte Blase geraten ist – zum Beispiel Homöopathie-Anhänger oder Impfgegner –, sorgt er dafür, dass nur noch Informationen angezeigt werden, die unsere Haltung bestätigen.
Was viele nicht wissen: Die Platzierung einer Meldung in der Trefferliste sagt nichts über ihre Qualität aus. Man sollte sich also nicht nur mit den Ergebnissen auf Seite eins zufriedengeben, sondern unbedingt weiterklicken.
Und: Da Dr. Google mitunter nicht gerade zimperlich mit Diagnosen umgeht, wird aus einem eingetippten Symptom schnell eine gefährliche Krankheit. Vor allem Menschen, die zu Hypochondrie neigen, können durch solche Informationen getriggert werden, verbringen immer mehr Zeit mit der Suche nach Symptomen, nach Krankheiten und Behandlungsmöglichkeiten, geraten in eine Angstspirale und enden im schlimmsten Fall mit Panikattacken. Dieses Phänomen wird als Cyberchondrie (auch Morbus Google) bezeichnet, ein Neologismus, der sich aus den Begriffen „Cyber“ und „Hypochondrie“ zusammensetzt.
Eine stärker werdende und ernsthafte Konkurrenz zu Dr. Google sind Symptomchecker-Apps fürs Smartphone. Während man im Netz einer Informationsflut ausgesetzt ist, deren Qualität schwer einzuschätzen ist, basieren die Gesundheits-Apps auf künstlicher Intelligenz und ermöglichen den Nutzern den Zugang zu fundiertem Fachwissen. Mit über 12 Millionen Nutzern (in erster Linie jüngere, digital-affine Leute) ist Ada die derzeit beliebteste App.
Auch hier starte ich einen Feldversuch, durchlaufe eine Anamnese, wie ich sie vom Arzt kenne, und beantworte über 20 Fragen zu meinen Kniebeschwerden. Am Ende wird mir eine klare Diagnose gestellt: Poplitealzyste, auch Bakerzyste genannt. Und mir wird geraten, in den nächsten Tagen eine:n Ärzt:in aufzusuchen. Überhaupt wird immer wieder betont, dass nur ein:e Ärzt:in die richtige Diagnose stellen kann. Das ist auch bei allen anderen Symptomchecker-Apps der Fall, wie Mediktor, Babylon und Symptomate (beide in Englisch). Sie alle funktionieren mehr oder weniger auf ähnliche Weise. Interessant ist, dass Ada in mehreren Studien nachweisen konnte, dass sie in ihrer Diagnose fast gleichauf mit den Ärzt:innen liegt (hier arbeiten über 50 Mediziner:innen, die die medizinische Qualität der Technologie sicherstellen) und bei seltenen Erkrankungen die Ärzt:innen manchmal sogar übertreffen.
Wenn die gestellten Diagnosen jedoch nicht zutreffen – wie es bei einer Symptomanalyse für meine Mutter der Fall war –, kommt auch die App an ihre Grenzen: Sie möchte wissen, weshalb ich nicht zufrieden bin und die fünf vorgeschlagenen Diagnosen nicht stimmen (wurden bereits von den Ärzten ausgeschlossen). Danach ist die Sitzung beendet – etwas enttäuschend. Aber auch die Ärzt:innen – von HNO über Orthopädie bis Kardiologie – haben bis heute nicht die Ursache gefunden.
Spannend ist, dass auch bei Ada am häufigsten die Symptome und Krankheiten abgefragt werden, die in einem Land gerade akut sind. Und somit gesundheitliche Befindlichkeiten in der Bevölkerung zeigen. In diesem Winter waren das neben COVID-19 auch Grippe sowie Respiratorische Synzytial-Virus-Infektionen (RSV). Doch auch die Beschäftigung mit Rückenschmerzen nimmt zu, was damit zusammenhängen könnte, dass viele Menschen nach wie vor im Homeoffice arbeiten.
Ein ganz anderes Bild zeigt sich im Netz. Hier werden in Deutschland nach Fieber in erster Linie Symptome gegoogelt, über die niemand gerne spricht – Durchfall und Verstopfung, Haarausfall und Mundgeruch, Afterjucken und Blähungen. Übrigens: Hätte ich vorher gewusst, was ich durch die Ärzt:innen erfahren habe, hätte ich den Besuch in der Notfallambulanz ausfallen lassen und wäre gleich zum Orthopäden gegangen. Gebe ich heute die Symptome auf Google ein – Schwellung in der Kniekehle, Ziehen im Bein –, taucht in der Trefferliste ganz oben erst einmal die Bakerzyste auf. Entweder, der Algorithmus weiß jetzt, dass ich mich dafür interessiere, oder meine Wahrnehmung und somit mein Confirmation Bias haben sich verändert …
1. Möglichst präzise sein
Je genauer die Symptome sind, die man ins Suchfeld eingibt, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die richtige Diagnose auftaucht. Und: Je mehr Begriffe man wählt, desto stärker lässt sich eine mögliche Krankheit eingrenzen. Also nicht nur geschwollenes Knie eingeben, sondern Schwellung in der Kniekehle, Ziehen im Bein (wie im Textbeispiel)
2. Je mehr Quellen, desto höher die Trefferquote
Man sollte sich nicht gleich mit dem ersten Treffer zufriedengeben, sondern mehrere Beiträge lesen. Und nicht nur die Artikel anklicken, die auf der ersten Seite erscheinen, sondern weiterklicken. Decken sich viele Aussagen, spricht das dafür, dass sie richtig sein könnten.
3. Die Quellen überprüfen
Und einen Blick ins Impressum oder auf „Über uns“ werfen. Nur so kann man sicher sein, dass es sich um eine seriöse und unabhängige Seite handelt. Immer wieder genannt werden gesundheitsinformation.de und deutschesgesundheitsportal.de, gesund.bund.de sowie Gesundheitsportale wie netdoktor.de und onmeda.de, aber auch die Seiten von Krankenkassen. Auch ein Gütesiegel wie afgis bietet Sicherheit, ebenso wie der Verweis auf wissenschaftliche Studien und evidenzbasierte Informationen. Vorsicht ist hingegen angesagt, falls für eigene Produkte geworben wird.
4. Auf Aktualität achten
Da permanent geforscht wird und in der Medizin immer wieder neue Erkenntnisse zum Tragen kommen, sollten die Artikel möglichst aktuell sein. Auch gut: Werden Alternativen genannt? Wird über Risiken aufgeklärt?