20. März 2023

Christine Bürg und Robert Emich

Künstler:in oder Handwerker:in – wie sehen sich Ärzte?

Künstlerin mit Heilkräften oder eher akademische Handwerker? Vier Premium-Ärzt:innen im Expertengespräch über Medizin 2.0

© Vicky Turner

© Vicky Turner

Sie sind absolute Koryphäen auf ihrem Gebiet:

 

Dr. Michaela Montanari
Fachärztin für plastisch-ästhetische Chirurgie mit eigener Privatpraxis aus Bochum

 

Dr. Detlev R.H. Breyer
von der Augenchirurgieklinik Breyer Kaymak Klare sowie vom Augenlaserzentrum Premiumeyes in Düsseldorf

 

Dr. Mark T. Sebastian
Zahnarzt und Inhaber der Münchner Praxis MAX 36

 

Prof. Dr. Sebastian Siebenlist
Chefarzt Sektion Sportorthopädie am Klinikum rechts der Isar in München.

 

Wir haben sie zum Roundtable-Talk über das Thema Heilkunst gebeten.

Es ist mittlerweile wissenschaftlich unbestritten, dass Kunst heilen oder die Heilung unterstützen kann. Ist denn die Heilkunst als Begriff in Ihrer täglichen Praxis noch präsent? Oder anders gefragt: Sehen Sie sich als Künstlerin bzw. Künstler in Ihrem Metier?

 

Mark T. Sebastian: Die Zahnmedizin hat heute nichts mehr mit Kunst zu tun, sondern vielmehr mit Funktion. Sie gibt uns letztendlich alles vor. Wir haben festgelegte Zahnformen, festgelegte Kauflächen und unsere Wissenschaft, die auf Evidenz beruht. Ich fühle mich nicht als Künstler, sondern eher als Handwerker mit akademischem Hintergrund. Deswegen finde ich den Begriff Heilkunst in meiner Branche nicht angemessen.

 

Sebastian Siebenlist: Ich würde bei dem akademischen Handwerker einhaken. Ich glaube, hinter dem Begriff Heilkunst stand ursprünglich die eigentliche ärztliche Tätigkeit. Was bedeutet, dass man sich um jeden Patienten individuell kümmern und ihn in seiner Gesamtheit sehen muss, um sich in ihn hineinzufühlen und ihn individuell behandeln zu können. Heutzutage, und da bin ich bei Herrn Sebastian, sind wir durch Normen, Regularien und Leitlinien so eingeschränkt, dass man sich auf das fokussiert, worauf man spezialisiert ist – eben sein Handwerk –, und den Patienten weniger als Gesamtpaket betrachtet. Diese Fokussierung wird durch die unterstützenden Apparate in der Diagnostik sehr stark technisiert, sodass die Kunst, sich selbst zu entwickeln, oder die Möglichkeit eines künstlerischen Verhaltens schwierig geworden ist.

 

Mark T. Sebastian: Für mich ist die Heilkunst oder Heilkunde im Prinzip das, was wir als alternative Medizin bezeichnen würden. Klar müssen wir auf unsere Patienten eingehen. Aber wenn wir die früheren Jahrhunderte anschauen – da gab es keine Wissenschaft, sondern Trial and Error. Heute haben wir diese Freiheiten nicht mehr.

 

Michaela Montanari: Ich schließe mich den beiden Kollegen zwar an, aber: In der Allgemeinchirurgie, in der ich meinen ersten Facharzt gemacht habe, steht die Herstellung der Funktionalität im Vordergrund. In meinem zweiten Fachgebiet – der plastisch-ästhetischen Chirurgie – ist man schon mehr künstlerisch tätig. Hier geht es um Rekonstruktion zum Beispiel nach Unfällen oder Tumorleiden und Ästhetik, und die Übergänge sind oft fließend. So steht bei Körperformung oder in der Brustchirurgie oft der künstlerische Aspekt im Vordergrund. Natürlich immer unter Berücksichtigung der Normen, die es hier auch gibt. Insofern besteht ein deutlicher Unterschied zwischen diesen beiden Fächern. Selbst bei einer Faltenbehandlung habe ich mehr Variationen und arbeite eher künstlerisch und modellierend, als das beispielsweise bei dem Einbau einer Kniegelenkprothese der Fall ist, wo es um Maße und bestimmte Normen geht, um die Funktionalität zu erhalten. Der Patient möchte in erster Linie laufen können, ihm ist eigentlich egal, wie das Knie von innen aussieht oder welche Prothese man einbaut.

 

Detlev R.H. Breyer: Ich habe mich schlau gemacht, wie Heilkunst definiert wird: „Substantiv, feminin, ärztliche Kunst; die Medizin unter dem Gesichtspunkt der erfolgreichen Bekämpfung von Krankheiten.“ Also machen wir doch eine Heilkunst. Vielleicht kann ich eine vermittelnde Position einnehmen. Die Spezialität unserer Klinik ist, dass wir seit vielen Jahren mit der Industrie Dinge entwickeln, die wir mit als Erste einsetzen. Das heißt, es gibt noch keine Wissenschaft dazu. Ich würde sagen, da ist der Grundsatz der Heilkunst schon noch gegeben. Man muss nach vorne denken, eine OP durchführen, die noch kein anderer gemacht hat. Das wurde mir das erste Mal bewusst, als ein bekannter amerikanischer Augenarzt auf einem Kongress nach meinem Vortrag zu mir kam und sagte: „This is great because this is turning art into science.“ Hinter mir sehen Sie ein Bild, das Thomas Ruff gemacht hat, während ich ihm die erste torische Linse eingesetzt habe, die eine Hornhautverkrümmung ausgleicht. Ich glaube, es gibt den künstlerischen Aspekt des ästhetischen Chirurgen. Es gibt aber auch den künstlerischen Aspekt bei einem innovativen Chirurgen, der Pioniertätigkeit ausübt und auf nichts zurückgreifen kann. Das hat viel mit Instinkt zu tun und nicht nur mit Zahlen, Daten, Fakten. Natürlich baut man darauf auf, aber das allein ist nicht das Fundament.

Dr. Mark T. Sebastian

Dr. Mark T. Sebastian – Zahnarzt und Inhaber der Münchner Praxis MAX 36

Um bei den Augen zu bleiben. Wenn man eine schwerwiegende Augenkrankheit heilen oder die Sehkraft so verbessern kann, dass man wieder lesen oder Kunst betrachten kann, sagt man dann nicht insgeheim zu sich selbst: Das war ein Meisterwerk, das ich da geschaffen habe?

 

Detlev R.H. Breyer: Ich muss jetzt lachen, weil ich diesen Satz schon einmal gehört habe. Hängt mit dem Bild zusammen, das hinter mir hängt. Der Fotograf dieses Fotos, Dieter Blum, wurde mir von einem befreundeten Orthopäden aus Berlin geschickt, der sagte: „Du, ich habe da einen Freund. Ein weltbekannter Fotograf, der früher auch für den Stern gearbeitet hat, und jetzt grauen Star hat.“ Dieter Blum kam dann zu mir und hatte nicht nur einen grauen Star, sondern auch ein Makulaloch, das ich zusammen in einem Eingriff operiert habe. Sein Sehvermögen ist von 40 auf 100 Prozent gestiegen, was dazu führte, dass er mir aus Dankbarkeit ein Bild geschenkt hat. Das war ein wunderbares Geschenk von einem Künstler, dem man einen großen Gefallen getan hat und den man sehr schätzt. Sehen ist extrem wichtig und wenn man diese Fähigkeit verliert, hat man auch nicht mehr viel Spaß an der Kunst.

 

Wie ist es bei den anderen Ärzten? Sehen Sie manche ihrer Arbeiten nicht doch als eine Art Kunstwerk – ein tolles Gebiss, wenn eine orthopädische Operation perfekt gelingt, ein Busen natürlich wirkt?

 

Sebastian Siebenlist: Die Frage ist: Was sind Expertise oder technisch-chirurgische Fähigkeiten und was ist Kunst? Wenn ich einen schwierigen Fall habe und dem Patienten sage, dass wir versuchen können, das Problem minimal-invasiv zu lösen, und die OP gelingt dann tatsächlich ohne offenen Schnitt, bin ich schon ein wenig stolz und habe das Gefühl, etwas Ordentliches abgeliefert zu haben. Doch ob das Kunst ist oder der eigenen Ausbildung und der eigenen Expertise geschuldet ist, würde ich jetzt mal so dahingestellt lassen.

 

Mark T. Sebastian: Patienten sagen oft zu mir, dass ich ein Künstler sei, wenn sie nach der Behandlung ein neues Lachen haben, sich besser fühlen und besser zubeißen können. Ich persönlich empfinde das gar nicht so, weil ich viel studiert habe, um das so hinzukriegen. Von daher müssen wir vielleicht den Blickwinkel wechseln. Uns zurücknehmen und unsere Patienten sehen – für manche mögen wir Künstler sein.

 

Wir Patienten sehen natürlich schon einen Unterschied. Manche Ärzte, egal aus welcher Fakultät, erzielen bessere Resultate als andere, sind so gesehen also auch die größeren Künstler.

 

Michaela Montanari: Ich weiß nicht, ob ich das auf Kunst zurückführen würde. Ich kann mich eigentlich nur Herrn Sebastian anschließen. Wir haben den Anspruch, unsere Patienten zufriedenzustellen. Wenn sie zufrieden sind, dann sind wir es auch. Das basiert in erster Linie auf dem Handwerk, das wir gelernt und uns im Laufe unserer Berufspraxis angeeignet haben. Dann haben wir natürlich auch die Individualität der Patienten. Hier müssen wir Sachen antasten, bei denen wir alle in irgendeiner Weise Künstler sind. Wenn wir Zähne, Gelenke, die Augen oder den Körper so formen, dass die Maße zusammenpassen, dass die Funktionalität wiederhergestellt und der Patient glücklich und zufrieden ist. Vielleicht kann man es auch ein bisschen so sehen, dass es nicht nur um den künstlerischen Aspekt geht, sondern auch die Chemie muss stimmen. Schließlich gibt es unterschiedliche Ärzte, und es gibt die Patienten und Patientinnen, die zu ihnen passen, was wichtig ist, damit hinterher das Ergebnis stimmt. Das hat so viele Aspekte, und das ist vielleicht auch die Kunst, mit all diesen Aspekten für alle Beteiligten ein Superergebnis hinzubekommen.

 

Sind die Ansprüche in der Ästhetik gestiegen im Vergleich zu vor 15 oder 20 Jahren? Legen Patienten heute ein anderes Maß an?

 

Michaela Montanari: Ja, ich glaube schon. Gerade durch Social Media mit den ganzen Filtern, die es ermöglichen, sich in ein anderes Licht zu rücken, um so auszusehen, wie man aussehen möchte. Das erhöht die Ansprüche der Patienten, und man muss ihnen möglicherweise sagen, dass manches einfach nicht in der Form möglich ist.

 

Detlev R.H. Breyer: Beim Augenlasern ist der Anspruch ein ähnlicher, der ist da unglaublich gestiegen. Heutzutage möchte keiner mehr eine Brille tragen. Aber ich wollte noch mal zum Künstlerbegriff zurückkommen. Ich denke, wir werden ab einem gewissen Niveau sehr wohl als Künstler gesehen. Das ist ein Pfund, das wir nicht weggeben sollten. Deshalb fand ich den Einwurf vorhin ganz richtig: Ärzte arbeiten auf unterschiedlichem Niveau – das ist in jedem anderen Beruf genauso. Es gibt Ärzte, die sich mehr einbringen, die ein Alleinstellungsmerkmal haben, in dem, was sie tun. Diese werden von ihren Patienten dann manchmal durchaus als Künstler gesehen. Als ich ein junger Arzt war und eine normale chirurgische Praxis hatte, wurde ich definitiv anders wahrgenommen. Deshalb finde ich das sympathisch und empfinde es als Kompliment, wenn Patienten denken, da ist jemand, der sich besondere Mühe gibt. Er ist ein Künstler.

Dr. Michaela Montanari

Dr. Michaela Montanari – Fachärztin für plastisch-ästhetische Chirurgie mit eigener Privatpraxis aus Bochum

„Obwohl wir alle Spezialisten sind, gibt es immer wieder Ausnahmetalente, die sich ein bisschen mehr trauen als man selbst“

Man kann auch die Kehrseite betrachten. Im Zusammenhang mit der Heilkunst gibt es ja auch den Begriff Kunstfehler.

 

Detlev R.H. Breyer: Ich denke, man muss den Begriff Kunstfehler von dem Begriff Komplikation unterscheiden. Kunstfehler heißt, wir handeln als Ärzte gegen ärztliche Empfehlungen und evidenzbasierte Medizin und machen, was wir wollen. Eine Komplikation ist etwas, was uns allen passieren kann – auch wenn wir uns noch so anstrengen. Schließlich geht es um Menschen. Und der Mensch ist kein Stück Metall mit definierter Dichte, in den ich ein Loch bohre mit einem definierten Bohrer. Ja, es gibt Komplikationen, aber davon muss man Kunstfehler unterscheiden, und man muss Patienten vor der Operation dezidiert aufklären, damit sie eine persönliche Nutzen-Risiko-Abwägung durchführen können.

 

Michaela Montanari: Im Großen und Ganzen kann ich mich da anschließen. Wir sprechen von Kunstfehler, wenn fachliche Standards, die für eine Behandlung erforderlich sind, nicht eingehalten werden. Das abzugrenzen, ist schwierig, gerade im ästhetischen Bereich, wenn jemand sagt: „Ich bin mit dem Ergebnis nicht so zufrieden, es ist nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Das ist ein Kunstfehler.“ Also da ist man dann weit davon entfernt, das ist die subjektive Betrachtung. Deshalb ist es ganz wichtig, im Vorhinein herauszufiltern, was die Erwartungshaltungen des Patienten sind und was man als Arzt mit dem, was einem vorliegt, machen kann. Das betrifft eigentlich alle Fachbereiche, ob es ein Knie oder ein Auge ist. Manchmal kann man nicht mehr rausholen, weil die Voraussetzungen nicht gegeben sind, da kommt man als Arzt an seine Grenzen. Doch das heißt noch lange nicht, dass es auch ein Kompetenzfehler ist. Das muss man schon streng unterscheiden, und es wird häufig durcheinandergeworfen.

 

Sebastian Siebenlist: Ich glaube, der Begriff Kunstfehler ist ein bisschen irreführend, weil es letzten Endes auf die ärztliche Kunst zurückgeführt wird, die vielleicht falsch interpretiert oder ausgelegt wird. Der lateinische Begriff ,lege artis‘ beinhaltet ja das Gleiche. Etwas ist nach der entsprechenden Kunst durchgeführt worden oder eben auch nicht. Wie Doktor Breyer schon sagte: Ein Behandlungsfehler liegt vor, wenn etwas nicht nach ärztlichen Vorgaben und Leitlinien sowie nach bestem Wissen und Gewissen durchgeführt wurde. Was uns allen passieren kann, sind Komplikationen. Darüber wird der Patient auch aufgeklärt und muss dazu seine Einwilligung geben. Alles außerhalb dieser Felder ist dann etwas, das in den Bereich eines selbst verschuldeten Fehlers fällt, aber das hat mit Kunst nichts mehr zu tun.

 

Abgesehen von privaten Interessen: Hat die Kunst einen Einfluss auf Ihre Arbeit? Gibt es Vorbilder – Musikstücke oder bildende Kunst etwa – die Sie als zuträglich für die Heilung betrachten würden?

 

Sebastian Siebenlist: Ich würde als Vorbilder vor allem Vorreiter meines Fachgebiets sehen. Obwohl wir sicher alle Spezialisten sind, gibt es immer wieder Ausnahmetalente, die sich mehr trauen als man selbst, und zu diesen Leuten blicke ich auf. Was sie tun, ist eine Kunst. Ähnlich wird es den Patienten mit uns gehen, weil Kunst immer auch etwas einhaltet, was ich selbst nicht richtig verstehe. Und deswegen beeindruckt mich das so. Wenn ich beispielsweise in eine Ausstellung gehe und nicht ganz den Sinn hinter den Werken begreife, dann denke ich mir: Das ist sicherlich Kunst, aber so ganz erschließt sie sich mir nicht. Deswegen ist das, was wir leisten können für den Patienten, so außergewöhnlich, weil er es nicht gänzlich versteht. Und das könnte man unter dem Begriff Kunst subsumieren.

 

Mark T. Sebastian: In der Zahnmedizin arbeiten wir viel mit Zahntechnikern zusammen, die beim Herstellen von Keramikzähnen die Natur perfekt kopieren, was Formen, was Schichtung, Transparenz, Farbe und Lichtwiedergabe angeht. Die wirklich großen Zahntechniker bezeichnen wir als Künstler, weil ihre Arbeit immer auch an ein großes Gemälde erinnert. Wir Zahnärzte wissen zwar ungefähr, wie das funktioniert, verstehen die Arbeit der Zahntechniker dann aber doch nicht im Detail. Privat ist Kunst für mich immer Entspannung. Ich gehe in die Natur oder ins Museum, wo ich mich ablenken, berauschen, inspirieren oder auch in Unverständnis hüllen lassen kann, wie der Kollege schon sagte. Ich weiß nicht, ob ich ohne Kunst meinen Beruf so entspannt ausüben könnte.

 

Detlev R.H. Breyer: Wir haben in der Praxis auch Originalkunst hängen, weil mich Kunst einfach inspiriert. Außerdem glaube ich, dass sie die Patienten vom Klinikambiente ablenkt. Ich weiß, von was ich spreche, ich selbst bin ein echter Zahnarzt-Schisser. Viele Leute sind dankbar dafür, dass da Kunst hängt, die sie ablenkt, und dass es bei uns aussieht wie in einem 5-Sterne-Hotel und nicht wie in einer Augenklinik.

 

Frau Dr. Montanari, gibt es im Kunstbereich ein Vorbild – eine Skulptur, ein Bild – das Sie gerne schaffen würden?

 

Michaela Montanari: Vorbilder gibt es ja immer viele, und die wandeln sich auch immer wieder. In der plastisch-ästhetischen Chirurgie – egal, ob Gesicht oder Körper – geht es um Proportionen, um Maße, um künstlerische Bilder, die sich im Wandel der Zeit verändern. Gerade in Bezug auf die körperformende Kunst, wenn man griechische Skulpturen nimmt und die Entwicklung bis heute betrachtet. Ich habe immer wieder Patienten, die aussehen möchten wie Leute, deren Bilder sie im Kopf haben. Oder von Proportionen sprechen, die sie gerne haben würden. Wir müssen immer ein bisschen künstlerisch aktiv sein, mehr vielleicht als in anderen Bereichen, in denen es in erster Linie um Funktionalität geht.

 

Aber Sie richten sich mehr nach den Kundenwünschen als nach den eigenen Idealen?

 

Michaela Montanari: Naja, es gibt schon gewisse Masterproportionen, die man einhalten muss und auch einhalten sollte. Ich persönlich finde, man sollte natürlich aussehen. Für mich gibt es nichts Schlimmeres, als wenn man aus meiner Praxis kommen und sagen würde: Das ist alles gemacht. Die Kunst besteht darin, zum Beispiel Falten so zu unterspritzen, dass es Außenstehenden nicht direkt auffällt, sondern dass man höchstens darauf angesprochen wird, dass man frischer und erholter aussieht. Ich habe auch Patientinnen, die von Lippen träumen, die proportionstechnisch nicht ins Gesicht passen würden, und da muss man auch den Mut haben, zu sagen, dass man nicht dahintersteht. Ich finde es schon sehr wichtig, zu dem zu stehen, was man widerspiegelt. Für mich ist Natürlichkeit ein wichtiger Aspekt, und so hat jeder sein Steckenpferd.

Prof. Dr. Sebastian Siebenlist

Prof. Dr. Sebastian Siebenlist – Chefarzt Sektion Sportorthopädie am Klinikum rechts der Isar in München.

Dr. Detlev R.H. Breyer

Dr. Detlev R.H. Breyer – von der Augenchirurgieklinik Breyer Kaymak Klare sowie vom Augenlaserzentrum Premiumeyes in Düsseldorf

„Die wirklich großen Zahntechniker bezeichnen wir als Künstler, weil ihre Arbeit immer auch an ein Gemälde erinnert“

Ist dieses Grenzen-Setzen dem Patienten gegenüber das, womit Sie alle täglich konfrontiert werden?

 

Detlev R.H. Breyer: Das halte ich für extrem wichtig. Es gibt so einen Spruch, gerade beim Augenlasern, den man bei jedem Kongress mehrfach hört: „underpromise, overperform“. Außerdem betone ich immer die negativen Seiten einer OP. Wenn ich über eine Multifokallinse aufkläre, sage ich: Danach brauchen Sie zwar keine Brille mehr, aber Sie fühlen sich beim Autofahren nachts geblendet. Ist das Grenzen-Setzen? Weiß ich nicht, eher ein realistisches Aufklären. Wenn das Ergebnis dann super wird, freuen sich alle Seiten. Das halte ich für einen nicht nur seriösen, sondern wichtigen Ansatz. Der Patient kommt erst mal euphorisch, und diese Euphorie muss man auf das Realistische herunterbrechen.

 

Mark T. Sebastian: Bei uns hat viel mit Hollywood und Filmschauspielern zu tun. Patienten kommen mit übersteigerten Vorstellungen und wünschen sich ein Lachen à la Julia Roberts, was im Zweifelsfall gar nicht zum Gesicht passt. Oder sie wollen ein übersteigertes Weiß für ihre Zähne haben. Wir haben manchmal schon Schwierigkeiten, Patienten davon zu überzeugen, im Rahmen zu bleiben, und raten ihnen von dem Hollywood Toilet White ab. Aber ich habe auch einen Patienten, bei dem ich das gemacht habe, nachdem wir Testreihen mit ihm durchgeführt hatten und er es immer noch wollte. Er ist superglücklich damit. Ich hatte gerade heute eine junge Patientin, die mich aufgefordert hat, ihre Eckzähne zu kürzen. Ihr habe ich gesagt: Nein, das mache ich nicht, weil sie funktionell notwendig sind. Und dann ist die Diskussion für mich auch zu Ende. Übrigens auch beim Patienten, weil er weiß, dass ich zwar in der Ästhetik arbeite, es für mich aber aufhört, wenn es die Funktion vernichtet, und der Zahn mit seiner Ästhetik somit nicht mehr geschützt ist.

 

Michaela Montanari: Das Problem ist ja leider, dass es genug Ärzte und Kollegen gibt, die es trotzdem machen. Wenn Patienten bei uns unzufrieden sind, gehen sie woanders hin. Gerade in der Ästhetik. Man muss nicht mehr unbedingt eine Facharztkompetenz haben, um das anzubieten.

 

Sebastian Siebenlist: Wir haben auch das Problem, dass wir heutzutage mit einer ganz anderen Art von Patienten konfrontiert werden. Sie können sich durch das Internet besser informieren, wenn auch oft mit gefährlichem Halbwissen. Häufig kommen Patienten oder Patientinnen zu mir und sagen: „Ich will genau diese Art von Operation haben, damit ich danach dies und das wieder machen kann.“ Wenn ich dann erwidere, dass das zwar prinzipiell eine gute Operation sei, in seinem Fall aber so aufgrund anderer Voraussetzungen nicht funktionieren wird, dann muss man zusammen mit dem Patienten eine gute Kompromisslösung finden.

 

Wenn Sie eine medizinische Leistung der Geschichte als Kunst etikettieren müssten, welche wäre das?

 

Detlev R.H. Breyer: Ein Herz zu transplantieren – allerhöchster Respekt! Da fühlt man sich als Augenarzt schon ein bisschen klein, gebe ich ehrlich zu.

 

Michaela Montanari: Mich hat die komplette Gesichtstransplantation eines Patienten sehr beeindruckt, weil nicht nur die ästhetische Komponente berücksichtigt werden muss, sondern auch die komplette Funktionalität, verbunden mit der Identität, die ein Gesicht ausmacht. Ich will die Herzchirurgie nicht schmälern, aber dass man so etwas überhaupt hinbekommen kann, finde ich schon ganz große Klasse.

 

Sebastian Siebenlist: Ich spreche mal für mein Fachgebiet. Da fand ich in den letzten 20 Jahren die Entwicklung der inversen Prothese für die Schulter das Beeindruckendste. Wenn Patienten den Arm praktisch nicht mehr hochbekommen und vier Wochen später das Glas wieder schmerzfrei aus dem Regal nehmen können … Und das lediglich durch eine Veränderung der Hebelverhältnisse im Schultergelenk. Das ist für mich in der Orthopädie einer der größten Würfe der letzten Jahre.

 

Mark T. Sebastian: Ich kann mich nur meiner Kollegin anschließen. Bei uns ist es auch die Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie, gerade nach Unfällen oder genetischen Defekten, die wieder ein normales, soziales Leben ermöglicht. Das Lachen, Kauen, Atmen, Reden wiederherzustellen – das finde ich schon extrem beeindruckend.

Das Interview führte
Christine Bürg und Robert Emich

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