Dichtende Ärzte

Schreibkunst trifft Heilkunst: Warum brillieren Ärztinnen und Ärzte so oft in der Literatur? Über die Liaison von Feder und Skalpell

@ Vanessa Daly

Anton Tschechow, Arthur Schnitzler, Friedrich Schiller, François Rabelais, Louis-Ferdinand Céline, Arthur Conan Doyle, Michail Bulgakov, Gottfried Benn, Alfred Döblin, William Somerset Maughan, Georg Büchner, António Lobo Antunes … – was haben diese Autoren gemeinsam?

 

Sicher, alle sind Klassiker der Weltliteratur, Teil des Kanons, der großen, vielstimmigen Erzählung vom Leben der Menschen auf dieser Erde. Doch diese Schriftsteller verbindet auch noch etwas anderes: ihr zweiter Beruf. Sie alle waren oder sind Ärzte. Nun scheint ein Medizinstudium ohnehin auf vieles im Leben – und in den Künsten – vorzubereiten.

 

Es gibt malende Ärztinnen und Ärzte, die Schauspielerinnen Christiane Paul und Maria Furtwängler etwa sind studierte Medizinerinnen und praktizierten auch, ebenso wie der Musiker Mark Tavassol, der in Bands wie Wir sind Helden und Gloria spielt, oder die Kabarettisten Georg Ringsgwandl und Eckart von Hirschhausen. Dennoch, in keinem anderen Bereich liegt die Schnittmenge derer, die auf beiden Gebieten reüssierten, so hoch wie bei der Literatur und der Medizin.

 

Etwas scheint die Kunst des Heilens und die Kunst des Schreibens zu verbinden

 

So unterschiedlich die Charaktere, Temperamente und Werke der schriftstellernden Ärztinnen und Ärzte auch ausfallen, etwas scheint die Kunst des Heilens und die Kunst des Schreibens zu verbinden. Und das durch die Jahrhunderte und über kulturelle Grenzen hinweg so häufig, dass für das Phänomen ein eigener Begriff geprägt wurde, der des „Dichterarztes“.

 

Der hat es nicht nur zu einem eigenen Wikipedia-Eintrag mit beeindruckend langer Namensliste gebracht, sondern die schreibenden Ärzt:innen haben sogar ihre eigene, den Globus umspannende Vereinigung gegründet. Nämlich die 1965 ins Leben gerufene Union Mondiale des Écrivains Médecins (UMEM).

 

Im deutschsprachigen Raum gibt es seit 1970 den Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte, der Teil der UNEM ist. Diese veranstaltet jährlich an wechselnden Orten in der Welt internationale Kongresse zu Themen wie „Medizin, Riten und Religionen“, „Die künstlerische Berufung des Arztes“, „Europa, Traum oder Realität“ oder „Mythologie und Arzt“.

 

Im deutschsprachigen Raum gibt es seit 1970 den Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte

 

Dass in der Liste der großen Dichterärzte bislang so wenige schreibende Ärztinnen auftauchen, hat seinen Grund darin, dass Frauen der Zugang zum Medizinstudium über Jahrhunderte verwehrt blieb. In der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit holen sie jedoch massiv auf. Ulrike Blatter, Melitta Breznik, Rita el Khayat, Elisabeth Kraushaar- Baldauf, Colleen McCullough, Marie Pappenheim, Lydie Salvayre, Monika Vogelgesang, Katrin Wehmeyer Münzing sind nur einige der Namen.

 

Und schaut man in die fernere Vergangenheit, in das offenbar doch nicht so finstere frühe Mittelalter des 12. Jahrhunderts, so findet sich da die heilkundige Trota, die an der Medizin-schule von Salerno studierte, praktizierte und lehrte. Auf sie geht die „Trotula“ zurück, die erste Schriftensammlung zur Frauenheilkunde, die bis ins 15. und 16. Jahrhundert zu den Standardwerken der Medizin zählte.

 

In Form von nachhaltigen Kosmetiktipps und ganzheitlichen Gesundheitsempfehlungen für Frauen, Männer und Kinder berichtet sie viel von der Lebenswirklichkeit der Epoche. Und dann ist da fast zur gleichen Zeit natürlich noch die deutsche Äbtissin, Dichterin, Komponistin und heilkundige Universalgelehrte Hildegard von Bingen.

 

Die Mystikerin, Predigerin und Beraterin be-deutender Persönlichkeiten wurde bis vor wenigen Jahren oft auf die Figur einer Kräuter- und Hausmittelkundigen Nonne reduziert. Dabei umfasst allein ihr literarisches Werk Schriften zu Religion, Medizin, Musik, Ethik und Kosmologie: ein Multigenie des Mittelalters.

Ein Versuch, die Dichterärzt:innen und ihre Werke auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, wird wohl immer scheitern. Sie beschränken sich ja keineswegs auf medizinische Themen oder verwandte Bereiche. Meist geben sie sich anhand ihrer Bücher gar nicht als Mediziner:innen zu erkennen. Nur gelegentlich blitzt mal ein Detail auf, das ihre Kenntnisse auf diesem Gebiet verrät.

 

Ein verbindendes Prinzip im Schreiben selbst ist jedoch nicht zu identifizieren. In Stil, Thematiken und Haltungen sind sie so heterogen wie alle anderen Schriftsteller:innen auch.

 

Wie soll man auch einen Vorkämpfer der Freiheit wie Georg Büchner mit einem Fanatiker wie Radovan Karadžić, den früheren Präsidenten der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina vergleichen, der ein verurteilter Kriegsverbrecher ist, aber eben auch Psychiater war und Gedichte sowie Kinderbücher schrieb? Selbst wenn man sich auf rein belletristische Autor:innen beschränkt und fachwissenschaftlich-medizinische Werke ausklammert, was den Widerspruch der Vertreter:innen der aktuellen Literature-and-Science-Studies hervorrufen würde, die auch diese Texte literarisch analysieren, muss jede Auswahl individuell und letztlich zufällig bleiben.

 

Ein verbindendes Prinzip im Schreiben selbst ist jedoch nicht zu identifizieren

 

Doch vielleicht gibt es dennoch ein Element, dass im Idealfall Feder und Skalpell, schriftstellerisches und ärztliches Denken verbindet: den unverstellten Blick auf die Wirklichkeit und die Fähigkeit, das Gesehene aushalten zu können und ihm nicht auszuweichen. Der analytische Blick zeichnet eine erstaunlich hohe Anzahl der Autor:innen mit medizinischem Background aus.

 

Selbst wenn er sich auf ganz diverse Dinge richtet und zu unterschiedlichen Reaktionen und Ergebnissen führt. Da sezieren ein Friedrich Schiller oder ein Georg Büchner in Theaterstücken wie Die Räuber oder Woyzeck die Machtstrukturen ihrer Epoche und deren Auswirkungen auf die Individuen und die Gesellschaft.

 

Im 20. Jahrhundert setzte etwa der Dichterarzt Alfred Döblin diesen Weg fort und führte ihn in seinem epischen Roman Berlin Alexanderplatz in ungeahnte Weiten und poetische Tiefen. Anton Tschechow nahm die Umbrüche seiner Zeit mit hoher Sensibilität wahr und spiegelte sie in Dramen wie Drei Schwestern oder Der Kirschgarten im Seelenleben seiner Figuren, während Arthur Schnitzler in Der Reigen oder der Traumnovelle ein helles Licht auf die verborgenen und meist im Dunkeln liegenden sexuellen Vorstellungen und Realitäten im Wien des späten 19. Jahrhunderts richtete.

 

Anton Tschechow nahm die Umbrüche seiner Zeit mit hoher Sensibilität wahr

 

Arthur Conan Doyle schließlich machte seine berühmteste Figur, den Detektiv Sherlock Holmes, geradezu zum Sinnbild der Deduktion und Analyse. Sherlock weiß die ganze Welt als Zeichen zu lesen, keine noch so kleine Spur entgeht ihm, und aus all den mikroskopischen Details (re)konstruiert er sorgsam verborgene und verschleierte Sachverhalte.

 

Doch mit Holmes und seiner Übersensibilität streift Arthur Conan Doyle auch schon die Grenze zum Wahnhaften, was vor allem spätere Interpretationen seines Werks in Lite-ratur und Bewegtbild betont haben. Von Drogen ist da ebenso die Rede wie von Paranoia, einer Hellsicht, die zur Psychose wird – oder sogar von Rausch.

Auf dieser Grenze zwischen radikaler analytischer Klarheit und Irrationalität bewegen sich auch einige der Dichterärzte selbst – als bewusstes Experiment oder unbewusste Tragik und Schuld.

 

Louis-Ferdinand Céline, der von den 1920er-Jahren bis zu seinem Tod 1961 immer auch als Arzt praktizierte, schuf mit dem Roman Reise ans Ende der Nacht 1932 eine der großartigsten und rückhaltlosesten Beschimpfungen des 20. Jahrhunderts, eine einzige Auflehnung gegen die Zumutungen des Daseins, ein sprachlich brillanter, böser, halluzinogener Trip durch das Grauen des Ersten Weltkriegs, französische Kolonien, die USA und die Öde der Pariser Vorstädte.

 

Im frühen 20. Jahrhundert thematisierten einige der schriftstellernden Doktoren wie William Somerset Maugham den eigenen Beruf

 

Doch schon im zweiten Roman Tod auf Kredit von 1936, dem Bericht über eine Kindheit und Jugend in den Zwängen und Lebenslügen einer Kleinbürgerhölle, kippte er in eine generelle Misanthropie, die bald in üble antisemitische Pamphlete mündete.

 

Als Nazi-Kollaborateur kam er gegen Kriegsende nach Deutschland und schrieb darüber später eine sarkastisch groteske Romantrilogie, in der er auch an den Deutschen kein gutes Haar lässt. In Frankreich in Abwesenheit zum Tode verurteilt und später begnadigt, kultivierte er bis zum Ende seines Lebens das Bild eines unbelehrbaren Altnazis und Menschenhassers.

 

Céline hatte sich seinen Dämonen hingegeben. Ganz bewusst den sprachlichen Rausch und das verbale Äquivalent zur Entgrenzung suchte ab den 1980er-Jahren der deutsche Autor und Psychiatriearzt Rainald Goetz – ob in seinem 1983 erschienenen sprachmächtigen und rhapsodischen Debütroman Irre über das Leben und Arbeiten in der Psychiatrie oder in späteren Texten wie Rave von 2001, der Struktur, Gefühl und Er-leben der damaligen Nacht- und Clubwelt spürbar machte und deren Sound, Rhythmus und Grenzverschiebungen in Sprache fasste. Bewusste Versuche eines hellen Wahns, mit genauem Blick auf äußerst flüchtige Momente und Phänomene.

 

Letztlich bleiben die Werke der Dichterärzt:innen aber so vielfältig wie die Literatur selbst

 

Und mitunter sind die literarischen Fantasien schreibender Ärztinnen und Ärzte auch ein einziger großer und alle Regeln der Logik und Vernunft hinter sich lassender Spaß. In seinen burlesken Romanwerk Gargantua und Pantagruel imaginiert François Rabelais im 16. Jahrhundert eine ideale Stadtmauer für Paris – bestehend aus weiblichen und männlichen Geschlechtsteilen, die so fest zu-sammenstecken, dass keiner sie je trennen und diese Mauer durchbrechen könnte.

 

Letztlich bleiben die Werke der Dichterärzt:innen aber so vielfältig wie die Literatur selbst. Sogar an der Wiege der „Arztromane“ – dem Gegenpol zu den Meisterwerken der schreibenden Ärzt:innen – stand ironischerweise ein Dichterarzt.

 

Im frühen 20. Jahrhundert thematisierten einige der schriftstellernden Doktoren wie William Somerset Maugham in Der Menschen Hörigkeit bereits den eigenen Beruf. Am erfolgreichsten war damit der schottische Arzt und Autor A. J. Cronin mit seinem Roman Die Zitadelle von 1937.

 

Der befasste sich zwar mit Fragen der Ethik und warf einen kritischen Blick auf das britische Gesundheitssystem, bettete dies aber in eine Liebesgeschichte ein, die eine zentrale Rolle im Buch spielt. Der Roman wurde zum Welterfolg – und geheimer Pate eines ganz speziellen Genres der Trivialliteratur.

 

 

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