„Überall, wo ein Athlet eine starke oder schwache Seite hat, kann das Gebiss eine Rolle spielen”
„Überall, wo ein Athlet eine starke oder schwache Seite hat, kann das Gebiss eine Rolle spielen”
Der Mann weiß, wie man richtig die Kurve kriegt oder den sprichwörtlichen Biss, um sportliche Höchstleistungen zu erzielen. Und das nicht nur aufgrund seines Berufs. Dr. med. dent. Siegfried Marquardt war selbst in seiner Jugend Zehnkämpfer, ist heute noch leidenschaftlicher Wintersportler und Tennisspieler. Der Tegernseer zählt zu den Pionieren der Sportzahnmedizin in Deutschland. Er betreut Weltklasse-Athlet:innen, von Fußballsuperstars bis Olympiasieger:innen. Aber auch ambitionierte Freizeitsporter:innen, die ihre Leistung steigern wollen.
Sportzahnmedizin scheint ein relativ junges Fachgebiet der Medizin zu sein. Außer natürlich, wenn man Zahnschmerzen hat. Wie kann das Gebiss die sportliche Leistung beeinflussen?
So neu ist das Gebiet gar nicht. In den USA existiert schon seit den 80er-Jahren die American Academy for Sportdentistry, und seit Langem gibt es dort kaum noch einen Profisportverein, der nicht auch einen Sportzahnmediziner im Medical Team hätte. In Japan beispielsweise gibt es keine Universität ohne einen eigenen Lehrstuhl für Sportzahnmedizin.
Und in Deutschland?
Leider gar nicht. Es gibt in Deutschland keine Uni, die eine eigene Abteilung dafür hat. Das wird aber kommen! Vereinzelte Lehrstühle für Sportmedizin – zum Beispiel an der Uni Leipzig – integrieren das Thema Sportzahnmedizin inzwischen. Zudem gibt es bereits Kooperationen zwischen der Deutschen Gesellschaft für Sportzahnmedizin (DGSZM e.V.) mit der deutschen Sporthilfe, dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und mit dem DSV. Im Augenblick wird das Thema in ganz Europa noch eher stiefmütterlich behandelt. Bereits 2007 wurde die DGSZM gegründet, wo ich auch im Vorstand bin. Diese setzt sich dafür ein, einheitliche Qualitätskriterien zu definieren und umzusetzen. Die Zusammenarbeit mit den Verbänden fruchtet mehr und mehr.
Was ist denn konkret der Unterschied zwischen einem klassischen Zahnarzt und einem Sportzahnmediziner?
Eines der wichtigsten Themen der Sportzahnmedizin ist zunächst einmal die Traumatologie. Studien zeigen, dass klassische Zahnmediziner in diesem Bereich erhebliche Wissensdefizite aufweisen, weil sie in ihrer täglichen Praxis nicht so oft damit zu tun haben. Wenn ein Sportler oder eine Sportlerin etwa beim Skifahren gegen eine Torstange knallt und sich einen Zahn ausschlägt, abbricht oder staucht, ist schnellstmögliche Hilfe gefragt. Darauf sind wir spezialisiert. Etwa beim Reimplantieren, wenn der Zahn und die Wurzel noch intakt sind. Man kann das mit dem Unterschied zwischen einem normalen Hausarzt und einem Rettungsarzt vergleichen.
Dieses spezielle Wissen trägt jetzt aber nicht zu einer potenziellen Leistungssteigerung bei?
Nein, da geht es um etwas ganz anderes, nämlich um Diagnostik. Das bedeutet, dass ich erfassen kann, ob ein Athlet oder eine Athletin ein funktionelles Problem hat, das ursächlich vom Kopf-Kiefer-Bereich ausgeht. Ich suche und eliminiere in der Folge leistungsmindernde Störfaktoren, wie versteckte Entzündungen, einen falschen Biss, fehlende Zähne oder eine schlecht sitzende Krone.
Wie kann sich das auf die sportliche Performance auswirken?
Wir sprechen dabei von einer sogenannten absteigenden Kette. Das heißt, die eigentliche Ursache liegt im Kopfbereich verborgen. Die Muskulatur versucht zu kompensieren und auszugleichen, schafft es aber nicht, und zieht damit den ganzen Körper in Mitleidenschaft. Dann kommt es zu Verspannungen, Nackenbeschwerden, Kopfschmerzen, Schulterproblemen.
Und das beeinflusst dann die sportliche Leistung?
Klar, es beeinflusst das körperliche Empfinden an sich und erhöht natürlich auch die Verletzungsanfälligkeit. Weil ich immer irgendwie verspannt und verkrampft bin. Diese Einschränkungen halten den Sportler in einer permanenten Vermeidungshaltung, und damit ist er oder sie blockiert. Blockaden sind logischerweise grundsätzlich schlecht für die Bewegungsfreiheit bei der Ausübung eines Sports, erstrecht, wenn es um Höchstleistungen geht. Es betrifft Freizeit- sportlerInnen aber genauso. Ein weiterer wichtiger Punkt im Zusammenhang mit sportlicher Höchstleistungsfähigkeit ist die orale Gesundheit insgesamt.
Putzen sich Leistungssportler:innen denn nicht gut die Zähne?
Es ist leider auch durch einige Studien bewiesen, dass gerade Hochleistungssportler:innen eine hohe Affinität für Karies und Parodontitis haben.
„Man hat immer zu wenig Zeit, also auch fürs Zähneputzen”
Würde man erstmal gar nicht vermuten, weil man ja eher denkt, SportlerInnen sind grundsätzlich sehr gesundheitsbewusst.
Ja, ganz genau! Doch es gibt zwei Erklärungen. Einerseits die Ernährung, mit diesen ganzen säure- und zuckerhaltigen Energy-Drinks und vielen Kohlehydraten – alles, was der Körper ja braucht, weil er sehr viel verbrennt. Dazu kommt mangelnde oder nicht ausreichende Zahnhygiene. Das kennen wir ja selbst: Man hat immer zu wenig Zeit, also auch fürs Zähneputzen. Das ist eine ungesunde Kombination mit der erwähnten bevorzugten Ernährung – und ein Riesenproblem, weil speziell die Parodontitis, also die Zahnfleischentzündung, direkten Einfluss auf unseren gesamten Organismus hat.
Inwiefern?
Es handelt sich zum einen um eine den Körper belastende, chronische Entzündung. Wir wissen außerdem heute, dass es einen bidirektionalen Zusammenhang gibt zwischen Parodontitis und Diabetes. Das heißt: Wer unter Zahnfleischentzündung leidet, hat auch ein signifikant höheres Risiko Diabetes zu entwickeln – und umgekehrt. Das ist bei Sportler:innen besonders brisant, weil sie als Diabetiker nicht mehr so belastbar sind. Die Parodontitis kann sich außerdem über die Blutbahn auch im Herz ablagern. Da sind vor allem die sogenannten anaeroben Keime, die keinen Sauerstoff zum Überleben benötigen, sehr gefährlich. Sie wandern in die Blutbahn, darum ist die Parodontitis mit einer der Hauptursachen für kardiovaskuläre Erkrankungen – Herzinfarkt, Schlaganfall, Arteriosklerose beispielsweise.
Und wie kann ein falscher Biss sportliche Leistungen beeinflussen?
Auch dabei ist es so, dass die Fehlfunktion sich auf den gesamten Körper auswirkt, wie bereits erläutert.Wenn ich die Ursachen diagnostiziert habe, kann ich den Sportler mithilfe interdisziplinärer Zusammenarbeit, etwa mit der Orthopädie, richtig einstellen. Durch Relaxation und Abstimmung mit der Physiotherapie kann ich den Biss so physiologisch richtig einstellen und registrieren, dass die Muskulatur rechts und links wieder gleichmäßig reagiert.
Lässt sich denn dabei ein Vorher-nachher-Effekt messen?
Das ist natürlich auch für die Trainer ein ganz wichtiger Punkt. Die wollen immer alles messen und analysieren. Dazu gibt es eigene Geräte, mit deren Hilfe sich etwa die Muskelaktivität oder auch die Laufhaltung digital messen und vergleichen lässt. Mit dem sogenannten Teethan®-System kann ich zum Beispiel die Parameter von Unregelmäßigkeiten und Fehlstellungen digital erfassen. Häufig führt ja ein schlechter Biss beim Zubeissen (durch ungleichmäßiges Aufeinandertreffen der Zähne) zu Muskelverspannungen im Schläfen-, Wangen- und Nackenbereich, die sich wiederum auf die ganze Körperhaltung auswirken. Ich hatte die „absteigende Kette“ ja eingangs bereits beschrieben. Diese Fehlfunktion merkt man meistens gar nicht, weil eben die Kaumuskulatur versucht, den falschen Biss zu kompensieren. Es gab zum Beispiel einen Skicrosser, der hatte eine starke Rechtskurve, aber eine schwache Linkskurve. Auch der Trainer wusste keinen Rat. Beim Screening zeigte sich dann, dass er orthopädisch absteigend vom Kopf-Nacken-Bereich her Probleme hatte. Dass die linke Schulter zu hoch steht, dass die rechte zu weit vorne ist und dass er mit seinem linken Bein rauskippt. Alles vom Kiefer ausgehend.
Wie haben Sie ihm helfen können?
Salopp ausgedrückt, indem ich ihn wieder geradegerückt habe. Zuerst analysiere ich, wie vorhin angesprochen, die Fehlstellung. Mithilfe der gewonnenen Daten und der erfolgreichen Bestimmung der relaxierten, physiologischen Bissposition können wir dem Zahntechniker alle notwendigen Informationen zur Verfügung stellen, damit dieser eine spezielle Schiene herstellt, die dafür sorgt, dass der Athlet quasi wieder ins Lot kommt und stabil bleibt. Mit dem Ergebnis, dass er nun die Linkskurve genauso gut hinbekommt wie den Rechtsschwung.
Ist die Schiene nur für die Zeit der sportlichen Aktivität oder korrigiert sie permanent die Fehlstellung?
Sie stabilisiert seine Statik und sorgt für eine Gleichschaltung der Muskulatur. Würde er die Schiene ständig tagsüber tragen, wäre er immer im Lot. Das macht natürlich niemand. Oft geht es im Hochleistungssport ja um Nuancen während der aktiven Bewegung. Daher macht ein ständiges Tragen auch nicht immer Sinn. Doch wenn ein normaler Patient beispielsweise ständig unter Migräne leidet, aufgrund einer Fehlstellung, dann lässt sich das durch eine andere Art von Schiene beheben, die vor allem nachts getragen wird.
Kommen denn auch Sportler:innen zu Ihnen, die ein Leistungsproblem haben und fragen, ob das an den Zähnen liegen kann?
Das gibt es mittlerweile schon häufiger. Meist ist es so, dass man bei einer Routinekontrolle ins Gespräch kommt, und dann erzählt der Patient beispielsweise, dass er oder sie diese ständigen Probleme mit der Hüfte hat, aber der Orthopäde keinen Rat weiß. Oder dass er oder sie sich seltsamerweise immer am rechten Bein verletzt. Dann frag ich nach, ob ich nicht mal ein Screening machen soll. Darüber hinaus ist es im Profisport so, dass heute standardmäßig Pre-Season-Checks immer mehr verpflichtend sind und immer häufiger die Mannschaftsärzte oder Orthopäden den Zahnarzt zurate ziehen. Dabei kommt man auch immer wieder zu neuen Fällen.
Dr. med. dent. Siegfried Marquardt – Pionier der Sportzahnmedizin in Deutschland
Expert:innen auf dem Gebiet der Sportzahnmedizin aus dem Qualitätsbündnis der
Dr. Mark Sebastian
Maximilianstraße 36, München
T.: 089 22 80 16 00
Drs. Ina & Christopher Köttgen
Welschstraße 2, Mainz
T.: 06131 53 986
Dr. Christian Leonhardt
Karolinenstraße 2, Augsburg
T.: 0821 51 51 45
Gibt es Sportarten, die besonders prädestiniert sind für Leistungsverbesserungen durch solche Performance-Schienen?
Die gibt es meines Erachtens schon. Im Prinzip alles Sportarten, die sehr viel Bewegung haben. Allerdings unterscheiden wir bei der Auswahl der individuellen Schienen zwischen Kontaktsportarten und „passiven“ Sportarten. Triathlet:innen zum Beispiel, Läufer:innen, Fußballer:innen, Schwimmer:innen, Biathlet:innen, Golfer:innen brauchen eine reine Perfomanceschiene im Unterkiefer. Bei Kampfsportarten wie Eishockey, Feldhockey, Basketball wird ein zusätzlicher Schutz bei harten Krafteinwirkungen benötigt. Dafür gibt es einen speziellen Mundschutz für den Oberkiefer. Generell gilt bei allen Sportarten, die auf eine schnelle Kraftumsetzung aus der Bewegung heraus angewiesen sind, dass die Muskelketten physiologisch und gleichgerichtet angesteuert werden sollten.
Ist das weniger der Fall, wenn es um Präzision geht?
Also ein:e Schachspieler:in wird mit einer Performance-Schiene wohl kaum eine bessere Leistung erbringen können, außer er beisst ständig auf den Zähnen herum. Aber beispielsweise im Biathlon haben wir, was die Trefferpräzision betrifft, eindeutig positive Ergebnisse. Grundsätzlich kann man sagen: überall, wo ein:e Athlet:in eine ausgeprägte starke oder schwache Seite hat, kann das Gebiss eine Rolle spielen.
Ist denn eine Leistungssteigerung mit einer Performance-Schiene sofort feststellbar?
Ja, innerhalb von Minuten. Natürlich braucht es mittelfristig eine Gewöhnung, doch grundsätzlich sollte die Schiene sofort wirken. Ich hatte gerade den Fall eines Fußballers: Schiene rein und drei Tore im ersten Spiel damit geschossen. Klar, kann auch Zufall sein, doch seitdem trägt er nur noch seine Schiene und möchte jetzt eine zweite, falls er die erste verliert. Da hat es also sofort gewirkt. Es gibt aber auch andere Fälle. Eine Beachvolleyballerin beispielsweise, die kam mit der Schiene zuerst überhaupt nicht zurecht. Was daran lag, dass sie über Jahre so verkrampft und steif war, dass sich der Organismus und die Muskulatur erst langsam an die neue Ausgangslage gewöhnen mussten. Es gibt jedoch nur wenige Patient:innen, bei denen eine Schiene gar nicht funktioniert. Dies liegt auch an der anatomischen Konfiguration eines jeden Einzelnen. Diese muss vorab genau analysiert und die Erwartungshaltung auch realistisch eingeordnet werden. Daher macht eine Konfektionsschiene überhaupt keinen Sinn und kann auch das Gegenteil bewirken.
Gibt es weitere Beispiele?
Im Golfsport etwa. Da hat man diesen einseitigen Schwung und die Muskelketten müssen entsprechend eingestellt werden. Das ist schon sehr faszinierend, denn da geht es um kleinste Nuancen. Wenn man den Ball nur ein kleines Bisschen anders trifft, geht er ganz woanders hin. Ich selbst bin kein Golfer. Ich hab zwar mal die Platzreife gemacht, aber nur um verstehen lernen zu können, worum es da geht. Ich dachte ja die längste Zeit, Hauptsache, man trifft den Ball. Ich hatte da einen ehemaligen Pro, der mit entsprechender Schiene 30 Meter weiter schlagen konnte. Das sind schon Welten. Hochinteressant! Es gibt inzwischen Pros, die analysieren ihre Schüler, und sagen ihnen: Geh doch mal zu einer:m Sportzahnmediziner:in.
Das heißt, Hobbysportler können auch von der Sportzahnmedizin profitieren?
Das kommt immer darauf an, wie ambitioniert jemand ist. Wenn jemand es darauf anlegt, seine Leistung zu steigern, Verletzungsrisiken zu minimieren oder bestimmte Bewegungsstörungen zu eliminieren, kann eine Schienentherapie schon viel bewirken. Ich trage beispielsweise beim Tennisspielen auch eine Schiene und fühle mich besser damit.
Welcher Fall hat Sie selbst am meisten erstaunt?
Das war der Profi-Triathlet Markus Hörmann, der sich jetzt auch für den Iron Man auf Hawaii qualifizieren möchte. Er hatte über Jahre hinweg einen unerklärbaren Leistungsabfall. Der Orthopäde kam auch nicht mehr weiter und hat ihn mir überwiesen. Ich habe ein Röntgenbild gemacht und konnte in der Sekunde sagen: Dieser Zahn ist es! Ich musste ihn entfernen, aber seitdem ist er so gut wie nie zuvor und hat alle persönlichen Bestleistungen überboten. Erstaunlich ist auch, dass in manchen Profisportbereichen, wo es um wirklich richtig viel Geld geht, immer noch die Zähne vergessen werden.
Da werden 30 Millionen oder mehr für ein Supertalent bezahlt, das vorher tagelang medizinisch durchgecheckt wird, aber niemand schaut ihm mal in den Mund. Und da gibt es schon manchmal Erschreckendes zu entdecken. Die Angst vorm Zahnarzt macht auch vor so manchem Übertalent nicht halt. Ich hatte diesen einen Fall, den wir nur mithilfe eines Anästhesie-Dämmerschlafs dazu bringen konnten, uns seine Zähne zu zeigen und dann zu behandeln. Am Ende hat es sich für ihn ausgezahlt – und er hat jetzt auch keine Angst mehr vor dem Zahnarzt.