1. März 2024

Bernd Skupin

Jean-Claude Biver: Interview mit der Uhren-Legende

Er gilt als eines der größten Genies der Uhrenbranche. Im Kosmos der Horologie ist der Mann eine lebende Legende. Jetzt hat der ehemalige Chef der Uhrensparte des Luxuskonzerns LVMH seine eigene Marke lanciert

@ Sébastien Agnetti

Wer wissen will, wie sich Leidenschaft für ein Projekt, einen Beruf, der Berufung ist, wirklich anhört, sollte mit Jean-Claude Biver reden. Begeisterung, ja Beseeltheit strahlt jeder Satz, jede Silbe bei ihm aus, wenn er über Uhren spricht.

 

Zwei bedeutende Marken hat er wiederbelebt oder zu heutiger Größe geführt: Blancpain und Hublot. Und am Ende war er Leiter der gesamten Uhrensparte des Luxuskonzerns LVMH. Am Ende? Von wegen. Denn nach kurzem Ruhestand lancierte Biver jetzt, zusammen mit seinem Sohn Pierre, eine eigene Marke im absoluten Top-Segment. Ende September vergangenen Jahres erschienen die ersten Exemplare unter dem Namen Biver.

 

Vor einigen Jahren haben wir uns schon einmal zu einem Interview getroffen. Das war um 7 Uhr morgens. Da hatten Sie schon mehrere Stunden mit Partnern in Asien konferiert. Was haben Sie heute früh gemacht?

Um fünf Uhr bin ich eineinhalb Stunden gelaufen – naja, schnell gegangen. Ich bin ja jetzt über 70, und da muss man sich an sein Alter anpassen. Am Anfang wusste ich gar nicht, dass man sich anpassen muss. Aber jetzt habe ich es verstanden, jetzt mache ich es richtig.

 

Und dazu gehört, noch einmal an den Start zu gehen, diesmal mit einer eigenen Uhrenmarke?

Der Zeiger einer Uhr geht von zwölf auf eins, auf zwei, auf drei … – dann kommt er irgendwann wieder bei der Zwölf an. Und mit über siebzig denke ich, es bleibt mir ein kleiner Teil, so ein zehnter, den ich fertig machen muss. Das macht mir Freude, das macht mir Spaß, das erlaubt mir, meine Leidenschaft zu leben.

 

Und ich mache das zusammen mit meinem Sohn, dem ich damit etwas weitergeben kann. Das sind alles Gründe, die mich dazu  gebracht haben, wieder etwas zu tun in den letzten fünf oder acht oder zehn Jahre meines Lebens. Und ist das nicht das größte Privileg, das man haben kann, wenn die letzten Jahre spannend und voller Leidenschaft und Emotionen sind und man dazu noch die Freude hat, etwas weiterzugeben?

 

„Ist das nicht das größte Privileg, das man haben kann, wenn die letzten Jahre spannend und voller Leidenschaft und Emotionen sind?“

 

Haben Sie je etwas ohne Leidenschaft gemacht?

Ohne Leidenschaft bleibe ich lieber im Bett liegen. Warum soll ich aufstehen? Wenn ich keine Leidenschaft habe, dann mache ich lieber weiter mit Träumen, mit Schlafen.

 

Die Uhren werden nach Ihren Angaben zwischen 70.000 und etwa 600.000 Euro kosten. Was ist das Besondere, das, was sie von anderen unterscheidet, der Grund, aus dem es für Sie notwendig ist, neben all die etablierten Luxusuhren jetzt die Marke Biver zu stellen?

Weil sie das Unsichtbare sichtbar machen. Alles, was man bei einer Uhr nicht sieht, wurde in der Rationalisierung der Produktion, im Versuch, die Entstehungspreise niedrig zu erhalten, in den 50er-, 60er-, 70er-Jahren vernachlässigt.

 

Warum sollst du den Kopf einer Schraube polieren, wenn niemand sie sieht? Warum soll man die Rückseite eines Ziffernblatts dekorieren? Warum? Man sieht sie ja nicht. Aber wenn ich die Seele einer Uhr pflegen will, dann muss ich zuerst einmal den Weg frei machen, dass die Seele aus der Uhr rauskommen kann. Und diese Seele kann nur rauskommen, wenn sie mit der Ewigkeit verbunden ist.

 

Und um ein Stück mit der Ewigkeit zu verbinden, muss ich unbedingt das Unsichtbare pflegen und nicht nur das Sichtbare. Das Sichtbare pflegen kann jeder Idiot. Aber das Unsichtbare zu pflegen, das Unsichtbare zu meistern, das Unsichtbare zu dekorieren, das nennt man Kunst.

 

Stoßen Sie mit solchen Ideen immer auf Verständnis?
Die Hälfte der Leute wird sagen, das sei unwichtig, und die andere Hälfte wird sagen, nein, das ist wichtig. Ich behaupte, das ist für mich das Wichtigste überhaupt. Das Sehen mit den Augen ist unwichtig. Das Wichtigste ist die Seele. Die muss man spüren, die muss drin sein, aber die sieht man ja nie.

 

Das ist schon etwas spirituell und sehr persönlich, doch das entspringt meiner Mentalität, gehört quasi sogar zu meiner Religion. Und da liegt der große Unterschied bei unseren Uhren: im Meistern des Unsichtbaren, im Meistern der Seele der Uhr. Das kann nicht jeder nachvollziehen und sich auch nicht jeder leisten.

 

„Nur wenn ich nahe an die Perfektion gelange, dann komme ich auch nahe an die Ewigkeit heran“

 

Und diesen Anspruch können Sie jetzt erstmals ohne Kompromisse verwirklichen?
Jawohl, weil ich die Firma besitze. In einem großen Konzern haben Sie manchmal Schwierigkeiten zu sagen, dass das Polieren einer unsichtbaren Schraube 47 Minuten braucht. Dann fragt Sie ein Buchhalter, warum geben wir für die 85 Schrauben, die wir haben, 85 mal 47 Minuten aus? Wir brauchen diese Schrauben nicht zu polieren, oder es genügt ja, wenn wir fünf Minuten pro Schraube nehmen. Warum schreiben sie hier 47 Minuten? Und jetzt sage ich, weil es mir gehört: Ja, ich will das!

 

47 Minuten, weil das die Zeit ist, die ich brauche, um zur Perfektion zu kommen, und nur wenn ich nahe an die Perfektion gelange, dann komme ich auch nahe an die Ewigkeit heran. Das ist meine Art, mich der Ewigkeit zu nähern, denn solange ich lebe, kann ich die Ewigkeit nicht erreichen, aber ich kann ihr sehr nahekommen. Diese Nähe ist die Perfektion.

 

Eine Art von Perfektion findet man auch in hochkomplexen industriell produzierten Objekten, wie einem iPhone. Trotzdem würde denen kaum jemand eine Seele zusprechen. Liegt der Unterschied darin, dass Uhren wie Ihre von Menschen zusammen- gesetzt, von den Uhrmachern sozusagen komponiert werden?

Genau das fasziniert mich. Ich habe es einmal die Hände des Wunders genannt. Meine Uhrmacher haben Finger, die Wunder herstellen können – wie ein Pianist, wie Mozart. Durch seine Finger kam etwas Geniales in die Welt, diese Harmonien! Ein Wunder in der Musik oder im Zeichnen, egal.

 

Ich habe auch Finger, aber da kommt nichts raus. Das sind einfach Finger, die mir erlauben, meine Kaffeetasse zu heben. Da ist der große Unterschied zwischen den Fingern von Mozart und meinen. Und das ist auch der Unterschied zu den Fingern meiner Uhrmacher. Die haben Hände des Wunders, das dank ihrer Finger entsteht. Die sind das, was zählt, die sind Geld wert, Millionen.

 

„Meine Uhrmacher haben Finger, die Wunder herstellen können – wie ein Pianist, wie Mozart“

 

Auch wenn Sie selbst kein Uhrmacher sind, Ihr erstes Berufsjahr hat Ihr damaliger Chef Sie zu den Uhrmachern gesteckt, um ihre Mentalität und Welt kennenzulernen. Wie wichtig war das?

Es war das Wichtigste überhaupt. Das war die Zeit, wo die Leidenschaft sich plötzlich bei mir zu Hause fühlte. Die Uhrmacher kommen fast alle aus einem Tal, dem Vallée de Joux. Wenn ich jetzt mal eine Liste machen würde von den Marken, die dort ansässig sind – wie viele CEOs und Chefs von diesen Marken leben im Vallée? Quasi keiner.

 

Die leben alle in Städten wie Genf und kommen morgens mit dem Auto. Das ist nicht schlimm, doch solange man nicht dort lebt, solange man nicht weiß, wie die Vögel singen, wie das Gras grün wird, wie der Käse gemacht wird, wenn man das alles nicht selbst erlebt, dann ist man immer ein Auswärtiger und kein Einheimischer. Das ist der große Unterschied zwischen mir und vielen anderen, die auch gut sind, wirkliche Profis. Aber sie leben nicht dort. Und wenn man nicht dort lebt, dann fehlt irgendetwas. Und bei mir hat nichts gefehlt, weil ich eben dort gelebt habe.

 

Es heißt, Sie machen sogar Ihren eigenen Käse?
Ja, natürlich, mein Käse ist wie mein Pass. Ich reise immer mit meinem Käse und bringe ihn Freunden mit. Das macht mir Freude. Deswegen verkaufe ich ihn auch nicht, egal wie viel wir herstellen. Ich verkaufe kein Gramm, weil er hauptsächlich wegen meiner Leidenschaft gemacht wird. Und eine Leidenschaft kann man nicht verkaufen.

 

 

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