Vom Träumer zum Visionär

Auch wenn Jean Paul Gaultier sich vom offiziellen Mode-Zirkus verabschiedet hat, erfindet er sich jeden Tag neu – und bleibt dabei ganz das ewige Enfant terrible

© Xavi Gordo / Trunk Archive

Er war schon immer seiner Zeit voraus. Bereits mit fünf Jahren, als er seinem heiß geliebten Teddy „Nana“ jenes Styling verpasste, mit dem Madonna mehr als 30 Jahre später bei ihrer „Blond Ambition“-Tour für Furore sorgen sollte. Ob mit seinen eigenen Prêt-à-porter- und Haute Couture-Kollektionen, mit seinen Parfums, Bühnen- und Filmkostümen (Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber, Das fünfte Element) oder mit seinen Entwürfen für andere Marken wie beispielsweise Hermès – der französische (Mode)-Designer Jean Paul Gaultier war und ist stets für Überraschungen gut.
Der heute 71-Jährige ging 2020 nach 50 Jahren im Mode-Zirkus offiziell in Rente, was bei dem extrem humorvollen ewigen Enfant Terrible nur den Wechsel in einen etwas anderen Unruhestand bedeutete. Zum Beispiel, indem er sein eigenes Leben als Fashion Freak Show inszenierte, die nun durch die Welt tourt, und im Juli auch in Deutschland Station macht.

 

Sie sind 2020 nach 50 Jahren Fashion-Zirkus in Rente gegangen. Was hat sich seitdem für Sie verändert? 

 

Um ehrlich zu sein, gar nicht so viel. Früher ging ich mor-gens aus dem Haus ins Atelier zur Anprobe, zur Vorbereitung, zu Gesprächen mit meiner Assistentin. Heute mache ich am liebsten alles von zu Hause aus. Ich bereite Szenen für meine verschiedenen Shows wie die Fashion Freak Show vor oder skizziere Kostüme. Manchmal zeichne ich sogar im Bett. Eigentlich bin ich zurückgekehrt zu meiner Jugend. Damals habe ich den ganzen Tag im Haus meiner Großmutter verbracht. Sie war Krankenschwester, hat ihren Patientinnen aber auch gern ungefragt Styling-Tipps gegeben. Andere Frisur, neue Schminke oder gleich eine Rundumerneuerung. Ich fand das sehr spannend und habe parallel die Vorher-Nachher-Bilder gemalt. Die Leute haben es geliebt.

 

Vermissen Sie denn heute etwas?

 

Nein, ich bin sehr glücklich! Ein kleiner Junge, der sich sei-nen Traum erfüllt hat. Außerdem habe ich mit 68 zwar offiziell aufgehört mit der Mode, in Wahrheit aber nie aufgehört zu arbeiten. Ich tue immer noch Dinge, die ich gerne tue. Es ist ein Geschenk. Ich habe eine Ausstellung über Fashion im Film kuratiert. Mit Blick auf die Entwicklung von Männern und Frauen. Beide Seiten haben sich verändert. Die Darstellung der Männer ist schwächer geworden, die der Frauen stärker. Nehmen wir das männliche Objekt, das ich auch in meinen Kollektionen gezeigt habe, so etwas wie American Gigolo oder sogar Marlon Brando, der in seiner Rolle eine gewisse Sexualität gezeigt hat. Davor durften wir Männer nicht sexy nennen. Männer hatten früher eine Machtposition oder waren reich, aber niemals sexy. Frauen hingegen haben sich immer mehr Richtung Wonder Woman entwickelt. Sie treten in starken Rollen auf, dürfen sogar gewalttätig sein. Die Gesellschaft verändert sich.

 

Gaben Sie als Modedesigner den Takt vor?  Eigentlich leben Sie doch seit 50 Jahren in der Zukunft.

 

Nein, das glaube ich nicht. Wir Designer sollen immer etwas Neues präsentieren. Aber was ist neu? Die Ver-änderung oder Inspiration kommt nicht aus der Fantasie, sondern aus der Gesellschaft. Letztendlich ist Mode nur eine Reflexion des Zeitgeistes, des Geschmacks der Zeit.

 

Aber ist es nicht eher umgekehrt? Die Gesellschaft orientiert sich an den Trends der Mode?

 

Ja, aber die sind nicht wirklich neu. Punk zum Beispiel war eine Bewegung der Rebellion, und deshalb neu. Die Tatsache, dass ich viel Schwarz trage, stammt aus dem Punk. Es ist eine Reflexion. Als ich jünger war, fuhr ich gerne nach London, weil es dort in den 70er Jahren so viel Spannendes gab. Die Vision der Männer etwa. Leute wie David Bowie oder Mick Jagger stellten eine ganz neue Art von Mann dar. Die Extravaganz dieser Rockstars hat mich fasziniert. Musikerinnen hingegen waren weniger exzentrisch. Vielleicht Dolly Parton. Und natürlich mag ich Madonna. Sie war damals eine Modeikone. Und für eine Amerikanerin hatte sie einen guten Geschmack.

 

Was denken Sie heute über Madonna?

 

Ich weiß nicht, ob sie nicht ein bisschen spießig, bourgeois, geworden ist. Aber ich sollte nicht enttäuscht sein. Vielleicht ein bisschen. Aber sie ist nach wie vor ein Rock-star. Was ich an ihr bewundere, ist, dass sie sehr genau weiß, was sie tut, um zu zeigen, dass es ihr egal ist, was andere über sie denken. „Das entspricht nicht meinem Alter? Voila! Dann tue ich es erst recht!“ Es gibt vor allem ein Tabu, das sie bekämpft, so wie sie früher das Tabu bekämpft hat, sexy zu sein und Männer wie ein männliches Objekt zu behandeln. Heute ist das letzte Tabu für Frauen, alt zu werden. Und Madonna sagt: „Es ist mir egal!“

 

Und präsentiert sich auf Instagram wie
eine 18-Jährige Influencerin …

 

Warum nicht? Sie hat immer noch etwas zu sagen. Und sie sagt Dinge, die die Leute schockieren. Sie rebelliert auf ihre Weise, indem sie zeigt: „Ich bin noch jung.“ Wissen Sie, sie könnte auch eine schöne alte Dame sein. Aber nein, sie ist immer noch Feministin. Genau wie früher, als ich mit ihr zusammengearbeitet habe.

 

Madonna hat als erste Ihren Kegel-BH getragen.

 

Den ersten Kegel-BH hat mein geliebter Teddybär Nana getragen. Damals war ich fünf und hatte mir eigentlich eine Puppe gewünscht. Weil ich keine bekam, zog ich meinen Bären wie eine Frau an. Samt BH aus Zeitungspapier. Aber es stimmt: auf der Bühne war Madonna die erste mit dem Korsett. Sie war genau die Frau, die sexy sein wollte, feminin und provokant, aber nicht um Männern zu gefal-len, sondern weil sie es liebte und selbst so wollte. Das war nach der Welle der ersten Feministinnen.

 

Heute ist Diversität das große Thema der Gesellschaft.
Sie gelten als Pionier dieser Idee.

 

Es findet gerade eine große Veränderung statt, und das
ist gut so. Frauen und Männer werden immer gleichbe-rechtigter und Diversität erobert alle Bereiche. Vorneweg natürlich die Mode. In gewisser Weise muss Mode immer eine Vision haben. Aber für mich war Mode auch immer eine große Party. Wenn die Kollektion fertig war, wurde gefeiert. Gerade am Anfang hatte ich überhaupt kein Geld. Aber auch das war nicht schlimm, denn es hat mich quasi gezwungen, noch kreativer zu sein.

 

Man hat manchmal das Gefühl, dass der Mode die Leichtigkeit abhandenkommt, dass eine
Art von „Wokeness“ alles dominiert.

 

Ja, Mode ist in gewisser Weise überkorrekt geworden. Aber das ist ja in vielen Bereichen so. Auch in Hollywood gibt es solche Tendenzen. Ich frage mich manchmal: muss demnächst die Rolle eines Kriminellen von einem echten Verbrecher gespielt werden, damit alles echt und „korrekt“ ist? Am Ende haben wir keine Schauspieler mehr.

 

Was können wir tun, um die Leichtigkeit des Spielens zurückzuholen?

 

Ich weiß es nicht. Ist es Aufgabe der Politik oder
liegt es an den sozialen Medien? Irgendwie fühlt man
sich hilflos. Es ist, als ob man nichts tun könnte.

 

Vielleicht braucht es mehr Menschen wie Sie?

 

Eher jemand Jüngeren, der die Energie hat. Ich meine, ich habe die Energie, aber für so etwas braucht man mehr Köpfchen.

 

Sie haben einmal gesagt:
„Ich habe einige Dinge erkannt, die ich in der Vergangenheit gehasst habe, und nach ein oder zwei Jahren merkte ich plötzlich, dass sie gar nicht so schlecht sind.“ Was war das zum Beispiel?

 

In der Mode kann man manche Dinge ehrlich und aufrichtig tun. Manchmal tut man zu viel von etwas. So als wenn man zu viel isst oder trinkt. Dann hasst man Dinge ganz einfach, weil man zu viel von ihnen gesehen hat. Was ich gelernt habe, ist, dass
man sich leichter von etwas inspirieren lassen kann, das sehr schlecht ist, als von etwas, das sehr gut ist. Schönheit kann lähmen. Aber eine Erkenntnis ins Gegenteil zu wandeln, kann sehr inspirieren.

 

Die Franzosen gelten doch als Erfinder der
Schönheit und des guten Geschmacks.

 

Nein, ich mag die Franzosen nicht. Die Leute sagen, dass die „Parisienne“ sehr elegant sei, aber ich habe sie noch nie so gesehen. Wo denn?Vielleicht in Filmen. Aber ich wollte immer auf diese angelsächsische Art rebellisch sein – also kreativer in gewisser Weise. Denn diese Kreativität, die aus einer Rebellion entsteht, ist immer aufregender und innovativer.

 

Sie sind also auch ein Rebell?

 

Irgendwie schon, ja. Dabei
war ich zeitlebens immer eher
schüchtern. Aber wenn ich spreche, fühle ich mich sicher. Das ist in gewisser Weise schon paradox, denn dieser Beruf verändert sich ständig
und bietet überhaupt keine Sicherheit. Vielleicht lag es an Paris, dass ich zum Rebellen wurde, weil Paris so bourgeois
war? Bestimmt lag es aber auch daran, dass ich zwei gute und sehr unterschiedliche Lehrer hatte. Zuerst bin ich bei Pierre Cardin in die Lehre gegangen, dessen Design sehr frei und in gewisser Weise revolutionär war. Ich habe ja nie eine Modeschule besucht. Danach ging ich zu Jean Patou, der das genaue Gegenteil und sehr konservativ war. Die Leute dort sagten: „Oh, Gold auf Beige, wie toll!“ Oder dass Schwarz nur etwas für Witwen sei. All diese Klischees …

 

Wie haben Sie das ausgehalten?

 

Ich blieb dort zwei Jahre. Aber ich war ein schrecklicher Assistent. Ich habe die ganze Zeit widersprochen und keine Ruhe gegeben. Das hatte ich bei Cardin gelernt: dass man nicht immer wieder das Alte kopieren soll, sondern etwas Eigenes finden muss, um erfolgreich zu sein. Heute ist das Internet voller selbst ernannter Visionäre.

 

Folgen Sie jemandem auf Instagram?

 

Nein, ich folge niemandem. Ich komme aus einer anderen Welt. Ich habe nichts gegen das Internet, doch wenn man sich darauf einlässt, wird man am Ende süchtig. Ich weiß nicht mal, was die Leute auf Social Media über mich sagen,
um ehrlich zu sein.

 

Aber Sie haben Ihr Handy doch sogar um den Hals hängen?

 

Aber nur für den Fall, dass ich Hilfe brauche, etwa wenn ich mein Zeug vergessen habe oder mein Garagentor nicht öffnen kann. Wissen Sie,
das ist eine Katastrophe. Ich bin völlig abhängig. Aber nicht, um zu wissen, was in der Welt passiert, sondern um zu fragen: „Hilfe, wo muss ich jetzt hin?“

 

Die „Fashion Freak Show“ gastiert vom 20.7. bis 27.7.2023 mit insgesamt 10 Vorstellungen in der Isarphilharmonie in München. Weitere Infos und
Tickets: jpgfashionfreakshow.com



   

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