Vorsicht, giftig!

Toxisches Verhalten: Was einst das niedliche, eher harmlose Fettnäpfchen war, lauert heute als Minenfeld scheinbar hinter jeder noch so kleinen gesellschaftlichen Interaktion

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Überall lauert Gift. Nein, es geht nicht um Feinstaub in der Luft oder gesundheitsschädliche Inhaltsstoffe in Nahrungsmitteln. Unter dem Verdacht giftig – toxisch – zu sein, stehen heute zunehmend auch Verhaltensmuster und Einstellungen, ob es die toxische Beziehung zu einem Partner oder einer Partnerin ist, die nicht guttut, oder ein toxisches Arbeitsumfeld mit Machtspielchen, Überforderungen, Einschüchterungen und Belästigung, das man tunlichst verlassen sollte.

 

Geschwister oder Elternteile werden als toxische Elemente in der eigenen Biografie geortet. Geben wir uns toxischer Nostalgie hin und verlieren uns dabei in vergangenen und angeblich besseren Zeiten, drohen wir in Melancholie zu verfallen und blind zu werden für die Möglichkeiten und das Glück der Gegenwart. Toxische Positivität, die nur noch „good vibes only“ zulässt, Wut, Trauer und Frust aber nicht, führt zum Einbetonieren in rigorosen Optimismus und zu Einbußen bei der Fähigkeit zur Empathie.

 

Sogar Freiheit kann, verstanden als hyperindividualistisches Ellenbogenrecht der Stärkeren, ins Toxische umschlagen. Von Freundschaft und Liebe über die Familie bis hin zum Politischen gibt es kaum einen Aspekt des privaten und öffentlichen Lebens, in dem nicht Toxisches aufzuspüren wäre.

 

Sogar Freiheit kann, verstanden als hyperindividualistisches Ellenbogenrecht der Stärkeren, ins Toxische umschlagen

 

Am häufigsten aber ist die Rede von toxischer Männlichkeit. Der Begriff fasst im Grunde all die alten Männlichkeitsklischees zusammen, nach denen ein Mann hart und stark zu sein hat, aber keine Gefühle und erst recht keine Schwäche zeigen darf.

 

Ängste und Sorgen soll er verbergen, er weint nicht, Zärtlichkeit fällt ihm schwer, ebenso wie ein offener Umgang mit Frauen. Denn er muss als „richtiger Mann“ prinzipiell jederzeit Sex wollen und dazu bereit sein. Die aus diesen und einigen ähnlichen Eigenschaften mehr abgeleitete Dominanz hat er immer wieder zu bestätigen. Das führt zu Verhaltensweisen, die andere herabsetzen, kleinhalten, verletzen, bloßstellen, diskriminieren oder schlicht nicht wahrnehmen und nicht ernst nehmen und sie so ausschließen oder an den Rand drängen.

 

Das Konzept der toxischen Männlichkeit reicht bis in die 1980er-Jahre zurück

 

Aber auch für Männer birgt das Gefahren. Jedes Problem mit sich selbst abmachen zu wollen, kann zu Einsamkeit, Isolation und Depressionen führen. Und wer meint, alle Aufgaben allein bewältigen zu müssen, wird eher auf einen Burnout zusteuern oder zu Alkohol und Drogen greifen. Selbst die niedrigere Lebenserwartung von Männern liegt heute teilweise darin begründet, dass deutlich mehr junge Männer als junge Frauen durch einen riskantere Lebensstil und gefährlichere Handlungen früh sterben und sich die Jahrzehnte ihres nicht gelebten Lebens in der Statistik niederschlagen.

 

Das Konzept der toxischen Männlichkeit reicht bis in die 1980er-Jahre zurück. In der Popkultur tauch es spätestens 1998 auf, als in der allerersten Folge der Serie Sex and the City von den toxischen Junggesellen New Yorks die Rede ist. Der Begriff toxische Weiblichkeit ist verglichen damit deutlich neueren Datums, und seine noch junge Karriere ist ambivalent.

 

Antifeminist:innen und sogenannte Männer-rechtler nehmen ihn nur zu gerne auf, um Frauen zu dämonisieren und als manipulativ darzustellen. Das Internet macht, wie immer, mit. Da ist Meghan Markle dann selbstverständlich schuld an Prinz Harrys Abgang aus dem britischen Königshaus und dem Zerwürfnis mit seiner Familie. Und Schauspielerin Amber Heard, die ihrem Ex Johnny Depp in einem Verleumdungsprozess unterlag, wurde als toxische Frau schlechthin dargestellt, die lügt, Tränen vergießt und sich als Opfer inszeniert, um ihre Ziele zu erreichen. Die Botschaft ist klar: Männer können ebenso Opfer von Frauen werden wie umgekehrt.

 

An Frauen werden immer noch überzogene Erwartungen gestellt, die heute vielleicht widersprüchlicher denn je sind

 

Dabei meint der ursprünglich in feministischen Diskursen formulierte Gedanke toxischer Weiblichkeit etwas völlig anderes. Er beschreibt ein durch hergebrachte Machtstrukturen hervorgerufenes Konkurrenzverhalten von Frauen untereinander, das ebenso kulturell antrainiert und tief im Unbewussten verwurzelt ist wie toxische Männlichkeitsklischees.

 

Zwei Dinge kommen dabei zusammen. An Frauen werden immer noch überzogene Erwartungen gestellt, die heute vielleicht widersprüchlicher denn je sind. Sie sollen ihren Job perfekt erledigen und Karriere machen, die Bedürfnisse anderer, vor allem der Familie und der Kinder, über ihre eigenen stellen, das gesellschaftliche Leben und Freundschaften pflegen, sich möglichst auch engagieren – und dabei immer gut aussehen, entspannt sein und lächeln. Stress pur. Dazu kommt ein ständiges Vergleichen mit anderen. Und irgendwo ist da immer eine Person, der scheinbar alles leichter fällt und besser gelingt als einem selbst.

 

Und es gibt da noch eine erlernte Besonderheit. In Büchern von Emil und die Detektive bis Harry Potter und Filmen und Serien von Star Wars bis Stranger Things gibt es immer nur diese eine coole weibliche Person in der Gruppe der ansonsten männlichen Hauptfiguren. Diese Konstellation ist auch als Schlumpfine-Prinzip bekannt. Man könnte auch sagen: Es kann nur eine geben. Wird die Maxime „Ich kann nur scheinen, wenn du nicht scheinst“ verinnerlicht, liegt es nahe, dass sich Frauen als Konkurrentinnen wahrnehmen und sich gegenseitig ausbremsen, statt vorbehaltlos zu unterstützen. Den Sieg tragen die alten patriarchalen Machtverhältnisse davon. Das ist das Toxische an der toxischen Weiblichkeit.

 

Diese Konstellation ist auch als Schlumpfine-Prinzip bekannt

 

Natürlich kann man infrage stellen, ob wirklich jede fragwürdige Verhaltensweise toxisch genannt werden muss oder ob das Modewort nicht ganz unterschiedliche Probleme, die ebensolche Lösungsansätze brauchen würde, in einen Topf wirft und die Unterschiede verwischt. Und ohnehin besteht jede gedankliche Konstruktion nur für bestimmte Zeit, bis sie dekonstruiert und in eine neue überführt wird.

 

Doch für den Moment sind die Erkenntnisse, die sich aus den Analysen toxischer Weiblichkeit und Männlichkeit ergeben, ein gar nicht so kleiner zivilisatorischer Schritt hin auf dem Weg hin zu einem bewussteren, faireren und offe-neren Verhältnis aller Geschlechter – wenn sie denn in neue Einstellungen und Verhaltensweisen umgesetzt werden.

 

 

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