Drei-Sterne-Koch, Unternehmer,  Visionär: Andreas Caminada

Der Schweizer sorgt für Genusserlebnisse auf höchstem internationalem Niveau – und bleibt dabei stets ganz auf dem Boden seiner Heimat

@ Joan Minder

Für das Gespräch hat Andreas Caminada sein Büro im Schloss Schauenstein gewählt. Dort  lebt er mit seiner Familie, dort befindet sich das gleichnamige Restaurant und ein paar Schritte entfernt auch die beiden neuen Lokale, die Bäckerei, der Permakulturgarten, ein kleiner Laden. Und nicht weit von dort wuchs er auf.

 

Vor zwanzig Jahren hat Caminada nach Stationen in Klosters, Baiersbronn und Uetikon das Schloss in Graubünden übernommen und es innerhalb von sieben Jahren in ein Drei-Sterne-Restaurant verwandelt, dessen Markenzeichen die regionale Küche ist. Was Caminada von anderen großen Köchen der Gegenwart unterscheidet: Er brilliert nicht nur in der Küche, sondern ist auch ein exzellenter Unternehmer, dessen Anspruch es ist, Entwicklungen und Trends nicht nur zu erkennen, sondern sie zu setzen.

 

So entstand in den vergangenen Jahren eine Unternehmensgruppe mit weiteren Restaurants, einem Catering-Service und einer Stiftung. Caminada ist Herausgeber eines eigenen Magazins und auf dem YouTube-Channel von Gault-Millau präsentiert er leicht umsetzbare Rezepte.

 

Herr Caminada, wie haben Sie den Tag heute begonnen?

Wie immer. Ich bin mit den Kindern aufgestanden, und sobald sie aus dem Haus waren, bin ich eine Runde mit dem Hund gegangen. Eben war ich noch in unserer Bäckerei, habe ein Schokocroissant gegessen und dazu einen Cappuccino getrunken.

 

Drei Michelin-Sterne, 19 Punkte im Gault & Millau, in allen Rankings ganz weit vorne: Wenn man Jahr für Jahr bestätigt bekommt, zu den Besten der Welt zu zählen, was wird dann wichtiger: seine Gäste immer wieder zu überraschen oder ihnen das Erwartete zu bieten?
Zwei, drei Jahre, nachdem ich erstmals drei Sterne erhalten habe, geriet ich in eine Phase, in der ich vorsichtig wurde, Risiken vermied und mich nicht mehr so lebendig fühlte wie zuvor. Als ich das bemerkte, wusste ich, dass ich künftig den Weg gehen muss, den ich zu Beginn eingeschlagen habe: keine Angst zu haben vor Veränderung, stattdessen immer Neues auszuprobieren.

 

Viele unserer Gäste kommen deshalb immer wieder, weil sie wissen, dass sie bei uns überrascht werden. Immer wieder neu zu denken, das ist das A und O unseres Betriebs.

 

Auf Ihrer Homepage heißt es: „Wie lässt sich der kulinarische Zauber von Jahreszeiten und Regionen auf den Teller bannen? Auf diese Fragen suchen wir jeden Tag neue Antworten.“ Gelingt das?

Natürlich vergehen mal zwei, drei Wochen ohne Einfall. Doch allein, dass wir in einer Region mit vier Jahreszeiten leben, ist eine Quelle permanenter Inspiration. Vor einigen Jahren haben wir auf Schauenstein einen Permakulturgarten angelegt, in dem wir mehr als 700 Sorten Gemüse anbauen.

 

Die Zyklen der Pflanzen zu studieren und damit zu experimentieren, bringt laufend neue Ideen hervor. Nehmen Sie die Stachelbeere. Solange sie noch unreif ist, enthält sie eine Säure, mit der man etwa Essig ersetzen kann. Im Sommer schmeckt sie schon ein bisschen süßer, im Herbst ist sie übersüß, vielleicht schon ein bisschen vergärt. In jedem Zustand kann sie einem Gericht einen speziellen Impuls verleihen. Spätestens, wenn ein neues Menü ansteht, werden mein Team und ich kreativ. Das funktioniert immer.

 

Sie haben in den vergangenen Jahren ein kleines Imperium geschaffen. Neben Schloss Schauenstein entstanden weitere Restaurants, und mit jedem Lokal verbindet sich ein neues Konzept. Gehen wir sie mal durch: Auf Schloss Schauenstein stehen Produkte aus Graubünden im Mittelpunkt. Wie kam es dazu?
Als ich das Schloss übernahm, stand allein die Freude am Kochen im Mittelpunkt. Mit viel Herzblut einen Ort für alle Sinne zu schaffen, das war mein Antrieb damals. Wir hatten vier Angestellte, aber kein Konzept. Meine Küche stand damals noch unter französischem Einfluss, es gab auch viele Meeresfische bei uns. Ab 2008 begannen wir verstärkt regionale Produkte zu integrieren. Das hat sich über die Jahre dann weiterentwickelt und die Identität des Schlosses definiert.

Was hat Sie damals davon überzeugt, verstärkt regionale Produkte zu verwenden?

Dass es Sinn ergibt, wenn man so viele wunderbare Produkte vor der Tür hat! Warum einen Granny Smith nehmen, wenn ein wunderschöner Berner-Rose-Apfel mit einer tollen Säure fast vor der Haustür wächst? Den Wolfsbarsch aus der Bretagne, den haben hundert andere auch. Aber ein Saibling aus dem Walensee gibt es nur bei uns. Es ist gar nicht so lange her, da galt es in der Spitzengastronomie als Ausdruck von Luxus und Exklusivität, wenn die verwendeten Produkte um die halbe Welt gereist waren.

 

Ja, im Nachhinein erscheint das verrückt. Es war eine andere Zeit. Nichts ging über französische Küche, Loup de mer und Süppchen mit Scampi. Das passte gut in die Zeit, alles war globalisiert, die Leute hatten das Bedürfnis zu reisen, es war möglich, zu jedem Zeitpunkt an jeden Ort der Welt zu gelangen, die Grenzen waren offen. Das ist jetzt anders.

 

Auch Corona hat viel verändert. Unser Anspruch ist es, solche gesellschaftlichen Entwicklungen frühzeitig zu spüren und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Dazu muss man über den Tellerrand hinausblicken.

 

Mit den „Igniv“- Restaurants haben Sie 2015 das Sharing-Konzept etabliert. Inzwischen gibt es es Igniv- Restaurants in Bad Ragaz, Zürich, Bangkok und dem-nächst in Andermatt. Das Essen steht in der Mitte des Tisches, man teilt es mit seinen Freunden oder der Familie, daher auch der Name: Igniv, das bedeutet auf Rätoroma-nisch „Vogelnest“. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Das Schloss hier war und ist mein Baby. Aber damals habe ich mir auch die Frage gestellt: Kommt da noch was? Bleibe ich bis ans Ende meines Lebens auf dem Schlossberg? Meine Antwort darauf: Es wäre reizvoll, ein Restau-rant zu etablieren, das nicht von meiner Person abhängig ist, aber für gute Qualität und tolles Essen steht und völlig anders ist als das Schloss.

 

Sharing war damals außerhalb Asiens noch nicht sehr verbreitet, erst recht nicht auf Fine-Dining-Niveau. Eine ziemlich große Herausforderung war es, das passende Geschirr zu finden. Im Schloss sind wir auf weißes Geschirr fixiert, getöpfertes Geschirr kam nicht infrage, weil das in der nordischen Küche sehr verbreitet ist.

 

Ich kaufte jede Menge altes Geschirr zusammen, aber das funktionierte nicht. Erst als wir ein bestimmtes Porzellan gefunden hatten und die Designerin Patricia Urquolia zusagte, die Innenausstattung zu übernehmen, hatte das Igniv seine DNA gefunden.

 

Die Casa Caminada eröffnete 2018 unweit vom Schloss in einem umgebauten Stall. Dort bieten Sie einfache Gerichte aus der Region an.
Genau. In der Casa zelebrieren wir traditionelle Bündner Küche – Capuns, Maluns, Pizzoccheri –, traditionelle Gerichte, die wir weder verändern noch interpretieren und aus Respekt vor den Großmüttern und Leuten, die diese Gerichte über Generationen weitergegeben haben, so traditionell belassen, wie es nur geht. Alles, was es in der Casa gibt, ist einfach und gut.

 

Jean Caminada, ein Cousin meines Vaters, hat diese zwei Ställe zu einem Haus umgebaut. Oben sind zehn Zimmer, unten die Restauration, die Bäckerei, ein kleiner Laden, und es gibt einen großen Kulinarikkeller, in dem wir unsere eingemachten Sachen lagern. Was ich daran fast am schönsten finde: Mit der Casa Caminada ist das Leben in das Dorf zurückgekehrt, die Bäckerei ist zum Treffpunkt geworden. Da kommen die Einheimischen hin, kaufen ein Brot und trinken draußen einen Kaffee.

 

Im Oz, das 2021 eröffnete, steht vegetarische Küche im Mittelpunkt.
Ursprünglich wollten wir die Räume, in denen sich das Oz befindet, nutzen, um das Schloss zu erweitern. Aber in der Corona-Zeit gewann Nachhaltigkeit noch mal an Bedeu-tung, und wir entschieden uns, dort lieber ein Konzept zu verwirklichen, das in der Luft lag: nämlich Gemüse aus dem eigenen Garten täglich frisch zuzubereiten. Jeden Tag kommt auf den Tisch, was der Garten gerade hergibt, sieben bis neun Gänge auf einem sehr hohen Niveau. Daraus leitet sich auch der Name ab: Oz bedeutet heute.

 

 

Im Zusammenhang mit veganer und vegetarischer Küche ist häufig von Verzicht die Rede. Man isst Gemüse, um kein Fleisch zu essen. Ist das nicht ein Denkfehler?
Ich habe extra das Oz mit Kuhleder bezogenen Stühlen ausgestattet, weil ich mit meiner Küche nicht politisieren will. Wir wollen zeigen, wie toll Gemüse sein kann, und rund um den Garten ein Erlebnis für alle Sinne schaffen. Aber ich bin in dieser Frage kein Extremist. Ich habe einfach Freude daran.

 

Das Oz bietet ausdrücklich vegetarische Küche an, nicht vegane. Weshalb?
Wir leben in den Schweizer Alpen, da gehören Butter und Milchprodukte dazu. Wenn jemand vegan isst, dann lassen wir die Milchprodukte weg. Das sehe ich pragmatisch.

 

2015 haben Sie zusammen mit Ihrer Frau eine Stiftung gegründet, um ambitionierte Talente aus der Gastronomie individuell zu fördern. Weshalb ist Ihnen die Ausbildung von Nachwuchs so wichtig?

Unser Grundgedanke war: Wie können wir etwas zurückgeben? Was können wir für unsere Branche tun? Wir kennen so viele Leute, wir haben so viele Kontakte, wie können wir das nutzen? So entstand die Idee, jungen Leuten die Möglichkeit zu geben sich weiterzubilden. Und zugleich zu vermitteln, wie wichtig und schön die Gastronomie ist.

 

In der Schauspielerei, in der Musik, überall gibt es Stipendien und Unterstützung vom Staat, aber nicht in der Gastronomie. Inzwischen haben 65 Leute das Programm absolviert, sie hospitieren in den besten Kü-chen der Welt, in Peru, in New York, in Oslo, genauso wie bei Produzenten, und die Stiftung übernimmt alle Kosten.

 

Sein Wissen und Knowhow weiterzugeben,
wie befriedigend ist das?
Wir haben mit der Stiftung ein Werkzeug geschaffen, das uns hoffentlich lange überleben und eine Auswirkung auf die Branche haben wird. Das jedenfalls ist mein Traum.

 

Angestoßen von René Redzepi, dem Gründer des berühmten dänischen Restaurants Noma, gab es in der Spitzen- gastronomie eine Diskussion über die Arbeitsbedingungen, unter denen Ausnahmeküche entsteht. Zu Recht?
Was René Redzepi gesagt hat, kann ich nicht bestätigen. Redzepi macht als Koch einen grandiosen Job, die Kreativität seines Teams ist einmalig, sie haben viele coole Sachen entwickelt. Aber offenbar ist er kein Unternehmer. Das ist auch okay. Was mich ärgert an seinen Aussagen: Er urteilt über die ganze Branche, weiß aber offenbar nicht, wie andere arbeiten.

 

Wir haben es geschafft, einen Ort zu kreieren, der drei Sterne hat und nachhaltig ist. Wir haben eine gute Art und Weise, mit dem Team umzugehen, wir halten die gesetzlichen Vorgaben ein, wir zahlen gute Löhne, die doppelt so hoch sind wie im Rest Europas. Natürlich, Küche und Management unter einen Hut zu bekommen, ist eine Herausforderung, aber es ist möglich. Wir zelebrieren eine Kultur, die eine Balance findet zwischen sehr hart arbeiten und trotzdem eine gewisse Leidenschaft und Leichtigkeit bei zu behalten.

 

Wie haben sich in den vergangenen 20 Jahren die Erwartungen Ihrer Gäste verändert?
Zunächst einmal hat sich in den vergangenen 20 Jahren die Gastronomie total verändert. Einen großen Anteil daran hat die Liste „The Worlds 50 Best Restaurants“, die jährlich erscheint. Sie hat vor allem uns in Europa aufgezeigt, dass auch in Südamerika extrem gut gekocht wird und die asiatische Küche sehr spannend ist. Anders, aber genauso gut.

 

Und dass es sehr engstirnig war, zu glauben, dass die französische Küche das Nonplusultra ist. Wenn man mal in Peru war und gesehen hat, was für tolle Produkte und Restaurants es dort gibt, kann man nur begeistert sein. Den Menschen, die gerne essen gehen und viel reisen, hat sich da eine Welt aufgetan. Die Spitzengastronomie war noch nie so vielfältig wie jetzt.

 

In den letzten Jahren sind viele tolle Lokale entstanden, die völlig unprätentiös, aber trotzdem auf sehr hohem Niveau sind. Für den Gast war es noch nie so spannend und vielfältig, essen zu gehen.

 

Was empfinden Sie persönlich als Luxus?
Von einem guten Team umgeben zu sein, mit tollen Produkten zu arbeiten und daraus etwas zu kreieren, schafft ein ungeheures Wohlbefinden, vielleicht sogar Seelenfrieden. In meinem Alltag ist das das Wichtigste.

Mehr zum Thema