Die niederländische Ess-Designerin Marije Vogelzang macht Nahrungsaufnahme zur Kunst – eine, die wir alle lernen sollten, um unser Essen mit allen Sinnen genießen zu können
© Ilja Keizer
Wer nach Bildern von Marije Vogelzang sucht, findet sehr oft welche mit Huhn auf dem Kopf. Fragt man die niederlänische Eating-Designerin dann, ob das nicht furchtbar unangenehm sei, sagt sie: „Überhaupt nicht! Außer es kackt mir mal wieder in die Haare.“ Aber ohne geht’s irgendwie auch nicht. Denn als die Niederländerin vor 24 Jahren anfing, Essen zu designen, war sie bei den ersten Fotoproduktionen so aufgeregt, dass sie sich ein Huhn schnappte, es sich auf den Kopf setzte und hoffte, dass sich jetzt alle auf den Vogel konzentrieren statt auf sie.
Funktioniert hat es nicht. Denn heute ist sie auf der ganzen Welt bekannt, hält Vorträge über die Zukunft unserer Nahrung, wurde vom „Fast Company“-Magazin zu einem der 100 kreativsten Menschen der Welt ernannt und präsentiert ihre Kunst oder Happenings in Museen von Hamburg über New York bis nach Tokio. In Rotterdam, wo sie zu Hause ist, gründete sie die internationale Plattform „The Dutch Institute of Food and Design“, die auch den weltweit ersten Lebensmittel- und Designpreis vergibt: den „Future Food Design Award“.
Warum braucht unser Essen eigentlich Design? Sind unsere Lebensmittel nicht von Natur aus perfekt?
Die Natur hat alles perfekt gestaltet. Aber tatsächlich ist das meiste, was wir zu uns nehmen, bereits von Menschen entworfen oder verändert. Wie Weizen oder Mais oder all die Tiere, die wir essen. Wobei ich das gar nicht als gut oder schlecht werten möchte. Und es ist auch nicht das, was ich tue. Ich entwerfe das Design um den Akt des menschlichen Essens herum.
Wie kann man sich das vorstellen?
Ich interessiere mich vor allem für die Psychologie des Essens. Also, den essenden Menschen. Denn erst, wenn man sich etwas in den Mund steckt, wird es wirklich zum Essen. Und das bedeutet, dass man Essen nie getrennt vom Menschen sehen kann. Viele Köche schauen nur auf die Zutaten und wie sie diese zubereiten oder anrichten. Ich schaue mir lieber an, was mit dem Menschen selbst passiert. Zum Beispiel schmeckt eine Frucht ganz anders, wenn man glücklich ist.
Man sagt doch, Essen macht glücklich, oder?
Es ist genau umgekehrt. Unsere Emotionen oder Fantasien und all die Dinge, an die wir glauben, verändern, wie wir Essen wahrnehmen. Wir bestimmen den Geschmack von Lebensmitteln mit unseren Gefühlen. Wer trauert, kann selbst das leckerste Mahl nicht genießen. Und natürlich kann Essen Menschen glücklich machen, aber dafür müssten sie schon vorher ein bisschen glücklich gewesen sein.
„Wir bestimmen den Geschmack von Lebensmitteln mit unseren Gefühlen“
Also schmeckt jeder etwas anderes, auch wenn allen das Gleiche serviert wird?
Genau! Um ein sehr anschauliches Beispiel zu geben: Eine Vegetarierin könnte niemals mit Genuss in ein Schnitzel beißen, einfach weil es ihrer Überzeugung widerspricht. Der Geschmack wäre für sie unerträglich. Das finde ich so faszinierend, weil man plötzlich merkt, dass Essen nie nur Essen an sich ist. Wenn ich also ein Food-Erlebnis schaffe oder eine Installation kreiere, beschäftige ich mich mit allen Aspekten des essenden Menschen.
Das klingt eher nach einer Philosophie als nach Design?
Es ist Philosophie in Aktion. Weil ich Dinge erschaffe und zugleich erreichen möchte, dass wir die Art und Weise ändern, wie wir den Wert unserer Lebensmittel wahrnehmen.
Was genau meinen Sie?
Es wird immer relevanter, wie wir mit unseren Ressourcen umgehen. Und zugleich wird es immer schwerer, sich mit Essen wirklich verbunden zu fühlen – oder überhaupt zu fühlen, was Leben ist. Wir existieren in einer Art künstlichem Leben, auch angefeuert durch die Digitalisierung, in dem wir unseren Körper genauso vernachlässigen wie etwa die Jahreszeiten. Wir verschmutzen die Welt, bewusst oder unbewusst, und wissen uns oft gar nicht mehr richtig zu helfen. Aber ich denke, je mehr wir den wahren Wert von Essen spüren, desto mehr fühlen wir uns mit dem verbunden, was das Leben wirklich ausmacht. Das ist etwas sehr Kostbares, das wir sonst als Menschheit verlieren.
Wie wollen Sie diese Entfremdung aufhalten?
Wir gehen heute in den Supermarkt, kaufen alles schön abgepackt und portioniert. Oder lassen gleich alles schon vorgekocht liefern. Die wenigsten haben die Möglichkeit, etwas anzubauen, geschweige denn möchte das Gros der Menschheit heute sein Huhn selbst schlachten. Das ist verständlich. Aber wir verlieren immer mehr den Bezug zum Leben an sich. Gleichzeitig werden Lebensmittel in Zukunft immer knapper. Vieles wird unbezahlbar und nicht immer verfügbar sein. Wir sind also gezwungen, kreativer mit unseren Nahrungsmitteln und unserer Vorstellung davon umzugehen.
„Ich habe kein Problem mit künstlich im Labor hergestellten Sachen“
Eine Ihrer Zukunftsvisionen ist es, Aussehen und Geschmack von Lebensmitteln zu trennen und Essen ganz neu zu definieren. Indem wir uns vielleicht sogar selbst überlisten und am Ende problemlos auch Insekten genießen. Die sind ja ohnehin schon zugelassen in einigen Lebensmitteln.
Genau, die existenzielle Frage für die Zukunft ist: was betrachten wir als Nahrung? Solange wir uns vorstellen, die gleichen Dinge zu essen wie jetzt, kommen wir nicht weit. Ich bin aber überzeugt davon, dass wir genug Nahrung für alle Menschen auf der Welt produzieren können.
Was sind die großen Ernährungstrends in Zukunft?
Es passiert sehr viel im Bereich Ersatzstoffe. Ein Unternehmen versucht etwa, Milch mit Hilfe von Bakterien herzustellen. Sie wollen den natürlichen Prozess der Milchproduktion ohne Kuh kopieren. Echte Milch wird also auf zellulärer Ebene hergestellt. Das ist gut und es wird in unserer landwirtschaftlichen Industrie viel verändern. Genauso wie man schon länger im Bereich Fleischersatz experimentiert.
Aber wie passt das zu Ihrer Idee, dass wir Menschen uns wieder mehr mit der Natur verbinden sollen? Müssen wir uns nicht eher zurückbesinnen, quasi zurück zur Natur, um in Zukunft überleben zu können?
Es geht nicht unbedingt zurück, es kann auch vorwärts gehen. Ich habe kein Problem mit künstlich im Labor hergestellten Sachen. Technologie und Fortschritt gehören nun mal zusammen. Entscheidend ist aber, dass wir uns wieder mit uns selbst verbinden und nicht länger so tun, als käme Essen an letzter Stelle. Wenn es nicht mal ausnahmsweise als besonderer Genuss zelebriert wird, ist es ein tägliches Must-do. Wir wollen nicht wirklich Zeit mit der Herstellung verbringen. Alles muss sofort fertig sein. Am Ende servieren wir uns schlimmstenfalls immer dasselbe. Was wir brauchen, ist also eine andere Denkweise. Meine Projekte drehen sich genau darum: eine neue, kreative Sicht auf die Dinge zu finden.
Wie Sie es in Ihrem neuen Buch „Lick it!“ beschreiben?
Jedes Kapitel darin erzählt eine neue Geschichte darüber, wie Sie Ihre Sichtweise auf Lebensmittel überdenken können. Dazu kommen kleine Challenges, denen Sie sich zu Hause stellen können. Immer vor dem Hintergrund: Wie betrachten Sie Ihr Essen in Ihrem Mund, in Ihrem Körper, in ihren Händen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Experiment besteht darin, ein paar Tage ausschließlich die gleiche Farbe zu essen. Das Lustige ist, wenn man eine Woche lang nur braune Lebensmittel isst, hat man tatsächlich Hunger auf Braun. Es gibt aber auch kleine emotionale Übungen wie eine Orange unter der Dusche zu vernaschen. Ein irres Gefühl und sehr sinnlich! Essen hat etwas Magisches. Es geht eben nicht nur darum, ob man etwas mag oder nicht oder ob es zu viele Kalorien hat und wie teuer es war.
„Wir schmecken gewissermaßen mit unseren Augen“
Heute geht es sehr oft auch darum, wie socialmediatauglich etwas ist – Stichwort Foodporn.
Niemand weiß wirklich, warum das so erfolgreich ist. Aber ich denke, unsere Gehirne sind so verdrahtet, dass sie sich sogar mehr auf Essen konzentrieren als auf Sex. Essen ist nun einmal überlebenswichtig. Außerdem sind unsere Augen sehr dominant. Wir schmecken gewissermaßen mit unseren Augen. Aber wir können nur das beurteilen, was wir schon einmal gegessen haben. Und das schränkt extrem ein. Deshalb ist Sehen zwar sehr hilfreich, aber auch eine Art Falle, in die wir immer wieder tappen. Denn wenn wir glauben, gucken reicht, verpassen wir das Meiste.
Sollten wir öfter blind essen?
Ja, auf jeden Fall. Ich habe schon einige blinde Happenings organisiert. Es kann wahnsinnig überraschend sein, etwas zum ersten Mal nur zu schmecken oder zu riechen und nicht zu wissen, was es ist: sich ganz auf die Zunge konzentrieren, oder auf die Hände. Etwas einfach mal erfühlen.
Sollten wir wieder mehr wie Kinder agieren, wenn es ums Essen geht?
Von Kindern können wir eine Menge lernen. Sie sind viel neugieriger, haben Lust, Dinge zu erforschen und auszuprobieren, wenn man sie lässt. Ein anderes Kapitel in meinem Buch handelt von Sexualität. Kinder sind wahre Meister der Sinnlichkeit. Sie können eine Weintraube fühlen, schälen und sie mit ihrem ganzen Körper genießen. Im Gegensatz dazu fühlen wir Erwachsenen uns oft so unbeholfen, wenn wir zum Beispiel einen Pfirsich lecken oder über seinen sanften Flaum streicheln. Dabei macht das so viel Spaß. Genau wie die Orange unter der Dusche. Ihre Schale enthält all diese ätherischen Öle, die unter warmem Wasser freigesetzt werden. Und man kann einfach herzhaft reinbeißen und den Saft über den Körper fließen lassen, ohne sich Sorgen zu machen.
Manchmal hat man ohnehin das Gefühl, dass wir mehr darüber nachdenken, möglichst nicht zu essen. All die Diäten und verbotenen Lebensmittel.
Dieser ganze Mythos um die verbotene Frucht! Es ist eine Schande, dass die meisten Menschen denken, Essen sei entweder gut oder schlecht. Denn es gibt so viel mehr dazwischen. Nicht nur schwarz oder weiß, gesund oder ungesund. Wenn es um die Zu-kunft der Ernährung geht, setzen viele Ökotrophologen mittlerweile auf personalisierte Ernährung. Den perfekten Diätplan für jeden von uns. Dabei wissen doch die meisten Menschen sehr wohl selbst, was gut für sie ist. Es ist ja nicht so, als ob man nicht wüsste, was der Körper braucht.
„Es ist eine Schande, dass die meisten Menschen denken, Essen sei entweder gut oder schlecht“
Ein riesiges Geschäft.
Ein Geschäft mit der Schuld und der Scham vieler Menschen, wenn sie vermeintlich etwas „Böses“ gegessen haben. Dabei sollte man sich nie schuldig fühlen, weil man einfach froh sein kann, dass es da ist. Wir haben verlernt, es wirklich zu schätzen.
Wann haben Sie sich eigentlich in Lebensmittel als Designmaterial verliebt?
Als ich studierte, 1999, habe ich einmal ein Essen mit ausschließlich weiß gekleideten Gästen veranstalten. Ich war begeistert von der Idee, dass ich als Designerin etwas machen konnte, das sich meine Kommilitonen
in ihren Körper stecken würden. Etwas, das riecht, schmeckt, und zugleich habe ich den Tisch zweckentfremdet als großen Stuhl für alle Gäste.
Dennoch ist es eine sehr flüchtige Art von Kunst, die man
sogar zerstört, indem man sie isst.
Manchmal ist es frustrierend. Man arbeitet monatelang an etwas, und dann überlebt es nur ein paar Stunden. Wenn man es aber von einer spirituellen Ebene aus betrachtet, sind die flüchtigsten Dinge die wertvollsten. Denn sie sind mit der Zeit verbunden.