Die Traditionelle Chinesische Medizin hat eine spezielle Sichtweise auf die Ernährung. „Es ist, als würde man den Menschen durch zwei Brillen betrachten: Die eine steht für die westliche Medizin, die andere ist die Brille der chinesischen Diätetik“, sagt Dr. Patricia Krinninger, Ernährungswissenschaftlerin und Dozentin der SMS (Societas Medicinae Sinensis).
„Die westliche Ernährungsmedizin zeichnet sich durch ihren Fokus auf quantitative Aspekte wie Kalorien oder Nährstoffe aus. Dies ermöglicht unter anderem eine gezielte Therapie von Stoffwechselstörungen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten sowie die Vermeidung von Mangelernährung und Nährstoffdefiziten“, so Krinninger.
„Im Gegensatz dazu bietet die chinesische Diätetik eine umfassendere Sicht auf das Krankheitsgeschehen und ermöglicht individuelle Ernährungsempfehlungen auf der Grundlage einer ausführlichen Diagnose nach den Prinzipien der Chinesischen Medizin.“
Der therapeutische Stellenwert geht schon aus einem der ersten spezialisierten Texte hervor, entstanden um 650 n. Chr., in dem es sinngemäß heißt: Erst wenn die Ernährungstherapie keine Heilung bringt, sind Arzneimittel oder Kräuter einzusetzen. „Nahrungsmittel werden als sanfte Heilmittel betrachtet, die zur Behandlung und Prävention von Krankheiten dienen“, sagt die Ernährungswissenschaftlerin.
„Nahrungsmittel werden als sanfte Heilmittel betrachtet, die zur Behandlung und Prävention von Krankheiten dienen“
In der chinesischen Diätetik werden Lebensmittel entsprechend ihrer Wirkung nach dem gleichen Ordnungsschema wie die Arzneimittel beschrieben. Ihr Temperaturverhalten gibt Aufschluss über ihre energetische Dynamik und wie stark sie physiologische Prozesse bewegen – Chilis etwa bewirken eine Beschleunigung, Wassermelonen eine Verlangsamung.
Die Geschmacksrichtung – salzig bis scharf – gibt an, in welcher Schicht das Lebensmittel wirksam ist: So wirken Frühlingszwiebeln emporhebend, Spinat wirkt absenkend, Zimt an der Oberfläche, Tomate in der Tiefe. Die Anwendungsbereiche reichen von Infekten über Verdauung bis hin zu Frauengesundheit und Langlebigkeit.
Auch im Alltag lassen sich einige Empfehlungen, im Sinne der Prävention, einfach umsetzen, so Dr. Krinninger. Speisen sollten „klar“ und „rein“, Temperaturverhalten sowie die Geschmacksrichtung eher „ausgeglichen“ und „neutral“ sein.
Klar und rein heißt: frisch, unbelastet und qualitativ hochwertig sowie möglichst schonend durch Garen, Dämpfen oder Kochen zubereitet. Ausgeglichen und neutral heißt: Nicht zu heiß oder scharf, nicht zu kalt oder salzig. Nicht empfehlenswert sind auch westliche Winter-Vitaminklassiker wie Orangensaft oder Beeren – sie wirken eher kühlend.
Weil diese in heißen Ländern oder im Sommer wachsen, regulieren sie die Temperatur nach unten. Das ist im Winter oder bei Erkältungen kontraproduktiv, es sei denn, man braucht einen Fiebersenker.
Auch im Naturheilsystem Ayurveda spielt die Ernährungslehre (Ahara) eine zentrale Rolle. Ein ayurvedischer Grundsatz heißt, dass diejenigen, die sich richtig ernähren, keine Medizin brauchen; und denen, die sich falsch ernähren, kann auch mit Medizin nicht geholfen werden.
Die Lehre folgt der Grundannahme, dass alles, vom Stein bis zum Menschen, in seinem „Sein“ durch die ordnenden Strukturkräfte der drei Doshas Vata (Bewegungsprinzip), Pitta (Stoffwechselprinzip) und Kapha (Strukturprinzip) bestimmt wird.
„Somit trägt auch jedes Nahrungsmittel eine bestimmte Dosha-Information in sich, die sich auf körpereigene Doshas positiv oder negativ auswirken kann, indem sie gesenkt oder erhöht werden“, erklärt Maria Hebel, Ayurveda-Medizinerin des 5-Sterne Health & Detox Resort Ayurveda Parkschlösschen.
Neben der Dosha-gerechten Ernährung spielt auch die Verdauungskraft, „Agni“ genannt, eine Rolle zur Erhaltung der Gesundheit. „Ist Agni zu schwach und der Stoffwechsel gestört, kommt es zur Verschlackung und Übersäuerung des Organismus. Toxine und Stoffwechselrückstände (Ama) lagern sich im Körper ab und können Auslöser für verschiedenste Krankheiten sein“, so Hebel.
Ziel ist also auch, das Agni zu stärken. Das geschieht einerseits durch Dosha-gerechte Speisen, aber auch durch den gezielten Einsatz von Gewürzen wie Ingwer, Koriander und Kreuzkümmel zur Beseitigung von Stoffwechselrückständen. Braucht die Verdauung mehr Push, hilft es, viel heißes Wasser über den Tag verteilt zu trinken und in zwei bis drei Tassen etwa zwei Zentimeter frischen Ingwer zu reiben.
@ Polina Tankilevitch
Die heilende Kraft des Essens kennt man aber auch im europäischen Kulturraum. Dazu muss man gar nicht in die Antike mit ihrer Körpersäftelehre oder in die mittelalterlichen Klosterküchen zurückgehen. Es reichen oft schon Kindheitserinnerungen.
Wer kennt nicht die Regel, morgens zu essen wie ein Kaiser, mittags wie ein König und abends wie ein Bettler? So kann man Völlegefühlen und Schlafproblemen vorbeugen. Oder: Gut gekaut, ist halb verdaut. Lebensmittel saisonal, regional oder nach ihrer thermischen Wirkung auszuwählen, machten auch schon unsere Großmütter: So gab es im Winter wärmende Schmorgerichte oder deftige Eintöpfe, im Sommer Leichtes und Kühlendes wie Quark, Obst oder Salat.
„Meiden Sie Nahrungsmittel, die behaupten, gesund zu sein!“
„Essen Sie nichts, was ihre Großmutter nicht als Essen erkannt hätte“, forderte der Ernährungsaktivist Michael Pollan in seinem Buch „Food Rules. An Eater’s Manual“. Er empfiehlt, Produkte im Supermarkt mit dem „Oma-Blick“ zu bewerten: Gehören die Inhaltstoffe eher in ein Chemielabor als in eine Küche? Damit, so Pollack, landeten viele Produkte gar nicht erst im Einkaufswagen.
Und er geht noch weiter: „Meiden Sie Nahrungsmittel, die behaupten, gesund zu sein! Die gesündesten Lebensmittel im Supermarkt, die frischen Produkte, prahlen nicht damit, gesund zu sein. Ziehen Sie deshalb aus dem Schweigen der Süßkartoffeln nicht den Schluss, diese hätten zu unserer Gesundheit nichts Wichtiges beizutragen.“
Neue Veröffentlichungen aus der weltweit durchgeführten PURE-Studie der Kardiologen Salim Yusuf und Andrew Mente liefern interessante Aspekte. PURE (Prospective Urban Rural Epidemiological Study) wurde 2006 gestartet, es ging darum herauszufinden, welches Ernährungsmuster und welche Lebensmittel einen positiven Einfluss auf die Gesamtsterblichkeit und insbesondere die Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben.
Hier wurden eindeutig Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte, Nüsse, Fisch und naturbelassene Milchprodukte als schützende Lebensmittel identifiziert. Eine weitere Analyse zeigte zudem, dass sich Sterblichkeit und Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht verändern, wenn unverarbeitetes rotes Fleisch oder Vollkorn zugefügt oder weggelassen werden. Was im Umkehrschluss heißt: Die Vermeidung von Fleisch führt nicht zu einer besseren präventiven Wirkung.
Essen hält Leib und Seele zusammen – auch eine Oma-Weisheit. Und auch richtig ist, dass Essen maßgeblich zu seelischer Gesundheit beiträgt. „Schon im Säuglingsalter wird der Grundstein gelegt, dass Essen und Gefühle in Verbindung kommen“, bestätigt Prof. Dr. Ulrike Gisch vom Institut für Ernährungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. „Essen hat auch eine emotionsregulierende Funktion. Hochkalorische Lebensmittel kurbeln, ähnlich wie Drogen, die Produktion von Substanzen wie Dopamin an – das ist der Neurotransmitter, der glücklich macht.“
Kein Wunder, dass man danach auch süchtig werden kann. „Die Schokolade schenkt kurzfristig ein Dopaminhoch, langfristig brauche ich aber immer mehr davon, um mich zu befriedigen“, so die Ernährungspsychologin. So kann das positive Gefühl, das Essen erzeugt, schnell umschlagen: Man isst zu viel und fühlt sich einfach nur voll und unangenehm.
„Emotionales Essen darf aber nicht unter ‚wenn’s mir schlecht geht, dann esse ich‘ abgestempelt werden. Denn wir essen auch, wenn es uns gut geht“, erklärt Prof. Gisch. Es hat viel mit Verwöhnen zu tun. Womit wir wieder bei der sprichwörtlichen Oma sind. Denn ihre Schinkennudeln oder ihr Vanillepudding waren nicht nur Speisen, sondern Soulfood – Nahrung für die Seele. Damit einher geht das Gefühl, umsorgt und behütet zu sein. So kann Essen auch auf mentaler Ebene etwas Heilsames haben.
Der Begriff „Soulfood“ stammt ursprünglich aus den amerikanischen Südstaaten und ist geprägt von der traditionellen Küche der Afroamerikaner:innen, entstanden in der Zeit der Sklaverei, aus einem Nahrungsmittelmangel heraus. Damals mussten sich die Menschen aufgrund von Unterdrückung und Armut mit einfachen Lebensmitteln zufriedengeben – mit Bohnen, Reis und Mais.
Dazu wurde Fleisch zubereitet, das von den Wohlhabenderen verschmäht wurde: Hähnchenflügel, Rippchen, Innereien, Schweinefüße. Diese Gerichte sind auch heute noch wichtiger Bestandteil der Südstaatenküche, allerdings wird der Begriff Soulfood im moderneren Sprachgebrauch eher mit Comfort Food gleichgesetzt: Speisen, die der Seele guttun, die schöne Erinnerungen hervorrufen an besondere Momente, in denen man sich glücklich gefühlt hat, und die dadurch bewirken, dass einem warm ums Herz wird.
Warum bestimmte Speisen satt und happy machen, erklärt Sascha Stemberg. Der Sternekoch setzt in seinem Restaurant „Haus Stemberg“ im nordrhein-westfälischen Velbert auf Seelennahrung mit rheinischem Herz. „Für mich ist Soulfood Essen, das jeder versteht und das die Seele küsst.“
Ausschlaggebend seien die guten Gefühle, die mit den Speisen verbunden werden, sagt er. Es gehe nämlich nicht nur darum, körperliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern auch emotionale. Stemberg nimmt seine Gäste regelmäßig mit auf eine geschmackliche Reise in die Kindheit. „Vertraute Geschmäcker, Erinnerungen an zu Hause, besondere Momente aus der Vergangenheit tragen dazu bei, dass ein Gericht die Stimmung hebt oder tröstet“, erklärt Stemberg. „Das schmeckt ja wie früher“, bekomme er oft von seinen glücklichen Stammkunden zu hören.
Leider haben gerade diese Gerichte, oft Kombinationen aus Fettem, Salzigem oder Zuckerreichem, viele Kalorien und sind ungesund. „Es ist doch wie bei allen Dingen im Leben, die Dosierung ist wichtig“, so Stemberg. „Wenn ich einmal in der Woche Pommes mit Mayo esse und mich das an meinen Lieblingsurlaub in Holland erinnert, ist es doch völlig in Ordnung.“
Der britische Genetik-Professor Tim Spector gibt in seinem neuen Buch „Nahrung fürs Leben“ Impulse für den Speiseplan der Zukunft und setzt sich mit Ernährungsmythen und Trends auseinander. Beispiele: Alles, was behauptet, „Superfood“ zu sein, ist wahrscheinlich Betrug.
Und: Die Idee, Kaffee sei ungesund, kann man getrost vergessen – eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung der UK Biobank habe bei Kaffeetrinkern eine verringerte Sterblichkeit festgestellt, außerdem lieferten zwei Tassen Kaffee mehr Ballaststoffe als eine Banane.
Zum Thema glutenfreier Ernährung: Diese würde sich oft negativ auf die Darmflora auswirken, deswegen sollte man sie meiden, wenn man nicht an Zöliakie leidet. Besonders wichtig ist dem Professor für genetische Epidemiologie am King’s College London das Thema Darmgesundheit.
Größte Feinde eines gesunden Darms? Hochverarbeitete, raffinierte Lebensmittel. Was Spector auch festgestellt hat: Die ideale Ernährung ist für jeden Menschen anders. Es gibt keine Diät, die für alle Menschen gleichermaßen funktioniert. Und Wunderkuren zur „Entgiftung“ des Körpers gehören für ihn dem Reich der Märchen an.