20. August 2024
Bernd Skupin
Wann sind Fehler wertvoll? Und wie bringen sie uns weiter? Was Harvard-Professorin Amy Edmondson über die Kunst des Scheiterns herausgefunden hat
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Amy Edmondson hat das Scheitern zu ihrem Beruf gemacht – und ist damit ausgesprochen erfolgreich. Seit 30 Jahren forscht die Inhaberin der Novartis-Professur für Leadership und Management an der Harvard Business School zu Fehlern, Irrtümern und eben zum Scheitern.
Sie kennt seine Ursachen, seine Auswirkungen – und die Möglichkeiten, die das Scheitern eröffnen kann. Niemand macht gerne Fehler. Irrtümer und Misserfolge versuchen wir zu vermeiden – und das aus gutem Grund. Sie kosten nicht nur Zeit, Mühe und oft auch Geld, sondern kränken auch unser Selbstwertgefühl und lassen uns vor uns selbst und vor anderen schlecht dastehen.
Irrtümer und Misserfolge versuchen wir zu vermeiden – und das aus gutem Grund
Erst in jüngerer Zeit wird das Fehlermachen als Tugend gefeiert und von notorischen Optimisten sogar als Notwendigkeit auf dem Weg zum Erfolg betrachtet. Dieses Narrativ ist vor allem in der populärpsychologischen Ratgeberliteratur und in der Start-up-Szene beliebt, wo sich neuerdings sogenannte „Fuck-up Nights“ und „Lemon Dinners“ gescheiterter Grün- der großer Beliebtheit erfreuen.
Die flotten Sprüche vom Scheitern als Chance – sie nennt es „Happy-Talk aus dem Silicon Valley“– sieht die Harvard-Professorin zwar mit Ironie, aber im Grundsatz stimmt sie zu und zitiert Winston Churchill: „Erfolg ist, von Misserfolg zu Misserfolg zu stolpern, ohne die Begeisterung zu verlieren.“
Das Scheitern – und manchmal nur das Scheitern – kann uns weiterbringen. Doch es bedarf einer funktionierenden Fehlerkultur, um die „guten“ Fehlleistungen zu erkennen –
jene mit Potenzial, die richtige Art von „falsch“ zu sein. „The Right Kind of Wrong“ ist denn auch der Titel von Edmondsons jüngstem Buch, das im Herbst auf deutsch als „Wertvolle Fehler“ im Vahlen Verlag erscheint.
Das Scheitern – und manchmal nur das Scheitern – kann uns weiterbringen
Wenn wir an wertvolle Fehler denken, haben wir schnell eine romantische Vorstellung von Heureka-Momenten im Kopf: der Physiker, den der missglückte Versuch auf eine neue Idee bringt, oder die Band, die durch ihr Unvermögen, wie ihre Vorbilder zu klingen, einen neuen Stil kreiert.
Die Fotografen Lee Miller und Man Ray entdeckten 1931 durch einen bestimmten Lichteinfall während der Entwicklung ihrer Bilder den Effekt der Pseudo-Solarisation. Doch wo andere vor ihnen im Kippen von Hell und Dunkel auf den Abzügen nur einen Fehler gesehen hätten, entdeckten die beiden eine neuartige visuelle Poesie, die die Möglichkeiten der Fotografie erweiterte, und machten die Technik zum Stilmittel.
Viagra sollte den Blutdruck senken und Angina pectoris behandeln
Auch zu modernen Produkten werden heute gerne Heldengeschichten mitgeliefert, die von ihrem Weg vom Fehlschlag zum Erfolg berichten. Der Klebstoff von Post-its sollte ursprünglich Flugzeuge zusammenhalten, was er augenscheinlich nicht kann. Heute nutzen fast alle die praktischen Klebezettel – und sind froh, dass das Material in der Luftfahrt nie zum Einsatz kam.
Viagra sollte den Blutdruck senken und Angina pectoris behandeln, tat das in einem Test 1992 aber nur unzureichend. Dennoch mochten die Probanden ihre Pillen nicht wieder hergeben. Als die Herstellerfirma Pfizer den Grund dafür herausfand, war das der Start eines Milliardenbusiness.
Doch das ist nicht die Regel. Nicht in jedem Irrtum liegt der Keim zu einem Geniestreich. Meist geht es wirklich darum, Störungen in Abläufen zu verhindern, Vorgänge sicherer zu machen oder Dinge zu verbessern und weiterzuentwickeln. Und, wie Amy Edmondson sagt, nicht alle Fehler sind gleich.
Nicht in jedem Irrtum liegt der Keim zu einem Geniestreich
Sie stellt sogar eine mehrstufige Hierarchie auf, die bei bewussten und nahezu immer nur schädlichen Verstößen gegen klare und einfache Abläufe beginnt und über verschiedene Stufen von Unachtsamkeit, mangelnden Fähigkeiten und Überforderung bis hin zu Überprüfung von Hypothesen und experimentellen Tests reicht.
Bei Letzteren ist in der Wissenschaft ein hoher Anteil von Fehlversuchen seit jeher einkalkuliert. Es gibt Bereiche, in denen eine Misserfolgsquote von 70 Prozent und mehr absolut üblich ist.
Thomas Alva Edison, Erfinder unter anderem des Phonographen, der Glühbirne und des elektrischen Stuhls, wird das Zitat zugeschrieben: „Ich habe nicht versagt. Ich habe nur zehntausend Wege gefunden, die nicht funktionieren.“ Üblich ist in der Wissenschaft aber auch – oder sollte es sein –, Fehler zu analysieren und offen zu diskutieren.
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Genau daran mangelt es andernorts meist. „Wir schieben die schwierige Arbeit auf, darüber nachzudenken, was wir falsch gemacht haben“, sagt Amy Edmondson. „Manchmal sträuben wir uns zuzugeben, dass wir überhaupt versagt haben. Wir schämen uns für unser Scheitern und erkennen sofort die Fehler anderer.
Wir leugnen, beschönigen und machen schnell weiter – oder geben den Umständen und anderen Menschen die Schuld für Dinge, die schief gelaufen sind. Jedes Kind lernt früher oder später, sich der Schuld zu entziehen, indem es mit dem Finger auf andere zeigt. Mit der Zeit wird dies zur Gewohnheit. Noch schlimmer ist, dass diese Gewohnheit dazu führt, dass wir Ziele oder Herausforderungen vermeiden, an denen wir scheitern könnten.“
Aus dieser mentalen Falle muss man sich erst einmal befreien – in der Selbstreflexion aber auch in Teams, Gruppen, Familie und Gemeinschaften. Nur wo man offen und angstfrei über Fehler sprechen kann, gibt es die Chance aus ihnen zu lernen. Zu ihrem Lebensthema Scheitern fand Amy Edmondson durch ein eigenes Misserfolgserlebnis.
Sie war schon ein Jahrzehnt erfolgreich in großen Firmen tätig gewesen, darunter für den Stararchitekten Buckminster Fuller, als sie sich entschloss, nochmals zur Uni zu gehen und in der Forschung zu arbeiten. Doch gleich ihre erste Recherche 1993 führte sie in eine Krise. Dafür befragte sie Ärzte- und Pflegeteams in Krankenhäusern nach der Qualität ihrer Zusammenarbeit.
Gut kooperierende Teams machten nicht etwa weniger Fehler als die anderen, sondern mehr
Ihre These damals: Teams, die gut und kooperativ zusammenarbeiten, unterlaufen auch weniger Fehler. Dann kamen die Daten über falsche Medikamentenzuteilungen herein. Und die gut kooperierenden Teams machten nicht etwa weniger Fehler als die anderen, sondern mehr.
Edmondson war wie vor den Kopf gestoßen. War ihre Hypothese hinfällig? Die ganze Arbeit umsonst? Sie gescheitert? Und das bei ihrem ersten Projekt. Wie sollte sie eine solche Niederlage ihren Professoren eingestehen?
Sie durchlief das ganze Spektrum von Enttäuschung, Scham und Angst, das wir alle kennen, wenn wir etwas vergeigt haben. Dann stieß sie in den Fragebögen der Teams auf einen interessanten Punkt. Die gut kooperierenden Teams waren auch offener, angstfreier in der Kommunikation miteinander.
Amy Edmondson hatte ihr Forschungsgebiet gefunden
Konnte es sein, dass sie gar nicht mehr Fehler gemacht hatten als die anderen, sondern nur mehr gemeldet, weil sie angstfreier auch Fehler eingestehen konnten? Eine weitere Studie bestätigte genau das. Und Amy Edmondson hatte ihr Forschungsgebiet gefunden.
Vor allem plädiert sie bis heute für psychologische Sicherheit, für die Gewissheit, dass jede und jeder Einzelne in einem Team oder einer Organisation Fehler ansprechen und auch zugeben kann, ohne befürchten zu müssen, abgestraft oder ausgegrenzt zu werden.
Das gilt für alle drei Kategorien von Fehlern, die Edmondson ausgemacht hat: einfache, informierte und komplexe. Wobei die einfachen tatsächlich am besten schlicht korrigiert werden sollten. Die informierten Fehler sind jene, die in Versuchen, Tests, Experimenten, Produkteinführungen zutage treten, in Situationen also, die neu und nicht erprobt sind.
„Nur wer es wagt, groß zu scheitern, kann jemals Großes erreichen“
Hier ist das Potenzial für Fehlschläge wie für Innovationen und Erkenntnisse durch das Scheitern natürlich am höchsten. Und manchmal auch der Preis, der gezahlt wird. Amy Edmondson zitiert dazu Robert F. Kennedy: „Nur wer es wagt, groß zu scheitern, kann jemals Großes erreichen.“
Das klingt pathetisch. Und mitunter ist es auch hart. Edmondson führt ein beklemmendes Beispiel aus der Medizin an. Als Anfang der 1950er-Jahre die ersten Herz-Lungen-Maschinen bei Operationen am offenen Herzen zum Einsatz kamen, verstarben bei den OPs Patienten – auch Kinder –, weil unvorhergesehene Komplikationen eintraten. Aus den tragischen Fehlschlägen zogen die Ärzte aber Lehren und verbesserten ihre Methoden sowie die Geräte. Heute retten Eingriffe dieser Art jährlich Tausenden Menschen das Leben.
Zu komplexen Fehlern kommt es, wenn viele unberechenbare Außeneinflüsse einwirken, aber auch wenn einfache Fehler auftreten und in einer ignoranten oder angstbesetzten Struktur oder Hierarchie nicht aufgedeckt und angegangen werden.
Entscheidend ist, kleine Fehler zu erkennen und benennen, bevor sie sich zu großen Problemen auswachsen oder in Katastrophen kulminieren. Als Professorin für Management gewinnt Amy Edmondson ihre Erkenntnisse meist aus Beobachtungen in Unternehmen. Doch vieles ist auf andere Sphären übertragbar.
Entscheidend ist, kleine Fehler zu erkennen und benennen, bevor sie sich zu großen Problemen auswachsen
Und gerade bei der Frage nach der Entstehung und dem Umgang mit komplexen Fehlentwicklungen drängt sich ein Vergleich mit Politik und Gesellschaft auf. Oft genug hat man da das Gefühl, dass das Blame Game, das Spiel der Zuweisung und des Weiterreichens von Schuld, das einzige Spiel ist, dass kurzfristige Scheinerfolge für die eigene Position als wichtiger angesehen werden als die Lösung langfristiger und tiefer liegender Probleme.
Auch Amy Edmondson kann uns weder ein fehlerfreies Leben noch ein aus dem Scheitern geborenes Paradies versprechen. In einer Welt voller Unsicherheiten und vielfältiger unüberschaubarer Abhängigkeiten und Vernetzungen sind Fehler unvermeidbar. Das macht sie unmissverständlich klar.
Die Frage ist nur, wie man mit ihnen umgeht und zwischen ihnen navigiert. Und da zitiert Amy Edmondson die wendige und beständige Musiklegende Dolly Parton: „Wir können den Wind nicht lenken, aber wir können die Segel richtig setzen.“