4. März 2024

Margit Hiebl

Hypnose in der Medizin

Ob Schmerztherapie, Stressbewältigung oder Suchtentwöhnung – die Einsatzmöglichkeiten von Hypnose in der Medizin sind vielfältig und wirken auf wundersame Weise

@ Tara Winstead

Seriöse Hypnose zählt zu den ältesten Heilverfahren. Erste Hinweise finden sich schon in babylonischen Keilschriften. Doch erst Mitte des 20. Jahrhunderts wird sie auch wissenschaftlich anerkannt – maßgeblich ein Verdienst des amerikanischen Psychiaters Milton H. Erickson, der daraus einen erfahrungsorientierten Ansatz zur Bewältigung von Problemen entwickelt.

 

Inzwischen ist die Hypnotherapie eine gut untersuchte psychotherapeutische Methode mit einer Vielfalt von Einsatzmöglichkeiten. Dazu gehört die Behandlung von Ängsten, Depressionen, traumatischen Erfahrungen, Sucht, Schlafstörungen oder Burnout. Auch im medizinischen Kontext gibt es ein breites Anwendungsgebiet – von psychosomatischen Störungen bis hin zu akuten Schmerzen bei chirurgischen Eingriffen, in der Geburtsvorbereitung wie zur Angst- oder Schmerzkontrolle im zahnärztlichen Bereich.

 

Was passiert bei der Hypnose?

 

Was genau bei der Hypnose im Gehirn geschieht und warum, ist immer noch nicht vollständig erforscht. Messungen und bildgebende Verfahren zeigen jedoch, dass etwas passiert und wo: Die Bereiche, in denen Angst oder Schmerz verarbeitet werden, sind dabei weniger bis gar nicht aktiv. Gehirnstrommessungen zeigen, dass Schmerzreize zwar weitergeleitet, aber offenbar anders verarbeitet werden.

 

Bereiche, die für Gefühle und Fantasie zuständig sind, hinge-gen, sind so aktiv, als würde man tatsächlich etwas erleben. Physiologisch zeigt sich, dass Herzschlag und Atmung sich verlangsamen, der Blutdruck sinkt. Auf mentaler Ebene entsteht intensive Gelassenheit und Ausgeglichenheit. Innere Bilder, Erinnerungen und Gefühle werden intensiver erlebt, Geräusche oder andere störenden Wahrnehmungen können leichter ausblendet werden, sogar von belastenden Erfahrungen kann man sich distanzieren.

 

Erreicht wird dieser besondere Bewusstseinszustand bei der Hypnose über eine sogenannte Induktion. „Es beginnt mit einer Anleitung, die Aufmerksamkeit zu fokussieren und mehr und nach innen zu richten“, erklärt Diplom-psychologe und psychologischer Psychotherapeut Norbert Loth aus München, Gründungsmitglied und Dozent der deutschen Gesellschaft für Hypnose und Hypnotherapie und der Milton Erickson-Gesellschaft.

 

„Das sind meist Entspannungsanweisungen, die dazu führen, dass sich das Bewusstsein mehr aus der Aktivität zurückzieht.“ Das wird auch Trance genannt – oder ganz korrekt, weil im Rahmen des Therapieverfahrens eingeleitet, hypnotisch veränderter Bewusstseinszustand oder hypnotische Trance. „Viele er- leben das wie den angenehmen Zustand kurz vor dem Einschlafen, wenn man eher in Bildern denkt.“

 

Erreicht wird dieser besondere Bewusstseinszustand bei der Hypnose über eine sogenannte Induktion

 

Die meisten Menschen sind dazu in der Lage. Und manchmal kann unser Gehirn das sogar von ganz alleine. Etwa in Notfallsituationen oder beim Tagträumen. Hier übernimmt der innere Autopilot. Genauer gesagt: Das sogenannte „Default Mode Network“, ein Ruhestandsnetzwerk von Hirnregionen, die beim Nichtstun aktiviert werden. „In der Hypnose hilft es uns, Verarbeitungsprozesse einzuleiten oder Unwichtiges abzulegen, um sich dann auf das anvisierte Ziel der Therapie zu konzentrieren“, so Norbert Loth.

 

Reise ins Unterbewusste

 

Im weiteren psychotherapeutischen Behandlungsverlauf steht dann die Frage im Zentrum: Was braucht der Mensch, um mit einem Problem besser umgehen zu können? Dabei wird nach ähnlichen Erfahrungen oder Situationen in der Vergangenheit gesucht, die schon mal Gelassenheit oder Sicherheit vermittelt haben.

 

Eine wertvolle Ressource, aus der im hypnotischen Zustand über Suggestionen dann erneut geschöpft wird. Bei Angst vor Prüfungen wird vielleicht eine erlebte erfolgreiche Prüfung durchgespielt: Schritt für Schritt die Vorbereitung, der souveräne Ablauf und die große Freude danach. Findet sich im eigenen Erfahrungsschatz nichts ausreichend Starkes, können Superhelden, Krafttiere oder Zauberwesen eingeführt werden, die mithelfen, das Prob-lem zu bewältigen.

 

Um Zigaretten adieu zu sagen, ist Hypnose die nachgewiesenermaßen erfolgreichste Methode

 

Die Suche nach der richtigen Ressource kann auch in die Zukunft führen. „So kann die Geschichte beim Thema De-pression sein: Was ist, wenn die Depression weg ist? Wie lebe ich mein Leben? Was hat sich verändert?“ Die richtige Geschichte ist also der Schlüssel zum Erfolg. Sie findet sich nicht immer auf Anhieb. Entsprechend kann eine Hypnotherapie zwischen 20 und 60 Sitzungen dauern.

 

Hypnose funktioniert, doch nicht immer mit gewünschtem Ergebnis. „Möglicherweise tun sich diese Menschen schwer mit der Hypnose, wehren sich, haben Ängste. Dann muss sich der Therapeut erst damit beschäftigen, bevor er sich beispielsweise der Rauchentwöhnung widmet“, so Loth. „Außerdem ist nicht jeder Mensch gleich suggestibel und offen für Veränderung.“ Dennoch, um Zigaretten ein für alle Mal adieu zu sagen, ist Hypnose die nachgewiesenermaßen erfolgreichste Methode.

Hypnose statt Narkose

 

„In der medizinischen Anwendung ist Hypnotisieren wesentlich leichter, weil die Bedürftigkeit und die Notwendigkeit sich an klaren Anweisungen zu orientieren viel größer ist“, erklärt Loth. Die Suggestibilität ist erhöht, selbst wenn noch keine Hypnose angewendet wurde. Gutes Beispiel ist ein neuer Ansatz in der Notfallmedizin, der die Überlebenschancen, etwa bei Herzinfarkten, durch beruhigende hypnotherapeutische Kommunikation erheblich steigen lässt.

 

Auch im Operationsaal werden hypnotische Verfahren mehr und mehr eingesetzt. Eine der Pionierinnen, die belgische Ärztin Dr. Marie Faymonville, nutzt sie schon seit Anfang der 1990er-Jahre. Vorteile sind, neben der beruhigenden Wirkung, dass das Gehirn mithilfe von Hypnose dazu gebracht werden kann, den Schmerz nicht mehr wahrzuneh-men.

 

Auch im Operationsaal werden hypnotische Verfahren mehr und mehr eingesetzt

 

Norbert Loth erklärt das so: „Schmerz hat zunächst einmal eine Signalfunktion – sobald das Bewusstsein das weiß, bringt das keine neue Information mehr, und es kann sich wundersamerweise aus der Wahrnehmung des Schmerzes zurückziehen.“

 

Dank dieser sogenannten Dissoziation kann man sich getrost in Fantasiewelten begeben. Weitere nachgewiesene Fakten sind, dass Narkosemittel zumindest reduziert werden können, der Blutverlust geringer ist und die Regeneration schneller verläuft.

 

Vor allen in der Neurochirurgie gibt es gute Erfahrungen damit. Einer der Spezialisten auf dem Gebiet in Deutschland ist der Neurochirurg Dr. Rupert Reichart, Oberarzt und Leitender Arzt Schmerztherapie am Rhön Klinikum Campus Bad Neustadt. Er ist zudem ausgebildeter Arzt für medizinische Hypnose. Was Hypnose für ihn so spannend macht?

 

„In der Neurochirurgie werden Schlaf-Wach-Eingriffe vorgenommen, um während der Operation bestimmte Hirnfunktionen testen zu können“, so Reichart. Etwa wenn ein Hirntumor Areale des Sprechens, des Sprachverständnisses oder der Bewegung betrifft.

 

Üblicherweise erfolgt der Eingriff in Halbnarkose, die immer wieder unterbrochen werden kann, um diese Funktionen zu überprüfen. Problem dieser Vorgehensweise ist, dass die PatientInnen dabei zwar ansprechbar, aber nicht so wach sind, dass eine feine Testung möglich ist. Mit Hypnose statt Narkose hingegen, wird der/die PatientIn sofort ganz wach und uneingeschränkt testbar.

 

Einen großen Vorteil hat für Reichart die Hypnose bei der Tiefenhirnstimulation. Ein Eingriff, der erfolgreich bei Parkinson-PatientInnen mit Tremor eingesetzt wird. „Die Herausforderung dabei ist, genau den Punkt zu finden, wo die Stimulation am besten wirkt und das Zittern aufhört“, erklärt Reichart. „Bekommen PatientInnen vorher ein Sedierungsmedikament, kann es sein, dass sie nur noch leicht oder gar nicht zittern, das Bild also verfälscht ist.“ Unter Hypnose kann also hier präziser gearbeitet werden.

 

Mit Hypnose statt Narkose hingegen, wird der/die PatientIn sofort ganz wach und uneingeschränkt testbar

 

Eine OP am Gehirn ohne Narkose klingt für Laien vielleicht unvorstellbar. Doch das Gehirn selbst ist nicht schmerzempfindlich. Schmerzhaft ist der Schnitt in die Kopfhaut, der unter örtlicher Betäubung erfolgt. Unangenehm ist die Klemme, in die der Kopf eingespannt ist. Sehr unangenehm, aber nicht schmerzhaft, ist das Öffnen der Schädeldecke – vor allem wegen der durchdringenden Bohrer-geräusche. Genau hier nimmt Reichart seine PatienInnen mit einer Geschichte auf eine Reise, die schon mal ein paar Stunden dauert.

 

Eine große Herausforderung, auch für den erfahrenden Chirurgen, der Hypnose und Eingriff parallel macht. Der Vorteil dieser Vorgehensweise: Er kennt die Abläufe besser als ein Psychotherapeut von außen und kann die Geschichte immer aktuell abstimmen.

 

Welche in die jeweilige Lebenswelt passt, findet er in Vorab-Gesprächen und Übungen heraus. So ist er mit einem Mitarbeiter vom Straßenbauamt auf Schneeräumfahrt gegangen, und der Bohrer wurde zur Schneefräse.

 

Sinnvoll lässt sich Hypnose auch in der Zahnarztpraxis einsetzen

 

Bei anderen lässt er vielleicht einen Hubschrauber landen. Ziel ist, das OP-Geschehen so zur Nebensache werden zu lassen, dass die PatientenInnen sich sicher fühlen. Dennoch wird, so Reichart, in der Neurochirurgie nur dann mit Hypnose gearbeitet, wenn sie einen klaren Vorteil bietet. Etwa auch dann, wenn PatientInnen Narkosen nicht gut vertragen.

 

Große Chancen sieht er zudem im Bereich der Schmerztherapie, etwa auf dem Gebiet der Phantomschmerzen nach einer Amputation. Sinnvoll lässt sich Hypnose auch in der Zahnarztpraxis einsetzen. Nicht nur, um etwa unangenehme Bohrergeräusche oder Schmerzen auszublenden, sondern um tief-sitzende Ängste zu lösen.

 

Und die können schon bei der Dentalhygiene erkannt werden. Deshalb verfügen nicht nur viele ZahnärztInnen, sondern immer mehr ProphylaxeassistentInnen über eine Hypnoseausbildung. Bei entsprechender Disposition werden PatientInnen dann vorab auf eine Entspannungsreise genommen.

 

Hilfe zur Selbsthilfe

 

Um besser mit Stress, störenden Reizen oder Schmerzen umgehen können, kann jeder auch selbst die Hypnosetechnik erlernen. Der Unterschied zu Meditation oder Autogenem Training: „Bildgebende Verfahren zeigen, dass bei der Meditation das Großhirn gleichmäßig aktiviert ist und nicht punktuell wie bei der Hypnose. Auch ist der Wechsel zwischen dem Default Mode Network und dem fokussierten mentalen Prozess nicht so ausgeprägt“, so Norbert Loth.

 

Autogenes Training funktioniert ähnlich wie Selbsthypnose, nur werden die Ressourcen nicht aktiviert. Dafür braucht es zunächst eine passende Einleitungstechnik. Manche stellen sich eine angenehme Situation vor (am Strand, im Liegestuhl), andere zählen rückwärts oder fahren mit einem imaginären Aufzug nach unten.

 

Für Anfänger haben sich Fixationsmethoden bewährt. „Dabei wird die Aufmerksamkeit auf einen Punkt gelenkt, womit dem Gehirn quasi mitgeteilt wird, dass jetzt etwas anderes beginnt. So lange, bis das Gehirn von sich aus beginnt, sich an die natürlichen Trance- oder Hypnoseerfahrungen zu erinnern, etwa in Form von Tagträumerei“, so Loth.

 

Dann sagt man sich: Ich bin mir bewusst, dass ich hier sitze und möchte jetzt in Trance gehen – sozusagen der Auftrag ans Unbewusste, alles zu nutzen, was es weiß, um in einen hypnotischen Zustand zu kommen. Und weiter: Ich bin mir bewusst, dass ich hier sitze, und höre (z.B. draußen ein hupendes Auto, zwitschernde Vögel … – so werden alle Ge-räusche miteinbezogen) und fühle (das weiche Stuhlkissen, den glatten Boden) und denke (alles, was einem in den Sinn kommt).

 

Wird Hypnose als Einschlafhilfe genutzt, erwacht man dann kurz, reorientiert sich und geht in den Nachtschlaf über

 

Bald wird das Gehirn anfangen, sich zu langweilen – und schaltet um in einen hypnotischen Zustand. Dieser kann ohne gesetzte Zeitgrenze bis zu zwei Stunden andauern. Wird Hypnose als Einschlafhilfe genutzt, erwacht man dann kurz, reorientiert sich und geht in den Nachtschlaf über. Soll der Trance-Zustand nur beispielsweise zehn Minuten dauern, rät Loth, sich – das heißt dem Verstand vorher eine Zeit vorzugeben und dabei ganz genau eine innere Uhr zu stellen.

 

Nach ein paar Mal Üben funktioniere das ziemlich genau. „Vielleicht kommt aber auch ein unbewusster Weckreiz, weil etwas wichtiger als die Trance geworden ist – man ist ja nicht weggetreten“, so der Experte. Oder ganz profan den Wecker stellen.

 

Doch Entspannung und Stressreduktion sind nicht das Einzige, was mit Selbsthypnose erreicht wird: Spitzensportler nutzen sie, um ideale Bewegungsabläufe genau durchzuspielen und zu verinnerlichen. Wer nach einer Lösung im Beruf oder Privaten sucht, kann auch einen Wunsch oder Auftrag mitnehmen. „Und nicht selten kommen aus dem Unterbewussten noch bessere Ideen, die einem durch Stress blockiert nie einfallen würden“, so der Psychologe.

 

Risiken und Nebenwirkungen

 

Klares Ausschlusskriterium für die Anwendung einer Hypnose wäre eine Psychose. Beim geringsten Verdacht muss der Psychotherapeut – gegebenenfalls mit einem Psychiater – klären, wie therapiefähig der Patient oder die Patientin ist. Denn eine Hypnose könnte hier extreme Angstzustände und dissoziative Störungen auslösen oder jemanden völlig dekompensieren.

 

Deshalb warnt Norbert Loth auch vor Bühnenhypnosen. Da der Bühnenhypnotiseur sein „Ver-suchskaninchen“ nicht kennt und keine psychotherapeutische Erfahrung hat, könnten schon harmlose Fragen oder Suggestionen labile Menschen in eine traumatische Situation zurückführen, mit denen sie dann in der Regel alleingelassen werden.

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