7. Februar 2025

Barbara Markert

Proteine – die neuen Superstars

Als Eiweiß buchstäblich in aller Munde, werden Proteine durch die neueste Forschung zu Hoffnungsträgern in der Medizin und in der Mode

Garn aus Proteinen

@ Spiber Inc

Der neue Stoff, aus dem Modeträume sind: Proteine bilden das Ausgangsmaterial für Garne

Anfang September beendete Japans Mega-Popstar Hikaru Utada in Yokohama ihre länderübergreifende Konzerttour in einem regenbogenfarbenen Kleid, das alle ihre anderen Tournee-Outfits in den Schatten stellte. Wenige Tage später verlieh die Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm den Nobelpreis in Chemie an drei Wissenschaftler aus den USA und England.

 

Und gerade eben brutzelt in irgendeiner Küche höchstwahrscheinlich ein Steak in der Pfanne. Die drei Ereignisse haben auf den ersten Blick rein gar nichts miteinander zu tun, und dennoch haben sie einen gemeinsamen Nenner. Bei allen geht es um Proteine.

 

Was sind Proteine?

 

Proteine, umgangssprachlich auch gerne Eiweiße genannt, sehen natürlich nicht aus wie das glibberige Innere eines Hühnereis. Das bloße Auge kann sie nicht erkennen, und selbst ein professionelles Mikroskop konnte lange Zeit nichts ausrichten, bis man ein spezielles Lichtmikroskop entwickelte, das mit Fluoreszenzfarbstoffen markierte Proteine in der Zelle zum Leuchten bringt.

 

Doch so unsichtbar, sagenhaft und für Nichtwissenschaftler schwer begreifbar diese Eiweiße auch sind, so wichtig sind sie für das Leben auf der Erde. Heiner Linke, Vorsitzender des diesjährigen Nobelpreis-Komitees für Chemie, sagt: „Leben kann nicht ohne Proteine existieren. Aber nur wenn wir wissen, wie die Proteine aussehen, können wir verstehen, wie sie arbeiten.“

 

Einfach ausgedrückt agieren Proteine wie chemische Werkzeuge, die überall in der Natur vorkommen und unterschiedliche Funktionen übernehmen können: Sie steuern und kontrollieren chemische Reaktionen, fungieren aber auch als Hormone, Signalstoffe, Antikörper und Bausteine verschiedener Gewebe, wie zum Beispiel Muskeln, Hörner oder Federn.

 

Woraus bestehen Proteine?

 

Die Grundlage der Proteine bilden Ketten von Aminosäuren, die nach einer genetisch codierten Abfolge in unterschiedlichen Sequenzen aneinandergereiht sind. Bildlich sieht diese Aminosäurenbasis aus wie eine Perlenkette, doch erst die dreidimensionale „Entfaltung“ dieser Kette, die einem ungleichmäßig gekräuselten Geschenk-band ähnelt, zeigt die echte Funktion eines Proteinmoleküls.

Rund 200 Millionen unterschiedliche Proteine gibt es auf der Erde, schätzt die Wissenschaft. Bis vor Kurzem kannten die Forscher aber nur die Struktur von rund 200.000 Proteinen – gerade mal 0,1 Prozent. Entschlüsselt wurden diese durch komplizierte und sehr teure Röntgenkristallographien.

 

Es dauert oft mehrere Jahre, um die Kräuselform eines einzigen Proteins bestimmen zu können. Nun soll dies in wenigen Stunden oder sogar Minuten gehen. Möglich wird das durch ein neuartiges Computerprogramm namens „AlphaFold2“ das künstliche Intelligenz nutzt und von den beiden frisch gebackenen Nobelpreisträgern Demis Hassabis und John M. Jumper entwickelt wurde.

 

Dieses Programm kann Proteinstrukturen aus ihren Aminosäureabfolgen vorhersagen. Das zweite ausgezeichnete Forschungsprogramm mit dem Namen „Rosetta“ des Preisträgers David Baker geht exakt den umgekehrten Weg: Rosetta entwirft neue Proteine, die nicht in der Natur vorkommen, und erforscht, welche Aminosäurenkombinationen und Sequenzen für dieses neu erdachte Protein benötigt werden.

 

Rosetta entwirft neue Proteine, die nicht in der Natur vorkommen

 

„Beide Entdeckungen können als echter Durchbruch gewertet werden und eröffnen enorme Möglichkeiten“, freut sich Heiner Linke vom Nobelpreis-Komitee. Mit David Bakers Entdeckung könnten zum Beispiel neue Antibiotika entwickelt werden oder Enzyme, die Plastik zersetzen oder – was sogar noch besser wäre – recyceln.

 

Möglich wäre auch die Kreation von proteinbasierten Stoffen, die Drogen wie Fentanyl oder Schadstoffe schnell und zuverlässig nachweisen. David Baker hat für seine Entdeckung noch weitere Ideen: „Unsere Methode sollte generell für den Nachweis giftiger hydrophober Verbindungen in der Umwelt nützlich sein. Ich selbst bin zum Beispiel sehr begeistert von der Idee eines Nasensprays aus kleinen Proteinen, das vor allen mög-lichen pandemischen Viren schützen würde.“

So außergewöhnlich wie die oben genannten Potenziale für Rosetta sind auch die Möglichkeiten für des KI-Programm AlphaFold2, dessen Entstehungsgeschichte allein schon den Stoff für einen Film liefern könnte: Seit 50 Jahren suchen Forscher nach einer Methode, die ohne die aufwendige Röntgenkristallographie aus vorgegebenen Aminosäureketten die dreidimensionale Struktur des Proteins vorhersagen kann.

 

Für diese Suche wurde sogar ein eigener internationaler Biochemie-Wettbewerb ins Leben gerufen. Der Wettstreit mit dem Namen CASP, Critical Assessment of Protein Structure Prediction, fand seit 1994 alle zwei Jahre statt und erhielt immer viel Zulauf. Nur die Ergebnisse stagnierten: Die Vorhersagen blieben ungenau, die angewandten Methoden erwiesen sich als wenig tauglich.

 

Das Problem galt in der Wissenschaft zunehmend als unlösbar. Bis der Schachmeister, KI-Pionier, Neurowissenschaftler und jüngst ausgezeichneter Nobelpreisträger Demis Hassabis am Wettbewerb teilnahm.

 

Sein interdisziplinärer Ansatz und der unverstellte Blick von außen förderte bereits beim ersten Versuch respektable Ergebnisse zutage. Seine Vorhersagequote war nicht schlecht, reichte aber noch immer nicht aus. Hassabis verbesserte und verbesserte, steckte jedoch in der Sackgasse.

 

KI und die Erforschung von Proteinstrukturen

 

Erst mit dem Einstieg des Physikers und Proteinfans John Jumper in seine Firma Deep Mind ging es plötzlich voran. Gemeinsam führten die beiden das KI-Programm AlphaFold2 in nur zwei Jahren zur heutigen Reife. Damit beginnt nun eine vollkommen neue Ära in der Erforschung von Proteinstrukturen.

 

Denn von nun an lassen sich viel gezielter Wirkstoffe gegen Krankheiten und neue Medikamente entwickeln. Es öffnen sich auch Türen zu neuen Forschungsgebieten. War bisher nur rund ein Drittel der menschlichen Proteine entschlüsselt, hat AlphaFold2 in Rekordzeit bereits fast für alle in unserem Organismus enthaltenen Proteine eine dreidimensionale Struktur errechnet.

 

Was bringt diese nobelpreiswürdige Entwicklung und dieses neue Wissen nun dem Endverbraucher, der im Supermarkt vor Regalen voller High-Protein-Produkten steht und nicht weiß, was er kaufen soll? Aktuell noch recht wenig.

 

Die Erforschung aller im menschlichen Körper befindlichen Proteine hat gerade erst begonnen. Bis Ergebnisse vorliegen, gilt die Qual der Wahl oder die ganz persönliche Neigung, welcher Gruppe man in der Proteinernährung Glauben schenken möchte.

Zwei Lager stehen sich hier derzeit gegenüber: Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung, kurz DGE, gibt wie auch andere internationale Gesundheitsorganisationen einen Tagesbedarf von 0,8 Gramm Eiweiß pro Kilogramm Körpergewicht an. Mit einer ausgewogenen Ernährung würde dieser Proteinbedarf in der westlichen Welt problemlos erfüllt.

 

Wieviel Protein braucht man täglich?

 

Deshalb seien „High-Protein-Produkte eher überflüssig“. Auch zweifelt die DGE an der Wirksamkeit der High-Protein-Diäten. Eine 2023 von der Gesellschaft beauftragte wissenschaftlichen Untersuchung zeigt, „dass bei bedarfsgerechter Energiezufuhr die täglich zugeführte Proteinmenge bei Erwachsenen das Körpergewicht, die Fettmasse und den Taillenumfang wahrscheinlich nicht beeinflusst.“

 

Das sehen andere anders. Allen voran die beiden Gallionsfiguren der amerikanischen Langlebigkeitsbewegung. der Neurologe Andrew Huberman und der Physiker Peter Attia entsprechen mit ihren muskelgestählten Körpern à la Arnold Schwarzenegger so gar nicht dem Klischeebild des bebrillten Wissenschaftlers im weißen Kittel, unterstreichen jedoch eindrucksvoll die Wirksamkeit ihrer Ratschläge mit dem eigenen, vor Gesundheit strotzenden Aussehen.

 

Beide empfehlen eine Proteintagesdosis, die mehr als das Doppelte der empfohlenen DGE-Ration beträgt: 1,6 bis 2,2 Gramm sollte man den US-Experten zufolge täglich zu sich nehmen, um gesund zu bleiben. Proteinmangel könnte, so Peter Attia, zu einem Verlust an Muskelmasse führen.

 

Was passiert, wenn man zu wenig Protein zu sich nimmt?

 

Zudem bestehe sehr wohl ein Zusammenhang zwischen der Proteinversorgung und Fettleibigkeit bzw. Gewicht. Gemäß der „Protein-Hebel-Theorie“ überessen wir uns und nehmen zu, wenn wir mit der Nahrung nicht ausreichend mit Proteinen versorgt werden.

 

Wer hat nun Recht? Welche Menge ist wirklich ausreichend? Wird die künftige Forschung, die auf die Nobelpreis-Erkenntnisse aufbaut, diese Antworten liefern? Vielleicht. Ziemlich sicher ist aber schon jetzt, dass andere Industrien die neuen Erkenntnisse sehr genau studieren werden.

 

Wie zum Beispiel das japanische Biotech-Unternehmen Spiber, dessen Slogan lautet: „Wir erforschen Proteine für eine bessere Zukunft“. Das auf die Entwicklung neuer Generationen von Biomaterialien spezialisierte Unternehmen hat es geschafft, aus Zuckerrüben und Mais bioabbaubare Polymere herzustellen.

 

Das Verfahren gleicht der Bierherstellung, nur dass bei Spiber die Endprodukte Harze, Filme oder Fasern sind, die zu unterschiedlichen Garnen für die Modeindustrie verarbeitet und als Ersatz für Seide, Kaschmir oder Polyester eingesetzt werden können.

 

Dies hat diverse Vorteile, wie der Spiber-Mitbegründer Kazuhide Sekiyama erklärt: „Nachhaltigkeit ist ein zentraler Bestandteil unserer Mission. Die von uns gebrauten Proteinfasern belasten im Vergleich zu herkömmlichen Garnen weniger die Umwelt. Sie sind biobasiert und biologisch abbaubar, verursachen weniger Treibhausgase, sparen Wasser und minimieren die Flächennutzung. Auch gibt es keine Auswirkungen auf die Tierwelt.“

 

Die von uns gebrauten Proteinfasern belasten im Vergleich zu herkömmlichen Garnen weniger die Umwelt

 

Der letzte Punkt überzeugte die britische Modedesignerin und Veganerin Stella McCartney dazu, das Material auszuprobieren. Auch Burberry und The North Face sind bereits Kunden. Issey Miyake entwarf aus dem Spiber-Stoff das Showpiece, mit dem Popsängerin Hikaru Utada bei ihrer Jubiläumstour auf der Bühne glänzte.

 

Das regenbogenfarbene und futuristische Kleid aus plissierten und gebrauten Proteinen beweist, wie viel Potenzial in den unsichtbaren Eiweißen steckt. Es ist abzusehen, dass wir bald noch sehr viel mehr über sie erfahren werden.

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