28. Juni 2023

Margit Hiebl

Gentests: Alles eine Frage der Gene?

Verwandte finden, Herkunft erforschen oder einfach gesünder leben? Millionen sind weltweit mit den unterschiedlichsten Gentests auf der Suche nach ihrer Vergangenheit – oder ihrer Zukunft

© Trunk Archive/Adrian Samson

Für die erste Gensequenzierung brauchte man 12 Jahre, heute dauert der Vorgang 12 Stunden

„Meet your genes“, lautet die lockere Aufforderung des Anbieters 23andMe. Und sogleich stellt sich eine fröhliche, bunte, durch Schauspieler:innen verkörperte Truppe persönlich vor: das ACTN3, das den Muskelaufbau beeinflusst; das BTBD9, das die Bewegung im Schlaf beeinflusst; zwei weitere, die das Risiko für Zöliakie steigern; und eines, das darauf hindeutet, dass ein Vorfahre Wikinger war. Und so weiter.

 

Gentests für zu Hause werden immer beliebter

 

Das Geschäft mit den Gentests für zu Hause boomt. Anbieter wie 23andMe, Ancestry oder MyHeritage verkaufen mehr DNA-Selbsttests denn je und besitzen so eine der größten Sammlungen menschlichen Erbguts. Und das ist höchst einträglich: Der globale Markt, so die Schätzungen von BIS Research, wird bis 2028 auf 6,4 Milliarden Dollar wachsen, bei einer Wachstumsrate von jährlich 23 Prozent. Nicht uninteressant: Eine der Gründerinnen von 23andMe ist Anne Wojcicki, die aus einer Wissenschaftlerfamilie stammt und auf dem Stanford-Campus aufwuchs. Eine ihrer Schwestern, Susan, bis vor Kurzem Youtube-CEO, hatte einst ihre Garage an Larry Page und Sergey Brin vermietet, die dort Google gründeten. Mit Letzterem war Anne verheiratet, er gehörte auch zu den ersten Investoren von 23andMe.

 

DNA-Daten sind das neue Gold

 

Inzwischen erwarb der Pharmakonzern GlaxoSmithKline Anteile im Wert von 300 Millionen Dollar. Der Stammbaumspezialist Ancestry – ursprünglich gegründet, um Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Mormonen in den USA festzustellen – wurde inzwischen vom US- Finanzinvestor Blackstone übernommen, der dies möglicherweise auch nicht nur getan hat, um entfernte Cousins aufzuspüren. Denn DNA-Daten sind das neue Gold. Die großen Anbieter haben inzwischen auch deutsche Webseiten, die den europäischen Datenschutzstandards unterliegen. Dennoch gilt, bevor man sich entscheidet, seine DNA in die Welt zu senden: sorgfältig recherchieren und ganz genau lesen, wofür man seine Zustimmung erteilt.

 

Gelockt wird mit dem altruistischen Ansatz, Teil eines Größeren zu werden und die Medizin von morgen voranzutreiben. Was nicht unbedingt gelogen ist, denn inzwischen kooperieren in den USA Universitäten, Stiftungen und Pharmakonzerne. Doch man selbst hat vielleicht nur Stoff für einen Party-Talk, ob man nun zehn Prozent indischer oder irischer Abstammung ist.

 

Wie gut sind Gentests für zu Hause?

 

Kritiker:innen bemängeln außerdem, dass die Ergebnisse der verschiedenen Anbieter stark voneinander abweichen und nicht valide genug sind. Auch weil bei den Direct-to-Consumer-Tests nicht das gesamte Genom untersucht wird, sondern nur stichprobenartig SNPS. Getestet wird nur über eine Speichelprobe. Für einen Gentest im Labor wird in der Regel hingegen Blut abgenommen, weil es mehr Aussagekraft hat, und in vielen Fällen wird dabei das gesamte Genom untersucht. Das schlägt sich nicht nur in der Qualität des Ergebnisses, sondern auch im Preis nieder: Während Tests im Internet schon ab 70 Euro erhältlich sind, kostet eine Sequenzierung des gesamten Genoms im Labor bis zu 3500 Euro.

 

Gentests für Verwandtensuche funktionieren

 

Beim Thema Herkunft oder Verwandtschaft funktioniert die Light-Variante ganz gut. Für tiefere Einblicke ins Gen-Geschehen und wie es Gegenwart oder Zukunft beeinflusst, ist die Laborvariante sicher aufschlussreicher. Aber will man wirklich alles wissen? Und was bringt es einem dann? „Ein genetischer Rundumschlag ist nicht immer sinnvoll und kann mehr Verwirrung als Klarheit bringen“, sagt Dr. Leon Holzscheiter, Facharzt für Humangenetik und Laboratoriumsmedizin beim Synlab MVZ in München.

Menschen unterscheiden sich nur in 0,1 Prozent!

 

Grundkurs Genetik

 

12 Jahre hat es im Rahmen des internationalen „Human Genom Project“ gedauert, unsere genetische Information aufzuschlüsseln, bis 2003 feststand: Zu 99,9 Prozent sind alle Menschen identisch. Wir unterscheiden uns nur in 0,1 Prozent!

 

Angefangen hat alles mit dem tschechischen Priester Gregor Mendel, der beobachtete, wie sich die Merkmale von rot oder weiß blühenden Pflanzen von Generation zu Generation weitergeben. Wie DNA ungefähr aussieht, weiß heute jede:r (Stichwort: Doppelhelix). Entdeckt hat dies die englische Chemikerin Rosalyn Franklin. Dafür gab es 1962 einen Nobelpreis, leider nicht für sie, sondern für die Molekularbiologen Francis Crick und James Watson, die ohne ihr Wissen auf ihren Ergebnissen aufgebaut hatten. Kleiner Blick ins Mikroskop: Schaut man in einen Zellkern, sieht man erst eine Art Wollknäuel. Aufgedröselt erkennt man 46 Abschnitte, die Chromosomen. Genauer gesagt 23 Paare – 22 gleiche und eines, das bei Mann und Frau anders aussieht. Die zwei Stränge werden durch Basenbausteine zusammengehalten. Vier Basen gibt es – Adenin, Thymin, Cytosin, Guanin –, von denen immer zwei zusammenpassen. A mit T und C mit G. Mit diesen vier Buchstaben ist unser gesamtes Genom geschrieben. Um diese Buchstabenfolgen lesen zu können, gab es verschiedene Ansätze: In den 1970er-Jahren setzte sich die „Sanger-Sequenzierung“ durch, benannt nach dem britischen Biochemiker Frederic Sanger, der dafür auch einen Nobelpreis bekam.

 

Obwohl noch mühsam, führte es die Forscher im „Human Genom Project“ zum Ziel: Heute wissen wir, dass das Genom aus circa drei Milliarden Buchstabenpaaren besteht. Und wir unterscheiden uns nur in etwa jedem tausendsten Buchstaben. Diese Stellen nennt man SNPs (Single Nucleotide Polymorphisms). Sie machen 90 Prozent der genetischen Unterschiede aus. „Um zu bewerten, was diese Variation macht und ob sie entscheidend ist, brauchte man Referenzdaten, am besten aus einem möglichst großem Datenpool“, so Leon Holzscheiter. Hier brachte das humane Genom-Projekt die Forschung entscheidend weiter. Was früher 12 Jahre gedauert hat, wird heute mit dem Next Generation Sequencing (NGS) – einer Technik, mit der man DNA-Fragmente in gigantischer Zahl parallel sequenziert – in weniger als 12 Stunden gelesen und mit dem Referenzgenom verglichen. Also deutlich schneller und kostengünstiger. Und trotzdem genau.

 

Wirkt ein Medikament, das das Leben verlängern soll, tatsächlich? Mal sehen.

Über Prognosen und Diagnosen nach Gentests

 

Wer einen Gentest macht, möchte meistens wissen: Hab ich’s, krieg ich‘s, und kann ich etwas dagegen tun? Verein- facht gesagt: Das hängt davon ab, wie „hart“ die genetische Veränderung ist. Zu den eindeutigen Gentests gehört die klassische Chromosomenanalyse. Hier kann man unter dem Mikroskop klar erkennen, ob es Veränderungen der Struktur oder Zahl der Chromosomen gibt. Ein anderes Beispiel für einen genetische Test mit sehr hoher Aussagekraft ist der zur Diagnose bzw. Vorhersage von „Chorea Huntington“, einer erblichen neurologischen Erkrankung, die letztlich zum Tode führt. „Eine prädiktive Untersuchung bei einem gesunden Menschen, kann hier zu hundert Prozent sicher vorhersagen, ob man daran erkrankt“, sagt Holzscheiter. Abwenden kann man es bis dato nicht.

 

Was ist der „Jolie-Effekt“?

 

Anders ist das bei sogenannten „Actionable Genes“, wie die berühmten Gene BRCA 1 und 2. Krankhafte Veränderungen dieser Gene bringen ein hohes Risiko mit sich, an Brust- oder Eierstockkrebs zu erkranken. Risiko heißt: kann eintreffen, muss aber nicht. Träger:innen solcher Genveränderungen haben daher Handlungsoptionen. Angelina Jolie hat sich, aufgrund ihres erhöhten familiären Krebsrisikos, für eine beidseitige Mastektomie entschieden. Viele Frauen folgten ihr, bekannt auch als „Jolie-Effekt“. Inzwischen gab es eine Neubewertung, außerdem wurden 12 weitere Gene, die mit Brustkrebs zusammenhängen, gut charakterisiert. Grundsätzlich setzt man vor allem auf intensivierte Früherkennung und engmaschiges Monitoring. Ein Gentest hilft hier in der Prävention. Umgekehrt gilt aber auch: „Ist das Ergebnis der Untersuchung unauffällig, heißt das nicht, dass eine Frau nicht an Brustkrebs erkranken kann – es gibt nur keinen Hinweis auf spezifische erbliche Vorbelastung“, erklärt
Humangenetiker Holzscheiter.

 

Viele Erkrankungen, wie Diabetes Typ 2, sind eine Kombination aus verschiedenen kleinen genetischen Veränderungen – jede für sich nicht so gravierend, aber in der Summe eventuell problematisch – sowie von äußeren Einflüssen. Das heißt, es gibt eine teils ausgeprägte erbliche Komponente, ob es wirklich zur Erkrankung kommt, hängt aber auch stark vom Lebensstil ab. Hier liegt der prädiktive Wert klar darin, gesünder zu leben und damit eine Erkrankung abzuwenden oder hinauszuschieben.

 

Gentest für Alzheimer

 

Auch bei Alzheimer gibt es genetische Merkmale – ihr prädiktiver Wert ist aber laut Holzscheiter begrenzt, ebenso wie im Augenblick noch die Möglichkeiten der Intervention. Hier sieht Holzscheiter das Problem, dass Menschen mit einer Aussage eher Angst gemacht wird. Nicht abschließend geklärt ist bislang auch der Stellenwert von Lifestyle-Genomics beispielsweise zur Bestimmung des biologischen Alters. Noch sind die Methoden, das biologische Alter abzuschätzen, rückblickend evaluiert worden. Ob eine Vorhersage eintritt oder ein Medikament, das das Leben verlängern soll, tatsächlich wirkt, wird sich prospektiv ja erst in Jahrzehnten herausstellen. „Daher bedarf es Markern, die das ad hoc oder früher vermitteln. Ob mit den bisher etablierten Markern tatsächlich das gemessen wird, was gemessen werden soll, sei noch etwas dahingestellt“, so Holzscheiter.

 

„Es gibt zu jedem Zeitpunkt ein Recht auf Nichtwissen.“

Gentests: Fluch oder Segen?

 

Beides. Und mit ordentlich Potenzial in jede Richtung. Gentests können Leben retten, zerstören oder der sprichwörtliche Blick in die Glaskugel sein. Was nützt es mir zu wissen, dass ich eine Genvariante habe, aber nur an Symptomen herumdoktern kann? „Prädiktive Genetik macht Sinn, wenn man etwas dagegen tun kann“, erklärt Dr. Leon Holzscheiter. „Um Erkrankungen behandeln zu können, muss man die Ursache kennen.“ Zwar verstehe man immer mehr Ursachen, ist aber meist noch nicht in der Lage, sie kasual zu behandeln. Hier liegt die Chance für die Zukunft: mehr und bessere genetisch basierte Interventionsmöglichkeiten zu finden. Das fängt bei der DNA an und geht bis zum spezifischen Medikament im Sinne einer personalisierten Medizin. Und dazu braucht es natürlich auch eine gute Datenbasis – mit der sorgsam umgegangen werden sollte.

 

Dem gegenüber stehen ethische Fragen: Wie weit und zu welchem Zeitpunkt darf man ins Genom eingreifen? Aber auch: Was macht ein positiver Testbefund mit einem? Sicher ist bei der genetischen Beratung für interdisziplinären Beistand gesorgt – aber es ist nun mal im Kopf. „Für manche ist es wichtig, über eine genetische Veranlagung Bescheid zu wissen, auch wenn es noch keine Interventionsmöglichkeiten gibt, weil sie ihr Leben dann anders gestalten“, berichtet Holzscheiter. Und wenn man es gar nicht wissen will? „Es gibt zu jedem Zeitpunkt ein Recht auf Nichtwissen.“ Dieses Recht beinhaltet auch, das Kuvert mit dem Ergebnis nicht öffnen zu lassen. Etwa wenn Testbefunde auch Aussagen über biologische Verwandte miteinschließen.

 

Risiken von Gentests

 

Eine weitere Gefahr sieht das Deutsche Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften auch in einer „Genetisierung“ der Lebenswelt, in der alle Unterschiede zwischen Individuen auf ihre DNA reduziert werden.
Und beim Thema Alterung stellt sich zudem die fast philosophische Frage: Ist das eine Krankheit oder einfach ein normaler Prozess der Natur? Und die hätte, so Humangenetiker Holzscheiter, kein Problem gehabt, uns unsterblich zu machen. „Aber sie hat es wohl für sinnvoller erachtet, nicht den einen Organismus immer weiterleben zu lassen, sondern immer wieder durch eine Kombination oder neue Paarung von Genen Leben aufkommen und wieder verschwinden zu lassen.“ Der Gedanke, nicht ewig hier zu sein, hat für ihn, der übrigens bei sich selbst noch keinen Gentest machen ließ, durchaus etwas Tröstliches. „Bei Unsterblichkeit wäre man wohl irgendwann gezwungen selbst zu entscheiden, wann das eigene Leben endet. Für mich eine sehr unangenehme Vorstellung.“

Wer einen Gentest machen lassen möchte, sollte auf die Qualität des Labors achten

Gentests und Datenschutz

 

Nicht alle teilen gern ihre privaten Daten. Deshalb wachen in Deutschland über Laborgentests Datenschutz und Gendiagnostikgesetz. Wie alle anderen medizinischen Daten sind auch die aus Gentests geschützt. Sie müssen 10 Jahre lang aufbewahrt und danach vernichtet werden. „Es sei denn, der Patient gibt den Auftrag, sie länger aufzubewahren – dann sind es in der Regel 30 Jahre“, so Leon Holzscheiter. Werden Daten zu Forschungszwecken verwendet, wie bei Studien, muss der Teilnehmer einverstanden sein. Bei Tests, die ins Ausland geschickt werden, ist das leider nicht immer so transparent. Genetische Beratungen dürfen in Deutschland nur von Genetiker:innen oder Fachärzt:innen mit entsprechender Zusatzqualifikation gemacht werden. Die Beratung soll ergebnisoffen sein, d.h. so gut informieren, dass Patient:innen selbst eine Entscheidung treffen können, wie sie sich gegebenenfalls untersuchen und behandeln lassen – dann in Absprache mit entsprechenden FachärztInnen. Auch mit schwierigen Diagnosen wird niemand allein gelassen, denn es besteht eine Beratungspflicht mit Spezialist:innen, beispielsweise aus der Humangenetik, Neurologie oder Psychiatrie.

 

Wer einen Gentest machen lassen möchte, sollte auf die Qualität des Labors achten, rät Humangenetiker Dr. Leon Holzscheiter. Ein Blick auf die Website hilft: Hier sollte die Urkunde der Deutschen Akkreditierungsstelle DAkkS hinterlegt sein. Auch gibt es eine Richtlinie der Bundesärztekammer, in der Qualitätsnormen für Labore geregelt sind. Ein genetischer Test oder eine Diagnose darf weder von einer Versicherung noch von einem Arbeitgeber verlangt werden. So soll eine genetische Diskriminierung ausgeschlossen werden

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