Wie hoch sind eigentlich meine Blutzuckerwerte? Eine Frage, die sich nicht nur Diabetiker:innen stellen sollten. Denn der Glukose-Check kann ein echter Lifechanger für uns alle werden. Ein Selbsttest
© Jan von Holleben / Trunk Archive
Man sieht sie immer häufiger: Menschen mit einem Knopf am Arm. Genauer gesagt, einem Sensor, der minütlich Blutzuckerwerte misst und auf eine App überträgt. So lässt sich jederzeit und überall checken, ob und wie das Eis, der Lunch oder der 0-Minuten-Walk sich auf den Glukosewert ausgewirkt hat. Und das interessiert inzwischen nicht nur Diabetiker:innen. Auch Sportler:innen und Biohacker tracken ihre Blutzuckerwerte.
Social-Media-Größen wie „Glucosegoddess“ Jessie Inchauspé mit 1,6 Millionen Followern und digitale Ernährungsprogramme wie „MillionFriends“ oder „Hello Inside“ sprechen gar von Lifechange durch Glucose-Check. Die Idee dahinter ist simpel: Der Körper ist einzigartig, also sollte auch seine Ernährung so sein. Was für dich gut ist, muss nicht gut für mich sein.
Was für mich gut ist, warum ich mich – auch nach leichten Speisen – oft schlapp fühlte und was das mit meinem Blutzucker zu tun hat, wollte ich genauer wissen. Also bin ich unter die Knopfträger gegangen. „Wissenschaft trifft Bauchgefühl“, der Slogan meines Programms von „MillionFriends“, das am Institut für Ernährungsmedizin der Universität Lübeck entwickelt wurde, klingt vielversprechend.
Zunächst appliziere ich einen üblichen Blutzuckersensor am Oberarm. Obwohl dabei ein mikrofeines, flexibles Filament ins Gewebe eingebracht wird und dort auch verbleibt, tut das nicht weh und stört auch beim Duschen, Schlafen oder Sport nicht.
Der Sensor wird mit einer App („LibreLink“) gekoppelt. Diese schickt die Zuckerwerte an eine zweite App – meinen digitalen Ernährungsberater von „MillionFriends“. Dort trage ich 14 Tage lang vorgegebene und eigene Testmahlzeiten, Challenges genannt, ein und außerdem sportliche Aktivitäten, Schlafzeit und Befinden.
Hier werden auch meine Blutzuckerreaktionen auf alles ausgewertet. Warum ist das so interessant? Wie der Blutzuckerspiegel auf ein Lebensmittel reagiert, zeigt, wie gut der Stoffwechsel mit ihm klarkommt. Anzeichen für eine ausgewogene Mahlzeit ist, wenn die Blutzuckerkurve möglichst lange flach bleibt.
Damit ist man auch länger satt und leistungsfähiger. Dass der Blutzuckerspiegel auch bei Nicht-Diabetiker:innen immer Höhen und Tiefen hat, ist normal, ist aber auch abhängig von Ernährung, Bewegung, Stimmung und Stress.
Zu starke und ständige Ups & Downs aber werden zur Belastung und zum Gesundheitsrisiko: Der überschüssige Zucker wird nach einem starken Anstieg als Fett eingelagert. Ein starker Abfall führt zu Heißhungerattacken und damit übermäßiger Kalorienzufuhr. Auf die Dauer-Achterbahnfahrt folgen Abgeschlagenheit, Müdigkeit und Konzentrationsmangel.
À la longue stellen sich Entzündungsreaktionen, vorzeitige Alterung und Diabetes ein. 14 Tage und 127 Einträge später bekomme ich meine Auswertung mit Top- und Flop-Mahlzeiten. Ich erfahre, dass Reis als Beilage für mich abends besser funktioniert als mittags – das erklärt, warum Sushi mich mittags so platt macht.
Pasta wiederum geht mittags besser. Zu meinen erstaunlichsten Erkenntnissen gehört: Fett hält meinen Blutzucker offenbar stabiler als Eiweiß. So kann ich zum Beispiel mit Avocado auf dem Toast die Blutzuckerantwort auf Carbs besser abmildern als mit Quark. Ebenso wenn ich Kaffee dazu trinke.
Und ich sehe, dass Porridge mit Obst meine Kurve flacher hält als mit Milch. Ebenso Banane gegenüber Apfel. Und in Sachen Naschwerk: Gummibärchen sind für mich besser als Schokolade – Kekse und Eis schneiden sogar noch besser ab.
Auch eine Bar-Challenge hatte ich mir gegönnt und Gin Tonic sowie Rotwein gegen Johannisbeerschorle antreten lassen. Ergebnis: Gin Tonic und Rotwein gewannen klar. Doch hier folgt die Ernüchterung: Die flache Kurve beweist nur, dass die Leber sich erst um Wichtiges – also um den Abbau von Toxinen – kümmert, danach um den Zucker.
Auch wenn jeder auf Lebensmittel anders reagiert, gibt es doch ein paar Hacks, die laut Glucose-Profis die Kurve allgemein flacher halten: Essen in der richtigen Reihenfolge „verkleidet“ die Kohlenhydrate. Bedeutet: mit Salat oder Gemüse beginnen, dann Fett und Proteine, dann Kohlenhydrate und Zucker – das Dessert also gleich im Anschluss.
Oder: 20 Minuten vor dem Essen ein Glas Wasser mit einem Esslöffel Apfelessig trinken – der verhindert, dass Kohlenhydrate schnell aufgespalten werden und hält so die Kurve flach. Geht man dann noch 10 Minuten um den Block, ist man auf dem richtigen Weg, denn auch Bewegung senkt den Blutzuckerspiegel. Alles in allem ein spannendes Experiment, das ich wiederholen werde, denn es gibt noch so viel zu entdecken.
Auch in der Wissenschaft: Neue Langzeituntersuchungen zeigen, dass hohe Glukosewerte im mittleren Alter das Alzheimer-Risiko erhöhen, die Reduzierung mindert die Auswirkungen. Eine andere Studie deutet darauf hin, dass hohe Peaks bei Depression mit einer Verstärkung der Symptome einhergehen.
Bei Migräne legen Studien nahe, dass stark schwankende Blutzuckerreaktionen in Zusammenhang mit Anfällen stehen. Welche Lebensmittel den Ausschlag geben, ist individuell und kann über eine digitale Gesundheitsanwendung (zum Beispiel „sinCephalea“) herausgefunden werden.