12. August 2024

Margit Hiebl

Impostor-Syndrom: Alles nur Fake?

Sie haben Erfolg – und doch ständig Angst, ihre vermeintliche Kompetenz könnte als Hochstapelei entlarvt werden. Typisch für Menschen mit dem sogenannten Impostor-Syndrom

Maske

@ Adobe Stock

Das Impostor-Syndrom wird auch als Hochstapler-Syndrom bezeichnet. Die Betroffenen leiden unter starken Selbstzweifeln

Willkommen im Club, könnte man sagen. Einem Club mit bester Gesellschaft. Michelle Obama, Charlize Theron, Jennifer Lopez oder Tom Hanks sind einige der prominentesten Mitglieder. Sie alle haben öffentlich gebeichtet, sich häufig zu fühlen wie jemand, der sich den Erfolg erschlichen hat, wie ein(e) Hochstapler(in) – ein Gefühl, das dem Impostor-Syndrom seinen Namen gab.

 

Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird die verbreitete Bezeichnung „Syndrom“ inzwischen vermieden, da es sich nicht, wie das Wort nahelegt, um eine Krankheit handelt. Hier spricht man von einem Phänomen oder Selbstkonzept. Beschrieben wurde dieses erstmals 1978 von den amerikanischen Psychologinnen Pauline Rose Clance und Suzanne Imes.

 

Sie hatten an ihrer Fakultät an der Georgia State University in Atlanta bei vielen Studentinnen beobachtet, dass sie trotz herausragender Leistungen häufig das Gefühl hatten, ihren Studienplatz nicht verdient zu haben, und Angst entwickelten, das Studium nicht zu schaffen.

 

Eine Studie ergab, dass sie ihren Erfolg oft eher auf äußere Umstände zurückführten als auf ihre Kompetenz

 

Auch eine darauffolgende Studie mit anderen Studentinnen und Absolventinnen ergab, dass sie ihren Erfolg oft eher auf äußere Umstände zurückführten als auf ihre Kompetenz. Inzwischen haben weitere Forschungen bestätigt, dass davon tatsächlich besonders Menschen betroffen sind, die als erfolgreich und hochqualifiziert gelten.

 

Impostor-Syndrom – wer ist betroffen?

 

Ein interessantes Spannungsfeld, bringt man doch Phänomene wie geringen Selbstwert nicht gerade mit Erfolgreichen und Führungskräften in Verbindung. Auf der anderen Seite: Selbstzweifel befallen, gerade in herausfordernden Zeiten wie diesen, viele Menschen. Sind wir dann nicht alle ein bisschen Hochstapler?

 

„Nein, hier handelt es sich mehr als um nur Selbstzweifel, Unsicherheit und Versagensangst“, erklärt Prof. Dr. Sonja Rohrmann, Autorin des Buches „Wenn große Leistungen zu großen Selbstzweifeln führen. Das Hochstapler-Selbstkonzept und seine Auswirkungen“.

 

„Das Hochstapler-Selbstkonzept ist ein komplexes Persönlichkeitskonstrukt, das bei objektiven Leistungserfolgen ein gegenteiliges subjektives Erleben im Rahmen verschiedener maladaptiver Persönlichkeitsfacetten beinhaltet, die mehr als ein Konglomerat etablierter Persönlichkeitsmerkmale darstellen“, so die Leiterin der Abteilung für Differentielle Psychologie und Psychologische Diagnostik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

 

Empirisch ausgewiesene Faktoren in diesem Konstrukt sind: Neurotizismus (insbesondere Ängstlichkeit und Depressivität), geringer Selbstwert, geringe Selbstwirksamkeitserwartung, falsch verstandener und überzogener Perfektionismus sowie das Gefühl, in einer bestimmten Umgebung nicht zu passen.

 

Man geht davon aus, dass insgesamt etwa 70 Prozent der Menschen mindestens einmal im Leben unter dem Phänomen leiden

 

Diese Merkmale können sich auch gegenseitig beeinflussen – denn emotionale Labilität kann beispielsweise wiederum Auswirkungen auf den geringen Selbstwert oder Selbstwirksamkeit haben. Trotzdem wird das Hochstapler-Selbstkonzept als eigenständiges Konstrukt betrachtet.

 

Leiden eher Männer oder Frauen am Impostor-Syndrom?

 

Inzwischen geht man davon aus, dass insgesamt etwa 70 Prozent der Menschen mindestens einmal im Leben unter dem Phänomen leiden, Männer wie Frauen. Etwa die Hälfte der Führungskräfte haben schon Erfahrung damit gemacht – laut einer Studie der Beratungsgesellschaft KPMG sollen etwa 75 Prozent der weiblichen Führungskräfte verschiedener Branchen davon betroffen sein.

 

Gewaltige Zahlen, die deutlich machen, dass wahrscheinlich mehr Menschen eine Impostor-Thematik haben, als man denkt. Und das, weil im eigenen Umfeld selten Betroffene offen damit umgehen und viele ihre Selbstzweifel wohl für sich behalten. Dennoch aber perfekt performen.

Was sind die Symptome des Impostor-Syndrom?

 

Doch wie schaffen es Impostors trotz der inneren Zerrissenheit erfolgreich zu sein? Weil sie, im Gegensatz zum echten Hochstapler, in Wahrheit ziemlich gut in dem sind, was sie tun. „Es handelt sich um außergewöhnlich kompetente Personen, deren Persönlichkeitsmerkmale es ihnen ermöglichen, ihre Angst vor dem Versagen und dem Bedürfnis, besonders zu sein, in einen ausgeprägten Antrieb und eine starke Leistungsmotivation umzuwandeln“, erklärt Prof. Dr. Rohrmann.

 

„Sie sind bereit, außergewöhnlich hart zu arbeiten, auch ihr Hang zum Perfektionismus trägt zu sehr positiven Arbeitsergebnissen bei.“ Ein Erfolg, der aber hart erkauft ist, konstatiert die Expertin. „Personen mit Impostor-Selbstkonzept überschreiten häufig ihre Grenzen, und die Arbeit nimmt einen so großen Anteil in ihrem Leben ein, dass keine Work-Life-Balance mehr gegeben ist.“

 

Personen mit Impostor-Selbstkonzept überschreiten häufig ihre Grenzen

 

 

Die Zeit, die für den Job draufgeht, fehlt für Hobbies, Freunde, Familie. Der Dauerstress laugt aus und kann zu Burnout bis hin zur Depression führen. Auch körperlich macht er sich bemerkbar: Nicht selten sind Kopfschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden, Schlafstörungen und sogar Bluthochdruck die typischen Begleiterscheinungen.

 

Wo liegen die Ursachen des Impostor-Syndrom?

 

Doch wie kommt es zu so einem Zerrbild der eigenen Wahrnehmung? Das ist meist ein Wechselspiel verschiedener Faktoren. Zum einen liegt es, wie beschrieben, in der Persönlichkeitsstruktur. Häufig wird der Grundstein schon in der Familie gelegt, berichtet Rohrmann. Etwa wenn ein Kind immer das Gefühl vermittelt bekommt, für gute Leistungen und nicht um seiner selbst willen geliebt zu werden – also eine hohe Leistungs- und Wettbewerbsorientierung einen leistungsabhängigen Selbstwert bedingt.

 

Häufig wird der Grundstein schon in der Familie gelegt

 

Ein anderes Beispiel: Einem nahen Mitglied in der Familie wird die Rolle des „Intelligenten“ zugeschrieben, dem Impostor wird aber vermittelt, das hübsche, einfühlsame oder soziale Kind zu sein. Zweifel an der eigenen Kompetenz können zudem entstehen, wenn bisher niemand in der Familie studiert hat und die betroffene Person als Erste eine akademische Laufbahn einschlägt – sich also in einem ungewohnten Umfeld bewegt.

 

Und noch etwas findet man häufig in Impostor-Biografien: das Bestreben, die emotionalen Bedürfnisse ihrer Eltern zu erfüllen – dass also, im Sinne einer Parentifizierung, der Traum vom Aufstieg von einer Generation in die nächste gegeben wird. Das Kind versucht, den Erwartungen seiner Eltern so gut wie möglich zu entsprechen.

 

Woran erkennt man selbst, ob man zum Club der Hochstapler gehört? Typische Merkmale sind: das Gefühl, in Wirklichkeit gar nicht so kompetent zu sein wie andere annehmen. Die Frage „bin ich gut genug?“. Die Neigung, Erfolg äußeren Faktoren wie gutes Timing, Charme, Glück oder einer Quote zuzuschreiben. Und natürlich: die Angst, eines Tages aufzufliegen und an einer Aufgabe zu scheitern – und dann wissen es alle.

 

Woran erkennt man, dass man am Impostor-Syndrom leidet?

 

Wichtig aber ist auch die Unterscheidung: Nicht jeder gesunde Selbstzweifel ist ein Zeichen für eine Impostor-Thematik – nur wenn er im Lauf der Zeit eher zunimmt. Wie ausgeprägt die Neigung ist, lässt sich mit speziellen Fragebögen ermitteln – etwa dem „Clance IP Scale“ von Paula Rose Clance oder dem „ISF Impostor-Selbstkonzept Fragebogen“, den Sonja Rohrmann und Kolleginnen für den arbeits- und organisationspsychologischen oder klinischen Bereich entwickelt haben.

 

Nicht jeder gesunde Selbstzweifel ist ein Zeichen für eine Impostor-Thematik

 

Er beinhaltet 15 Aussagen, mit denen man sich selbst oder seine Gefühle in Bezug auf persönliche oder berufliche Leistungen und Erfolge beschreibt. Hier ein paar Beispiel-Antworten: Ich vermeide, wenn möglich, Situationen, in denen ich von anderen beurteilt werde. Oder: Obwohl ich bereits auf wesentliche Erfolge zurückblicken kann, habe ich die Befürchtung, in Zukunft die Erwartungen von anderen nicht erfüllen zu können.

 

Und: Ich kann mich viel besser an Situationen erinnern, in denen ich schlechte Leistungen erbracht habe, als an Situationen, wo mir gute Leistungen gelungen sind. Die Aussagen werden in einer Skala von „trifft überhaupt nicht zu“ bis hin zu „trifft sehr zu“ eingeordnet, und daraus wird eine Punktezahl ermittelt. Das Ergebnis des Tests kann dann eine Grundlage zu einer ersten Selbsteinschätzung oder für ein Gespräch mit einem Profi sein.

 

Zu Coaching oder einer Psychotherapie rät Prof. Dr. Rohrmann, wenn starker Leidensdruck entsteht. „Das heißt, wenn die betroffene Person über ein normales Maß hinaus unter Minderwertigkeitsgefühlen oder Versagensängsten bis hin zu Burnout und Depressionen leidet. Oder wenn die Abweichung des emotionalen beziehungsweise kognitiven Erlebens so stark ist, dass es durch den Druck zu starken Beeinträchtigungen im Alltag kommt.“

 

Als Erste-Hilfe-Maßnahmen empfiehlt die Expertin, ein Tagebuch für Erfolge und Fortschritte zu führen

 

In der Therapie werden dann die dysfunktionalen Gedanken oder verzerrten Denkmuster und Verhaltensweisen wie exzessiver Arbeitsstil, überzogener Perfektionismus oder Hang zur Prokrastination identifiziert und verändert. „Ziel ist es, ein Selbstwertgefühl aufzubauen, das unabhängig von der Bewertung durch andere funktioniert.“

 

Wie kann man das Impostor-Syndrom behandeln?

 

Was kann man selbst tun? Als Erste-Hilfe-Maßnahmen empfiehlt die Expertin, ein Tagebuch für Erfolge und Fortschritte zu führen – denn, diese schriftlich festzuhalten, trägt dazu bei, sie realistischer zu bewerten. Aber auch darüber reden hilft – vielleicht sogar mit Kollegen, die einen bei der Veränderung seiner Denkmuster unterstützen.

 

Außerdem: den Umgang mit Komplimenten verändern – nicht herunterspielen, sondern einfach mal danke sagen. Und: Herausforderungen immer annehmen – trotz der Ängste (an denen kann man schließlich arbeiten). Hilfreich kann auch sein, das Umfeld mal genauer anzuschauen: Denn auch Rassismus, Sexismus oder Vorurteile können ein Gefühl der Unzulänglichkeit auslösen oder verstärken.

 

Den Umgang mit Komplimenten verändern – nicht herunterspielen, sondern einfach mal danke sagen

 

Dann muss womöglich eher daran gearbeitet werden als am eigenen Mindset. Wer also unter zunehmendem Leistungsdruck und massiven Selbstzweifeln leidet, sollte möglichst schnell abklären, ob eine Impostor-Thematik dahinter steckt oder nicht. Dann kann frühzeitig gegensteuert oder ein Leidensweg beendet werden.

 

Damit eine Beförderung nicht zur Überforderung wird; man auch als Führungskraft Schwächen zugeben kann und so noch souveräner auftritt; wenn eine berufliche Neuorientierung eine Weiterentwicklung ist; oder man sich als Selbstständiger nicht unter Wert verkauft. Denn Rückzug oder Dienst nach Vorschrift liegen nicht im Wesen eines klassischen Impostors.

 

 

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