Man kann auch die Kehrseite betrachten. Im Zusammenhang mit der Heilkunst gibt es ja auch den Begriff Kunstfehler.
Detlev R.H. Breyer: Ich denke, man muss den Begriff Kunstfehler von dem Begriff Komplikation unterscheiden. Kunstfehler heißt, wir handeln als Ärzte gegen ärztliche Empfehlungen und evidenzbasierte Medizin und machen, was wir wollen. Eine Komplikation ist etwas, was uns allen passieren kann – auch wenn wir uns noch so anstrengen. Schließlich geht es um Menschen. Und der Mensch ist kein Stück Metall mit definierter Dichte, in den ich ein Loch bohre mit einem definierten Bohrer. Ja, es gibt Komplikationen, aber davon muss man Kunstfehler unterscheiden, und man muss Patienten vor der Operation dezidiert aufklären, damit sie eine persönliche Nutzen-Risiko-Abwägung durchführen können.
Michaela Montanari: Im Großen und Ganzen kann ich mich da anschließen. Wir sprechen von Kunstfehler, wenn fachliche Standards, die für eine Behandlung erforderlich sind, nicht eingehalten werden. Das abzugrenzen, ist schwierig, gerade im ästhetischen Bereich, wenn jemand sagt: „Ich bin mit dem Ergebnis nicht so zufrieden, es ist nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Das ist ein Kunstfehler.“ Also da ist man dann weit davon entfernt, das ist die subjektive Betrachtung. Deshalb ist es ganz wichtig, im Vorhinein herauszufiltern, was die Erwartungshaltungen des Patienten sind und was man als Arzt mit dem, was einem vorliegt, machen kann. Das betrifft eigentlich alle Fachbereiche, ob es ein Knie oder ein Auge ist. Manchmal kann man nicht mehr rausholen, weil die Voraussetzungen nicht gegeben sind, da kommt man als Arzt an seine Grenzen. Doch das heißt noch lange nicht, dass es auch ein Kompetenzfehler ist. Das muss man schon streng unterscheiden, und es wird häufig durcheinandergeworfen.
Sebastian Siebenlist: Ich glaube, der Begriff Kunstfehler ist ein bisschen irreführend, weil es letzten Endes auf die ärztliche Kunst zurückgeführt wird, die vielleicht falsch interpretiert oder ausgelegt wird. Der lateinische Begriff ,lege artis‘ beinhaltet ja das Gleiche. Etwas ist nach der entsprechenden Kunst durchgeführt worden oder eben auch nicht. Wie Doktor Breyer schon sagte: Ein Behandlungsfehler liegt vor, wenn etwas nicht nach ärztlichen Vorgaben und Leitlinien sowie nach bestem Wissen und Gewissen durchgeführt wurde. Was uns allen passieren kann, sind Komplikationen. Darüber wird der Patient auch aufgeklärt und muss dazu seine Einwilligung geben. Alles außerhalb dieser Felder ist dann etwas, das in den Bereich eines selbst verschuldeten Fehlers fällt, aber das hat mit Kunst nichts mehr zu tun.
Abgesehen von privaten Interessen: Hat die Kunst einen Einfluss auf Ihre Arbeit? Gibt es Vorbilder – Musikstücke oder bildende Kunst etwa – die Sie als zuträglich für die Heilung betrachten würden?
Sebastian Siebenlist: Ich würde als Vorbilder vor allem Vorreiter meines Fachgebiets sehen. Obwohl wir sicher alle Spezialisten sind, gibt es immer wieder Ausnahmetalente, die sich mehr trauen als man selbst, und zu diesen Leuten blicke ich auf. Was sie tun, ist eine Kunst. Ähnlich wird es den Patienten mit uns gehen, weil Kunst immer auch etwas einhaltet, was ich selbst nicht richtig verstehe. Und deswegen beeindruckt mich das so. Wenn ich beispielsweise in eine Ausstellung gehe und nicht ganz den Sinn hinter den Werken begreife, dann denke ich mir: Das ist sicherlich Kunst, aber so ganz erschließt sie sich mir nicht. Deswegen ist das, was wir leisten können für den Patienten, so außergewöhnlich, weil er es nicht gänzlich versteht. Und das könnte man unter dem Begriff Kunst subsumieren.
Mark T. Sebastian: In der Zahnmedizin arbeiten wir viel mit Zahntechnikern zusammen, die beim Herstellen von Keramikzähnen die Natur perfekt kopieren, was Formen, was Schichtung, Transparenz, Farbe und Lichtwiedergabe angeht. Die wirklich großen Zahntechniker bezeichnen wir als Künstler, weil ihre Arbeit immer auch an ein großes Gemälde erinnert. Wir Zahnärzte wissen zwar ungefähr, wie das funktioniert, verstehen die Arbeit der Zahntechniker dann aber doch nicht im Detail. Privat ist Kunst für mich immer Entspannung. Ich gehe in die Natur oder ins Museum, wo ich mich ablenken, berauschen, inspirieren oder auch in Unverständnis hüllen lassen kann, wie der Kollege schon sagte. Ich weiß nicht, ob ich ohne Kunst meinen Beruf so entspannt ausüben könnte.
Detlev R.H. Breyer: Wir haben in der Praxis auch Originalkunst hängen, weil mich Kunst einfach inspiriert. Außerdem glaube ich, dass sie die Patienten vom Klinikambiente ablenkt. Ich weiß, von was ich spreche, ich selbst bin ein echter Zahnarzt-Schisser. Viele Leute sind dankbar dafür, dass da Kunst hängt, die sie ablenkt, und dass es bei uns aussieht wie in einem 5-Sterne-Hotel und nicht wie in einer Augenklinik.
Frau Dr. Montanari, gibt es im Kunstbereich ein Vorbild – eine Skulptur, ein Bild – das Sie gerne schaffen würden?
Michaela Montanari: Vorbilder gibt es ja immer viele, und die wandeln sich auch immer wieder. In der plastisch-ästhetischen Chirurgie – egal, ob Gesicht oder Körper – geht es um Proportionen, um Maße, um künstlerische Bilder, die sich im Wandel der Zeit verändern. Gerade in Bezug auf die körperformende Kunst, wenn man griechische Skulpturen nimmt und die Entwicklung bis heute betrachtet. Ich habe immer wieder Patienten, die aussehen möchten wie Leute, deren Bilder sie im Kopf haben. Oder von Proportionen sprechen, die sie gerne haben würden. Wir müssen immer ein bisschen künstlerisch aktiv sein, mehr vielleicht als in anderen Bereichen, in denen es in erster Linie um Funktionalität geht.
Aber Sie richten sich mehr nach den Kundenwünschen als nach den eigenen Idealen?
Michaela Montanari: Naja, es gibt schon gewisse Masterproportionen, die man einhalten muss und auch einhalten sollte. Ich persönlich finde, man sollte natürlich aussehen. Für mich gibt es nichts Schlimmeres, als wenn man aus meiner Praxis kommen und sagen würde: Das ist alles gemacht. Die Kunst besteht darin, zum Beispiel Falten so zu unterspritzen, dass es Außenstehenden nicht direkt auffällt, sondern dass man höchstens darauf angesprochen wird, dass man frischer und erholter aussieht. Ich habe auch Patientinnen, die von Lippen träumen, die proportionstechnisch nicht ins Gesicht passen würden, und da muss man auch den Mut haben, zu sagen, dass man nicht dahintersteht. Ich finde es schon sehr wichtig, zu dem zu stehen, was man widerspiegelt. Für mich ist Natürlichkeit ein wichtiger Aspekt, und so hat jeder sein Steckenpferd.