Farben hören, Töne schmecken

Die meisten von uns sehen das, was hier steht, schwarz auf weiß. Falls nicht, gehören Sie zu den Menschen, die über eine ganz besondere Gabe verfügen: die Synästhesie

© Ben Hassett / AUGUST

© Ben Hassett/AUGUST

Möglicherweise sehen Sie die dann Buchstaben bunt. Vielleicht hören Sie dabei auch Klänge. Und ein Wort schmeckt sauer, riecht nach Veilchen oder fühlt sich rau an. Was ein bisschen crazy klingt, ist für Synästhet:innen ganz normal. Sie verbinden Sinnesempfindungen aufgrund ihrer neuronalen Gehirnstruktur nur anders als andere Menschen.

 

Typische Beispiele sind farbiges Hören, also das Visualisieren von Tönen in Farbe oder die Zuordnung von Farben zu Buchstaben oder Zahlen. Wörter können auch schmecken oder Düfte farbig sein. Oder Geschmäcker mit Zeichen, Formen und Farben verbunden werden. Berühmtes Beispiel dafür ist eine Sequenz aus dem Film Ratatouille, in der Remy, die Wanderratte mit Schnüffelexpertise, beim genüsslichen Verkosten von Käse und Erdbeeren ein wahres Feuerwerk aus Kreisen, Spiralen, Linien und Farben „sieht“.

Spielarten der Synästhesie

 

Eine weitere Spielart ist die Ideasthesie, wobei Gedankengänge und Emotionen farblich-formlich belegt werden – der Sehsinn bzw. das Visualisieren sind also häufig dabei. Eine andere Form ist die sogenannte „Ticker-Tape-Synästhesie“, bei der man die gesprochene oder gedachte Sprache vor dem inneren Auge wie Untertitel oder einen Newsticker sieht. Häufig findet sich auch die „Mirror-Touch“-Synästhesie, bei der man beim Betrachten eines anderen Menschen spiegelverkehrt spürt, wo er sich berührt.

„Synästhesie ist keine Krankheit, sondern eine Spielart menschlichen Denkens“

„Es gibt weit über hundert verschiedene Formen, da man letztlich jede denkbare Wahrnehmung mit einer anderen Wahrnehmung koppeln kann“, sagt die Hamburger Allgemeinmedizinerin Dr. Caroline Beier, selbst Synästhetin und Vorsitzende der Deutschen Synästhesiegesellschaft. Sämtliche Verknüpfungen sind möglich und werden von einem selbst auch als normal empfunden.

 

„Erst im Austausch mit anderen Menschen merken wir Unterschiede.“ Da das Phänomen in der Regel in früher Kindheit in Erscheinung tritt, daher auch vom Kind als normal empfunden wird, werden sich viele nicht oder spät bewusst, dass sie – wie es die Ärztin ausdrückt – diese Begabung haben.

 

Denn Synästhesie ist keine Krankheit, keine Halluzination, keine Einbildung, sondern eine neurobiologische Spielart menschlichen Denkens, die durchaus auch Chancen birgt. Sie ist genetisch veranlagt, damit auch vererbbar. Allerdings ist der Erbgang noch nicht bekannt und nicht konsistent, es kann auch mal eine Generation übersprungen werden.

 

 

Reizüberflutung bei Synästhesie

 

Etwa fünf bis fünfzehn Prozent aller Menschen je nach Studie weisen mindestens eine Form von Synästhesie auf. Problematisch wird das meist nur, wenn zu viele Erscheinungsformen gleichzeitig auftreten. Dann kann es zu Reizüberflutung und Überforderung kommen – denn einen „Aus“-Knopf gibt es nicht.

 

Aber auch vermeintlich kleine Events können zu Irritationen im Alltag führen: Wenn etwa eine Stockwerkfarbe in einem Gebäude nicht mit der Farbe übereinstimmt, die ein „Synnie“ mit dem Stockwerk verbindet, stört das die Orientierung. Ebenso wenn die Farben der U-Bahn-Linien nicht mit denen übereinstimmen, die Synästhet:innen ihnen zuordnen, kann es schon mal dauern, bis sie sich zurechtfinden.

 

Ein bisschen nachempfinden kann man das als Nichtbetroffener z.B. mit dem berühmten Stroop-Test, bei dem man die Farbe eines bunt gedruckten Wortes, das aber eine andere Farbe beschreibt, benennen muss. Beispiel: Wenn etwa das Wort Blau gelb geschrieben wird, dreht man schon mal eine Gedankenschleife, um zu sagen, dass es sich um Blau handelt. Doch in der Regel überwiegen die Vorteile der Sinnesvielfalt: Synästhet:innen gelten als besonders kreativ – sind häufig nachweislich hochbegabt und hochsensibel. Zudem sind Gedächtnis und Vorstellungskraft deutlich ausgeprägter.

Künstler:innen & Synästhesie

 

Kein Wunder, dass sich unter den Synästhet:innen viele Künstler:innen befinden. Wassily Kandinsky etwa. Der Maler konnte Farben hören, indem er eine Verbindung zwischen Farben, Formen und Klängen herstellte.

 

„Farbe ist ein Mittel, das einen direkten Einfluss auf die Seele ausübt. Farbe ist die Tastatur. Das Auge ist der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit seinen vielen Saiten. Der Künstler ist die Hand, die die Seele absichtlich auf dieser oder jener Taste zum Schwingen bringt“, beschrieb Kandinsky dies. Blau klang für ihn wie eine Orgel, Rot wie eine Violine, Gelb wie eine Trompete.

 

Das Machine-Learning-Experiment Play a Kandinsky, das in Zusammenarbeit mit dem Pariser Centre Pompidou und Google Arts & Culture entstand, hat mittels KI Bilder wie Gelb, Rot, Blau von 1925 zum Klingen gebracht. So soll erlebbar gemacht werden, wie er möglicherweise den kreativen Prozess empfunden hat und wie es sich heute für uns interpretieren ließe. Inzwischen wird Wassily Kandinskys Synästhesie als eines der zentralen Geheimnisse hinter seinen Kunstwerken gesehen.

 

 

Synästhesie in Musik und Literatur

 

Farben und Klänge verbinden auch Musiker:innen wie Pharrell Williams, Billie Eilish, Lady Gaga, Billy Joel, Hélène Grimaud oder Chris Martin, die so auch im wahren Wortsinn sehen können, ob ein Klang-Bild harmonisch ist. Auch Komponisten wie Franz Liszt, Jean Sibelius, Leonard Bernstein oder Alexander Skrjabin reihen sich ein.

 

Letzterer hatte für sein Opus Prometheus 1910 die vermutlich erste Lightshow der Welt kreiert: mit einem Part, das auf einem Farbklavier gespielt wurde, welches auf Tastendruck Lichtprojektionen erzeugte. Und natürlich dürfen auch Dichter:innen und Schriftsteller:innen nicht fehlen. Johann Wolfgang von Goethe etwa, Vladimir Nabokov, Marcel Proust oder Elke Lasker-Schüler.

 

 

Was ist keine Synästhesie?

 

Dabei hat aber nicht jede blumige und blindhafte Sprache oder Assoziation einen synästhetischen Background. Wer also Vanillepudding mit Geborgenheit aus der Kindheit verbindet, muss kein Synästhet sein. „Synästhesien sind überwiegend gleichbleibende gekoppelte Wahrnehmungen, die sich sehr oft in visualisierter Farbe oder Form äußern“, so Dr. Beier, „etwa wenn beim Riechen von Vanillepudding immer ein gelber Punkt vor dem inneren Auge erscheint oder beispielsweise Druck in einer Körperregion entsteht und konsistent auftritt.“

 

Die Erinnerung an Kindheitssituationen oder Geborgenheit gehören nicht dazu, so die Expertin. Aber oft zeigt sich, dass unsere Sprache viele synästhetische Begriffe nutzt, auch wenn nur ein kleiner Teil der Bevölkerung betroffen ist. „Daher gibt es in der Sprachwissenschaft auch den Begriff der ‚Synästhesien‘, die jedoch von dem neurologisch nachweisbaren Phänomen zu unterscheiden sind“, sagt Beier.

 

Beispiele dafür sind Begriffe wie feuriges Rot, schreiende Farben oder runder Geschmack. Als rhetorisches Stilmittel, ähnlich einer Metapher, wird das schon seit der Antike verwendet – vor allem aber in der Lyrik der Romantik, des Symbolismus und des Expressionismus, um Sinneseindrücke zu intensivieren oder Grenzen zu verschieben.

 

 

Synästhesie-Forschung

 

Die Forschung in diesem Bereich ist noch jung, wird aber zunehmend spezialisierter im Hinblick auf die vielen unterschiedlichen Ausprägungen der Synästhesie. Und dass es sich nicht einfach um ein Hirngespinst handelt, beweisen MRT-Aufnahmen: So wurde in einer Studie gezeigt, dass Synästhet:innen beim Hören bestimmter Wörter Teile des Gehirns verwenden, die normalerweise der Farbe gewidmet sind.

 

Auch weiß man inzwischen, dass nicht alle die Verknüpfungen gleich stark wahrnehmen, auch haben nicht alle beispielsweise die gleichen Farben für Zahlen oder Buchstaben. Und man geht davon aus, dass die Synästhesie ein Leben lang unverändert bleibt. Doch wie findet man heraus, ob man selbst oder sein Kind dazu gehört?

 

Zum Beispiel über einen Fragebogen auf der Webseite der Deutschen Synästhesiegesellschaft. Dort findet man, wenn nötig, auch kompetente Beratung und kann in Austausch mit anderen Synästhet:innen treten. Und dann vielleicht einfach genießen, dass man eine besondere Begabung hat und die Welt ein bisschen bunter sieht.

Margit Hiebl

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